Die erste moderne Schriftstellerin Englands, die mit ihren Gesellschaftsromanen den Realismus im 19. Jahrhundert entscheidend mitprägte

Zum 200. Geburtstag von George Eliot

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele europäische Autorinnen veröffentlichten im 19. Jahrhundert unter einem männlichen Pseudonym; die Anonymität, vor allem für die viktorianischen Schriftstellerinnen, war für sie geradezu existentielle Pflicht. Erstens wollten sie sich damit schützen, zweitens hatten sie als Frauen weniger Chancen auf eine Veröffentlichung, während sie mit einem männlichen Autorennamen ein größeres Publikum erreichen konnten. Nur langsam schwanden die Vorbehalte gegen Schriftstellerinnen; aber noch im 20. Jahrhundert waren sie vielfach auf dieses unfreiwillige Versteckspiel angewiesen. Selbst wenn sie längst in der Weltliteratur ihren Platz gefunden haben, kennt man sie heute (meist) nur unter ihrem männlichen Pseudonym!

Beredtes Beispiel ist die englische Schriftstellerin George Eliot, die als Mary Anne Evans am 22. November 1819 in South Farm in der Grafschaft Warwick geboren wurde. Ihr Vater Robert Evans (1773–1849), ursprünglich Zimmermann, hatte es mit großer Tüchtigkeit zu einem sehr angesehenen Gutsverwalter gebracht. 1813 hatte er in zweiter Ehe Christiana Pearson (1788–1836), die Tochter eines wohlhabenden Freibauern, geheiratet. Mary Ann war das jüngste von insgesamt fünf Kindern der Familie, davon stammten zwei (Robert und Frances Lucy) aus der ersten Ehe ihres Vaters, die bei ihrer Geburt bereits fast erwachsen waren. Ihre älteren Geschwister waren Christiana (1814, genannt Chrissey) und Isaac (1816). Über die Mutter ist relativ wenig bekannt; auch in ihren späteren Werken hat die „Vatertochter“ über sie kaum etwas berichtet.

1820 zog die Familie in das Griff House, ein stattliches, geräumiges Backsteinhaus, das zwar noch existiert, in dem aber außer einer Erinnerungstafel nichts mehr an die Schriftstellerin erinnert. Es ist heute ein Restaurant der Beefeater-Kette in einem Gewirr von Autobahnauffahrten. Mit ihrem Bruder Isaac besuchte Mary Ann, sie war gerade fünf Jahre alt, die Boarding School, eine Art Kinderschule. Die Geschwister durften nur sonntags und in den Ferien nach Hause kommen.

Mit neun Jahren wechselte Mary Anne auf das Internat von Mrs. Wallington in Nuneaton. Ihre wichtigste Lehrerin (und erste Freundin) wurde hier Maria Lewis, eine junge Frau aus Irland, die streng religiös und mit einer evangelikalen Begeisterung ausgestattet war. Sie vermittelte ihrer Schülerin eine strikte Frömmigkeit. Von 1832 bis 1836 besuchte Mary Anne das Institut von Mary und Rebecca Franklin; bei den Töchtern eines baptistischen Predigers herrschte strenge Religiosität. Mit 15 Jahren kehrte sie schließlich wieder ins Elternhaus zurück. Da ihre Mutter verstarb und ihre Schwester heiratete, fiel ihr die Haushaltführung zu. Der Vater war inzwischen so erfolgreich, dass er Gutsverwalter von den Besitzungen fünf verschiedener Herren war; sein Sohn Isaac war dabei sein Juniorpartner. Neben der häuslichen Pflichterfüllung konnte sie ihr Wissen durch vielfältige Lektüre erweitern und Sprachunterricht nehmen. Außerdem unterrichtete sie selbst an einer Sonntagsschule, die ihr Vater eingerichtet hatte.

1841 heiratete ihr Bruder Isaac und übernahm Griff House. Vater und Tochter zogen nach Foleshill Road bei Coventry in ein elegantes Haus mit einer Dachbalustrade. Der Vater, der sich aufs Altenteil zurückgezogen hatte, sah in dem neuen Zuhause eine ordentliche Mitgift für ein städtisches Eheleben seiner inzwischen schon 22-jährigen Tochter. In Foleshill Road vervollkommnete sich Mary Ann in neueren und alten Sprachen und beschäftigte sich nebenbei mit Philosophie. Hier machte sie auch Bekanntschaft mit dem Fabrikanten Charles Bray (1811–1884), dessen Haus ein Treffpunkt liberaler Freidenker war. Im Rosehill Circle wurden religiöse und philosophische Ansichten diskutiert, die bei Mary Ann zu Zweifeln an ihren bisherigen Glauben führten. Als sie ihrem Vater diese Abkehr gestand und sich sogar weigerte, ihn zur Kirche zu begleiten, war dieser äußerst bestürzt. Mit Hilfe von Familienmitgliedern und Freunden versuchte er, seine Tochter umzustimmen. Doch ohne Erfolg; er setzte sie deshalb sogar vor die Tür. Nach einer Aufnahme bei ihrem Bruder Isaac kehrte sie nach einigen Wochen (unter den Bedingungen des Vaters) nach Foleshill Road zurück.

Trotz der Pflege des Vaters konnte Mary Anne Evans im Magazin Coventry Herald and Observer, das Charles Bray 1846 erworben hatte, regelmäßig Beiträge und Rezensionen veröffentlichen – allerdings ohne Namensnennung. Außerdem übersetzte sie Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß (1808–1874), in dem die vier Evangelien einer Radikalkritik unterzogen wurden. In der Druckausgabe fand sich kein Hinweis auf den Namen der Übersetzerin. Kurz nach dem Tod des Vaters (1849) unternahm sie mit Charles Bray und dessen Ehefrau Sara eine Europareise, doch nach zwei Monaten trennte man sich und Mary Anne verbrachte den Winter in der Schweiz. Im Frühjahr 1850 wieder zurück in England, wohnte sie zunächst einige Monate bei den Brays. Dann bekam sie das Angebot des Londoner Verlegers John Chapman (1821–1894), sie bei der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Westminster Review unterzubringen. Unter dem Namen Marian (Zusammenfassung ihrer beiden Vornamen) Evans arbeitete sie als Redakteurin. Der verheiratete Chapman, mit dem sie eine kurze Affäre einging, machte sie zwar zur anonymen Herausgeberin, nutzte jedoch ihre Notsituation und Anspruchslosigkeit schamlos aus: mit „lieben Worten“, einer Vollpension, aber ohne Gehalt. Doch Marian Evans sah darin ihre letzte Chance für eine Schriftstellerkarriere und tatsächlich knüpfte sie durch ihre Arbeit bei der Zeitschrift Kontakt mit vielen Intellektuellen (u.a. mit Charles Dickens, William M. Thackeray, Charles Darwin oder dem deutschen Exilanten Ferdinand Freiligrath), die sie teilweise auch zur Mitarbeit an der Westminster Review gewinnen konnte.

Fünf Jahre lang leistete sie ein enormes Arbeitspensum. In jeder Nummer der Westminster Review, die jeweils einen Umfang von knapp 600 Seiten hatte, erschienen zahllose Buchrezensionen, die zum Teil aus ihrer Feder stammten; dazu brillante Essays über Religion, Philosophie, Naturwissenschaften, Frauenrechte oder über eine Reform des Wahlsystems. In dieser Zeit lernte sie den Literaturkritiker und Journalisten George Henry Lewes (1817–1878) kennen. Der „hässlichste Mann Londons“, dem der „Ruf als Schwerenöter und Atheist“ (Maletzke) vorausging, war zwar verheiratet, lebte aber von seiner Ehefrau Agnes getrennt. Die offene Liebesbeziehung zwischen Evans und Lewes (mit Duldung der Ehefrau) war ein Skandal, über den sich die Londoner Gesellschaft das Mundwerk zerriss. Der Fall erregte so großes Aufsehen, dass sogar Nachforschungen zum Auftreten von krankhaftem Wahnsinn in Evansʼ Familie angestellt wurden. Über Jahrzehnte war sie nicht gesellschaftsfähig. Selbst die gesamte Verwandtschaft und zahlreiche Freunde (außer Charles Bray) brachen mit der aufstrebenden Schriftstellerin, während Lewes Karriere keinerlei Knick erlitt.

1854 unternahm das Paar eine achtmonatige Reise nach Deutschland, wo Lewes in Weimar Recherchen für seine Goethe-Biografie The Life of Goethe (1855), die nach ihrem Erscheinen von der Kritik wohlwollend aufgenommen wurde, betreiben wollte. Nach ihrer Rückkehr im März 1855 bezogenen Evans und Lewes in London eine gemeinsame Wohnung, ehe sie wenig später in Richmond ein Zimmer mieteten, in dem sie die nächsten dreieinhalb Jahre zubrachten.

George Lewes hatte ohne Zweifel einen großen Einfluss auf Evansʼ schriftstellerische Tätigkeit, er brachte diese sicher überhaupt erst zur Geltung. Auf seine Veranlassung schrieb sie die Erzählungen der Scenes of Clerical Life (1857, dt. Bilder aus dem kirchlichen Leben Englands (1885)). Der dreiteilige Zyklus war als Einblick in das Leben des anglikanischen Klerus auf dem Lande geplant. Warum die Autorin, die sich Jahre zuvor von der Kirche abgewandt hatte, nun plötzlich religiöse Themen verarbeitete, verwundert bis heute. Ihre Antwort: „Ich fühle keine Gegnerschaft mehr zu einem Glauben, in dem sich menschliches Leid und menschliche Sehnsucht nach Reinheit ausdrücken.“

Das Manuskript der ersten Geschichte The Sad Fortunes of the Reverend Amos Barton (dt. Das traurige Schicksal des Reverend Amos Barton) hatte Lewes (unter der Vorspiegelung, es handele sich um den Text eines Freundes) an den Edinburgher Verleger John Blackwood (1818–1879) geschickt, der sie auch umgehend in seinem Blackwoodʼs Magazine veröffentlichte. Es folgten noch die Kurzgeschichten Mr. Gilfil’s Love Story und Janet’s Repentance, die alle großen Anklang beim Lesepublikum fanden, blitzte hier doch bereits die psychologisch-realistische Erzählweise der Autorin auf. Für ihr Erstlingswerk wählte Evans das Pseudonym George Eliot (den Vornamen hatte sie aus Liebe zu Lewes und aus Verehrung für George Sand gewählt), worüber in der feinen Gesellschaft viel gerätselt wurde. Allein Charles Dickens vermutete, dass der Autor eine Frau war. Ihr geliebter Bruder Isaac, der ebenfalls ahnte, dass seine Schwester die Geschichten geschrieben hatte, brach, nachdem er von ihrer „wilden Ehe“ zu George Lewis erfahren hatte, den Kontakt zu seiner Schwester ab.

Im April 1858 brachen Lewes und Eliot zu einer zweiten Deutschlandreise auf, bei der sie sich längere Zeit in München aufhielten. Hier waren sie als Paar herzlich willkommen und trafen unter anderen mit Paul Heyse, Emanuel Geibel oder Wilhelm von Kaulbach zusammen. Während Lewes Kontakte zu Naturwissenschaftlern knüpfte, war Eliot auf der Reise mit ihrem neuen Roman Adam Bede (1859, dt. Adam Bede (1860)) beschäftigt, mit dem ihr der literarische Durchbruch gelingen sollte. Die Geschichte über den tüchtigen und hochgeachteten Schreiner Adam Bede (eine Hommage an ihren Vater) und die junge, aber eitle Hetty Sorel, die von einem Gutsbesitzersohn verführt wird, endet schließlich in der Katastrophe eines Kindsmordes. Adam Bede wurde ein Sensationserfolg – bereits im ersten Jahr erreichte er eine Auflage von 16.000 Exemplaren. Mit dem finanziellen Erfolg konnte das Paar ein Häuschen in Wandsworth südlich von London mieten.

Eliots zweiter Roman The Mill on the Floss (1860, dt. Die Mühle am Floss (1961)) verzeichnete zunächst einen Anfangserfolg; doch das Geheimnis, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg, war inzwischen gelüftet, was sich auf die Verkaufszahlen negativ auswirkte. Trotzdem hatte die tragische Geschichte um die ungleichen Geschwister Tom und Maggie Tulliver, die in einer Flutkatastrophe ihr Leben verlieren, ihre Leserinnen (auch Leser) zu Tränen gerührt:

Im nächsten Augenblicke sah man das Boot nicht mehr auf dem Wasser – und in scheußlichem Triumph wälzten sich die Trümmer darüber hin.
Bald tauchte der Kiel des Boots wieder auf – ein schwarzer Punkt auf der goldigen Fläche.
Das Boot kam wieder – aber Bruder und Schwester waren hinab in unzertrennlicher Umarmung; in einem letzten Augenblicke hatten sie wieder die Tage durchlebt, wo sie ihre Kinderhände liebend in einander verschlangen und die blumenbesäten Felder durchstreiften.

Das Geschwisterpaar hatte dabei Züge von Mary Anne Evans und ihrem Bruder Isaac. Daneben ist The Mill on the Floss ein kritisches Gesellschaftsporträt, in dem die Lebensverhältnisse der Müllerfamilie Tulliver realistisch beschrieben und nicht als ländliches Idyll idealisiert werden.

Diese lebendige Charakterzeichnung und realistische Milieuschilderung finden sich auch in ihrem nächsten Roman Silas Marner: The Weaver of Raveloe (1861, dt. Silas Marner. Der Weber von Raveloe (1861)). Der Roman ist in der Zeit der Napoleonischen Kriege in dem kleinen Bauerndorf Raveloe angesiedelt. Der fleißige und bescheidene Leinenweber Silas Marner wird des Diebstahls bezichtigt; durch eine Intrige verliert er nicht nur seine Verlobte, sondern wird fortan von den Dorfbewohnern verstoßen. Silas Marner wird zum Außenseiter und gibt sich einer dumpfen Verzweiflung hin. Als er die zweijährige Eppie in seine Obhut nimmt, bekommt sein Leben wieder einen Sinn. Das Pflegekind öffnet ihm die Augen für die Schönheit der Welt. Zehn Jahre später taucht nicht nur das angeblich gestohlene Geld sondern auch der leibliche Vater von Eppie wieder auf. Ein weiteres Mal scheint Silas Marner alles zu verlieren. Neben der sozialen Thematik liegt das Hauptaugenmerk des fast märchenhaft anmutenden Romans in der Schilderung der inneren Seelenzustände.

Silas verharrte ein paar Minuten schweigend, den Blick auf das Geld gerichtet. „Es hat keine Macht mehr über mich“, sagte er gedankenvoll, „dieses ganze Geld. Ob es wohl jemals wieder welche haben könnte? Doch, wenn ich dich verlieren würde, Eppie, dann wohl schon. Dann könnte ich denken, ich wär wieder ganz verlassen, und den Glauben daran verlieren, dass der liebe Gott mir wohl will.“

Der literarische Erfolg ermöglichte Lewes und Eliot 1861 eine Italienreise, in deren Zuge sie sich längere Zeit in Rom und Florenz aufhielten. In der Toskana sammelte Eliot Material für einen historischen Stoff, gefolgt von intensiven Recherchen in London. Mit dem um 1500 spielenden Renaissance- und Florenz-Roman Romola (1863) und dem Gesellschaftsroman Felix Holt, The Radical (1866, dt. Felix Holt, der Radikale (1867)) verließ sie die Thematik des ländlichen Lebens in England. Die Romane beeindrucken zwar durch ein immenses historisches Wissen, aber für großartige geschichtliche Bilder fehlte es der Autorin wohl an dichterischer Darstellungskraft. So bilden Romola und Felix Holt, The Radical eher eine Außenseiterrolle im Werk von George Eliot.

Mit Middlemarch (1874) kehrte die Autorin thematisch zur Schilderung des englischen Provinziallebens zurück, der Roman gilt heute allgemein als ihr Meisterwerk und als Höhepunkt der englischen Romankunst des 19. Jahrhunderts. In mehreren locker miteinander verwobenen Handlungssträngen wird das Leben in einer fiktiven englischen Kleinstadt um 1830 zur Zeit der Frühindustrialisierung beschrieben. In dieser Epoche des gesellschaftlichen Wandels verfolgt die Autorin die Schicksale einer Reihe von Einzelfiguren, die ebenfalls durch ein dichtes Geflecht von Verbindungsfäden miteinander verknüpft sind. Zentrale Figur, auch wenn sie nicht immer im Mittelpunkt steht, ist die junge, schwärmerische Dorothea Brooke, eine Vertreterin des niederen Landadels. Von der Ehe mit dem wesentlich älteren Gelehrten und Vikar Edward Casaubon erhofft sie sich einen gesellschaftlichen Aufstieg. Aber bald muss sie erkennen, dass sie ihrem gefühlskalten Ehemann nur als willfährige Sekretärin für die Niederschrift seines geplanten Monumentalwerkes zur Religionsgeschichte Key to All Mythologies dient. Bereits auf der eher tristen Hochzeitsreise lernt sie Casaubons Neffen, den jungen Kunstmaler Will Ladislaw, kennen:

Als Dorothea ihren Blick ängstlich auf ihren Mann richtete, war sie für den Kontrast nicht unempfänglich, doch mischten sich darein andere Ursachen, die ihr nur noch mehr diese neue Sorge um ihn ins Bewusstsein riefen; da regte sich zum ersten Mal eine mitleidige Zärtlichkeit, die sich aus der Realität seines Schicksals speiste und nicht aus ihren eigenen Träumen. Aber die Tatsache, dass Will da war, gewährte ihr größere Freiheit; dass er ebenfalls jung war, war angenehm, und vielleicht auch, dass er offen war, sich überzeugen zu lassen. Sie spürte, wie ungemein dringend sie jemanden brauchte, mit dem sie reden konnte, und sie hatte noch nie jemanden getroffen, der so gewandt und umgänglich wirkte, der alles zu verstehen schien.

Ihre Liebe findet allerdings erst nach dem Tod von Casaubon, im Finale des Romans, ihre Erfüllung. Ein weiterer Erzählstrang des Romans ist die Beziehung zwischen der Fabrikantentochter Rosamond Vincy und dem jungen Arzt Tertius Lydgate, der in der Provinz seine Forschungen vorantreiben will. Auch ihre Ehe scheitert – Rosamondes gesellschaftliche Ambitionen und die wissenschaftlichen Ziele ihres Mannes führen zu einem unlösbaren Konflikt, an dem Lydgates wissenschaftliche Berufung schließlich scheitert.

Neben den parallel geführten Schilderungen der Lebenswege von Dorothea Brooke und Tertius Lydgate sowie anderer Protagonisten vermittelt Middlemarch Einblicke in das gesellschaftliche Leben und die politische Lage des viktorianischen Zeitalters – gewissermaßen eine Verknüpfung von Einzelcharakter- und Gesellschaftsanalyse.

Mit ihrem letzten Roman Daniel Deronda (1876) betrat Eliot noch einmal ein völlig neues Terrain. Als nichtjüdische Schriftstellerin zeichnete sie darin ein positives Bild des Zionismus und des Judentums. Die damalige jüdische Leserschaft in ganz Europa nahm den Roman dankbar auf. Nach Abschluss von Daniel Deronda unternahmen Lewes und Eliot eine weitere Reise auf den Kontinent und im Sommer 1877 bezogen sie ein Landhaus am Regent’s Park in London. Langsam wurde sie als Schriftstellerin anerkannt. Das Glück schien vollkommen, doch gesundheitliche Probleme sollten es trüben. Vor allem Lewesʼ Gesundheit verschlechterte sich zusehends. Er starb schließlich am 30. November 1878 an Darmkatarrh. Ein schwerer Verlust für Eliot, hatte der geliebte Lebensgefährte sie doch während ihrer gesamten Schriftstellerlaufbahn stets unterstützt und ermutigt. Nach seinem Tod zog sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben weitgehend zurück.

In den letzten Jahren hatte sich der 20 Jahre jüngere Bankier John Walter Cross (1840–1924) bereits um ihre finanziellen Angelegenheiten gekümmert. Aus der gegenseitigen Wertschätzung entwickelte sich nun eine tiefere Beziehung. Am 6. Mai 1880 heirateten sie, was Eliot „Spott und gehässige Kommentare“ einbrachte. Es folgten Flitterwochen in Venedig – es war jedoch ein sehr kurzer Neubeginn, denn sieben Monate nach ihrer Hochzeit, am 22. Dezember 1880, starb Mary Ann Evans, die als George Eliot in die Literaturgeschichte einging. Neben ihrem geliebten George wurde sie auf dem Highgate Cemetery bestattet.

Obwohl George Eliot die gesellschaftliche Wertschätzung ihrer Person und ihres Werkes noch erlebte, geriet sie nach ihrem Tod bald in Vergessenheit. John Walter Cross hatte 1885 die dreibändige Biografie George Eliotʼs Life as Related in her Journals and Letters herausgegeben, die er aus Zeitschriften und Briefen seiner verstorbenen Frau zusammengestellt hatte. Ihr eigentlicher Biograf wurde jedoch der amerikanische Englisch-Professor Gordon Sherman Haight (1901–1985), der sich schon als Student intensiv mit Eliot und ihrem Werk beschäftigte und später neben der Biografie George Eliot. A Biography (1968) einen Großteil ihrer Korrespondenz und Tagebuchaufzeichnungen veröffentlichte. Deutsche LeserInnen dagegen können auf die Biografie George Eliot. Ihr Leben (1993) von Elsemarie Maletzke zurückgreifen, die Eliot „in all ihrer Zwiespältigkeit, mit vielen Vorzügen und Stärken, aber auch wesentlichen Schwächen, zwischen Konservatismus und viktorianischem Fortschrittsglauben“ einordnet. Heute gilt George Eliot als die erste moderne Schriftstellerin Englands und als bedeutendste Vertreterin des psychologisch-sozialen Romans; so wurde Middlemarch 2015 von internationalen Literaturkritikern und -wissenschaftlern zum bedeutendsten britischen Roman aller Zeiten gewählt.

Anlässlich des 200. Geburtstages von George Eliot sind im Deutschen Taschenbuch Verlag ihre beiden bekanntesten Romane erschienen. Die vollständig überarbeitete Neuausgabe von Middlemarch wird durch Anmerkungen und ein Nachwort des Übersetzers Rainer Zerbst ergänzt, in dem unter anderen die Urteile der damaligen Kritiker auf den Roman beleuchtet werden: „Verriss und höchstes Lob begleiteten das Werk seit Erscheinen“. Für Zerbst ist Middlemarch auch ein politischer Roman, geschrieben in einer Zeit der Neuerungen, „einer Zeit, deren Ereignisse die moderne Welt von heute vorbereitete“. Hinzu kommt für ihn ein pädagogisches Anliegen des Romans, indem er politisches und soziales Bewusstsein bei den unkonventionellen Frauenfiguren schaffe. Auch die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen weist in ihrem Vorwort auf die unterschiedlichen Weiblichkeitsentwürfe in dem Roman hin – immer auf der Suche nach einem Kompromiss zwischen persönlichen Wünschen und gesellschaftlichen Erwartungen.

Die dtv-Ausgabe Silas Marner beruht auf der bereits 1997 mit dem Bayerischen Literaturförderpreis ausgezeichneten und nochmals überarbeiteten Übertragung von Elke Link und Sabine Roth. In ihrer Nachbemerkung betonen die beiden Übersetzerinnen, dass sie versucht haben, mit ihrer Übersetzung den typischen Silas-Marner-Sound zu treffen. Für die Neuauflage wurde der Text noch einmal durchgesehen. Im Nachwort des Literaturwissenschaftlers Alexander Pechmann findet man einen kurzen biografischen Überblick zu George Eliot sowie einige Details zur Entstehung von Silas Marner.

Zum Eliot-Jubiläum hat der Weimarer Bertuch Verlag eine schmale Ausgabe mit den Weimar-Eindrücken von Mary Ann Evans herausgebracht. Nach ihrer Rückkehr aus Deutschland hatte sie ihre Erinnerungen an das Städtchen an der Ilm unter dem Titel Three Months in Weimar in zwei Teilen im Sommer 1855 in Fraser’s Magazine for Town and Country veröffentlicht. Nach einer anfänglichen Enttäuschung („Und das soll das Athen des Nordens sein?“) war sie bald begeistert von dem eigenen Charme der Stadt und der Schönheit der Landschaft. Im Schloss besichtigte sie mit ihrem Lebensgefährten Lewes die Dichterzimmer, die Goethe, Schiller und Wieland gewidmet waren. Etwas enttäuscht äußerte sie sich über das Haus am Frauenplan:

Goethes Haus sieht viel wichtiger aus, aber für englische Augen keineswegs wie die palastartige Residenz, die man nach den Beschreibungen deutscher Autoren erwartet. Die Eingangshalle ist wirklich imposant mit ihren Statuen in den Nischen und der breiten Treppe, aber der Rest des Hauses ist nicht allzu geräumig und elegant.

Ausflüge führten das Paar auch nach Jena, Ilmenau und zum Goethehäuschen auf den Kickelhahn. Man traf Johann Peter Eckermann, der wenig später verstarb, und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der ihnen Gedichte vortrug. Besonders fasziniert waren die Beiden von Franz Liszt („Ich saß neben Liszt und hatte meine Freude daran, ihn zu beobachten, vor allem seinen liebenswürdigen Ausdruck. Genie, Wohlwollen und Feingefühl sprechen aus seiner ganzen Haltung und sein Benehmen steht im Einklang damit.“). Nach drei Monaten ist der Weimar-Aufenthalt beendet: „Liebes Weimar! Wir verließen es mit Bedauern.“ Selbst nach über 160 Jahren sind die Erinnerungen noch eine kurzweilige Lektüre und Anregung für jeden Weimar-Besucher.

Titelbild

George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Roman.
Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen.
Übersetzt aus dem Englischen sowie mit einem Nachwort und Anmerkungen von Rainer Zerbst.
dtv Verlag, München 2019.
1152 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281935

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Titelbild

George Eliot: Silas Marner. Der Weber von Raveloe.
Übersetzt aus dem Englischen von Elke Link und Sabine Roth. Mit einem Nachwort von Alexander Pechmann.
dtv Verlag, München 2019.
239 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783423147118

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Titelbild

George Eliot: Zu Gast in Weimar.
Übersetzt aus dem Englischen von Nadine Erler.
Bertuch Verlag, Weimar 2019.
40 Seiten, 4,00 EUR.
ISBN-13: 9783863971083

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