Nachrichten aus dem Liebesleben eines Ungeschickten

Mit dem Roman „Liebestölpel“ setzt Peter Wawerzinek die Reihe seiner autobiografisch inspirierten Prosawerke fort

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Beste, was Bücher können, ist die Erinnerung wachzurufen: an Glücksmomente, frühes Leid und fehlende Ordnung, Irrrungen, Wirrungen und den komplizierten Weg zwischen Richtig und Falsch. Der in Berlin lebende Peter Wawerzinek (Jahrgang 1954) ist ein Meister in der Verknüpfung von Leiden und dem Versuch von dessen Bewältigung im Schreiben, von Leben und Literatur.

Als zweijähriges Kleinkind gemeinsam mit seiner um ein Jahr jüngeren Schwester von der alleinerziehenden Mutter bei deren Flucht nach Westberlin in der Rostocker Wohnung zurückgelassen – der Roman Rabenliebe erzählte 2010 von der lebenslangen Muttersuche des Autors –, verbrachte Wawerzinek zehn Jahre in staatlichen Kinderheimen der DDR, ehe ihn die Adoption durch ein Lehrerehepaar wieder in familiäre Strukturen einband. Nicht nur seine spätere Alkoholsucht – der zweite große, autobiografisch inspirierte Roman Schluckspecht handelte 2014 vom Kampf gegen den Alkoholismus – darf  als Symptom für die nur schwer zu bewältigenden Traumata einer Kindheit ohne Wärme gesehen werden. Auch die wechselhafte Biografie des Autors zeugt davon, dass er seine früh erlittenen Verletzungen nie wirklich überwunden hat. Nun nimmt ein neues Buch die Geschichte seiner Versuche mit der Liebe als lebensrettender Kraft ins Visier. Bereits der Titel signalisiert dem Leser: Auch auf diesem Gebiet ist die Zahl der gescheiterten Versuche größer als diejenige der gelungenen. Und gab es das Glück schon einmal, war es auf Dauer doch nicht zu halten.

Liebestölpel erzählt in 25 Kapiteln von den drei wichtigsten, weil nachhaltig im Gedächtnis gebliebenen Frauen, mit denen der Erzähler Beziehungen einging. Wawerzinek hat ihnen göttinnengleiche, sprechende Namen verliehen: Lucretia, Eris und Epona. Lucretia, mit der Petkowitsch, wie die Gleichaltrige ihn von Beginn an nennt, sogar ein Kind haben wird, ist die Erste von den Dreien. Als „Spezialistin für plötzliches Verschwinden“ – und noch plötzlicheres Wiederauftauchen in ständig neuen Rollen, muss hinzugefügt werden – wird sie dem Leser vorgestellt. Schon als Knirps auf seinem Dreirad im Kinderheim ist Petkowitsch ihren wippenden Zöpfen nachgejagt: „Die Zöpfe rufen mir zu: Fange uns ein!“ Und plötzlich, wie ein frühes Muster für alles, was die beiden zusammen erleben werden bis hin zu Lucretias plötzlichem Freitod, sind die Zöpfe und die Person, zu der sie gehören, verschwunden, nicht mehr auffindbar: „Es bleibt mein Leben lang so. Zöpfe wippen mir voraus. Zum Greifen nahe enteilen sie mir immer und immer wieder.“

Mit Eris, seiner zweiten großen Liebe, geht der Erzähler sogar die Ehe ein. Man lebt in Ostberlin und lässt sich vom Staat nicht in sein kleines Glück hineinreden: „Im Vergleich zu heute lebten wir damals freier, obwohl wir eingesperrt waren, unsere Aktivitäten überwacht wurden und Mangel herrschte. Wir glichen das alles mit Fantasie, Rebellentum, Lebenslust und Feierlaune aus.“ Doch die Beziehung des den Weg des Künstlers Einschlagenden scheitert schnell daran, dass er sein Schreiben und das Leben mit einer Frau und drei Kindern nicht unter einen Hut bringen kann: „Ich muss mich stets entscheiden, ob ich lieben will oder schreiben. Liebst du und schreibst, betreibst du beides nebenbei.“ Dann ist da auch noch die plötzlich wieder vor seiner Tür stehende Lucretia, die den „Liebestölpel“ ein weiteres Mal im Handumdrehen an sich zu binden versteht.

Epona schließlich – man lernt sich bei einem „Kirschkernweitspucken-Wettbewerb“ auf einem „Bauernfest“ kennen – ist „die berühmte Liebe auf den ersten Blick“. Aber auch sie geht schief, obwohl Wawerzineks Held den von der Geliebten vor dem ersten Beischlaf angesetzten „Kindertest“ mit Bravour besteht. Doch kaum ist man aus einem kurzen Liebesurlaub zurück in der kleinen Patchwork-Familie – man lebt gemeinsam mit ihren beiden Kindern und seinem und Lucretias gemeinsamen Kind, das die bei ihm geparkt hat, während sie die Welt unsicher macht –, taucht Lucretia ein weiteres Mal zum falschen Zeitpunkt auf und macht das dörfliche Idyll schnell zunichte.

„Du wirst sie nicht los, wirst von zweien immer nur die andere verlieren und mit Lucretia nichts hinzugewinnen […] Du wirst mit ihr im Schlepp keine Liebe finden, jede Frau, und seist du noch so verliebt wie in Epona, wird gegen deine Bestimmerin nicht ankommen“, muss sich der Erzähler von dem Mann, den er „Opa“ nennt, „obwohl er nicht wirklich mein Opa ist“, anhören und kann doch nichts tun gegen den Sog, der von seiner ersten großen Liebe auf ihn ausgeht. Zu ähnlich sind sich beider Leben, zu sehr hat die von beiden empfundene Einsamkeit im Kinderheim zusammengeschmiedet, zu sehr der Elternmangel sie und ihn geprägt. „Als sie ganz brav und wie gar nicht beteiligt im großen Gespensterwald an der Hand der Erzieherin stand, den Kopf schief gelegt, schon damals war sie die Gewinnerin“, weiß der Erzähler und ahnt, dass nur die endgültige Trennung durch den Tod, so sehr die Nachricht von Lucretias Suizid ihn dann auch erschüttern wird, das feste Band zwischen ihnen zu lösen vermag.

„Man kann, ohne geliebt zu werden, auf Erden leben“ ist das Resümee, das Wawerzineks Erzähl-Ich aus seinen drei Anläufen zum Liebesglück schließlich zieht. Doch hat der schmerzhaft empfundene Mangel an dauerhafter Nähe zu einem anderen Menschen, die Unfähigkeit, sich zu binden und damit den eigenen frühkindlichen Verlust familiärer Bande zu kompensieren, andererseits ein literarisches Idiom hervorgebracht, wie man es in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur kein zweites Mal findet. Kinder- und Volkslieder, Gedichtfragmente und Anspielungen auf Märchen – mal gereimt, mal ungereimt – durchziehen den Text genauso wie die einst dem Mann, der nach dem Elternverlust seine Erziehung übernommen hat, abgeschaute Manie, sich eine eigene Sprache zu erschaffen: „Er sagt nicht Buchstabe zum Buchstaben, sondern Sprechstabe. Wir reden in unserer Spreche, die anderen in ihren Sprechen, den Fremdsprechen. Er sagt zum Wort nicht Wort, sondern Sprichtmanso.“ Auch das Vermengen von Spruchweisheiten, mit dem der Erwachsene das Kind einst zu erheitern suchte – „Blindes Huhn rostet nicht.“ –, hat bei ihm schließlich sprachliche Wurzeln geschlagen.                

Nach Rabenliebe und Schluckspecht ist Liebestölpel der dritte Roman innerhalb des letzten Jahrzehnts, den Peter Wawerzinek seinerm eigenen Leben abgerungen hat. Erneut hat er sich für den Text einen Vogel als Wappentier ausgesucht. Der Tölpel steht diesmal für die Unfähigkeit des Ich-Erzählers, feste Beziehungen zu Frauen aufzubauen. Schon der „Opa“ zieht in seinen Gesprächen mit dem 14-Jährigen die in der Luft großartigen, am Boden aber – bei Paarung, Nestbau und Pflege der Brut – ausgesprochen ungeschickt wirkenden Trottellummen zum Vergleich heran: „Schwirren wie unter Kolibris können wir nicht, sind keine Paradiesvögel […] Sind in diesem Punkt nicht genügend störungsfrei aufgewachsen […] Sind eher Trottellummen, du und ich […] Sind die Benachteiligten der Evolution.“ Daran ändert sich für den Erzähler zeit seines Lebens nichts. Zum Albatros, der Peter Wawerzinek nach eigenem Bekunden gern geworden wäre, hat er es dafür mit seinen großartigen poetischen Büchern gebracht.

Titelbild

Peter Wawerzinek: Liebestölpel. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2019.
301 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711522

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