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Matthias Brandts Entwicklungsroman „Blackbird“

Von Liane SchüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liane Schüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Jahre nach dem Erzählband Raumpatrouille ist Matthias Brandts erster Roman Blackbird erschienen. Anders als die deutlich autobiographisch gefärbten Erzählungen einer Kindheit, gibt der Roman Einblicke in die labile Entwicklungsphase der Adoleszenz und fächert ein breites thematisches Spektrum im Kontext des Erwachsenwerdens auf: erste Liebe und erotische Erfahrungen, Einfluss der Schule, familiäre und soziale Verhältnisse, Freunde, Peergroup und Populärkultur, respektive Musik. Blackbird gibt also Einblicke in die ambivalenten Zustände, in denen „alles möglich und (noch) nichts wirklich ist“ (Rutschky 2002). Vor allem geht es aber um Identitätssuche, Streben nach Autonomie und Abgrenzung von Fremdbestimmung sowie (Wert-)Vorstellungen der Elterngeneration. Diese entwicklungstypischen Aspekte werden um die Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod und der Schwierigkeit, über all diese existentiellen Erfahrungen (miteinander) zu sprechen, ergänzt.

Gleich zu Beginn verweist der Roman auf eine Zeit, in der – noch nicht mobile – mediale Apparate gemeinschaftlich genutzt wurden: „Warum ging eigentlich keiner ans Telefon?“ Das akustische Signal des Telefons mischt sich mit den pochenden Bässen im Zimmer des 15-jährigen Ich-Erzählers Morten, der in der Erwartung, seinen besten Freund Bogi zu sprechen, zum Telefon rennt. Am anderen Ende der Leitung ist jedoch der Vater Bogis, der Morten darüber informiert, dass sein Freund im Krankenhaus liegt.

Bereits hier beginnt sich eine latente Düsternis über das weitere Geschehen zu legen. Mortens ohnehin fragiler emotionaler Zustand oszilliert fortan zwischen Sorge, Unsicherheit und Angst. Irgendwie läuft ohnehin alles schief im Leben des Jugendlichen. Seine Eltern lassen sich scheiden, der Vater ist dabei, mit seiner neuen Freundin zusammenzuziehen und die Mutter bleibt ratlos zurück. Dabei scheint Morten die aus den Fugen geratene Familiensituation nicht wirklich zu berühren, er gibt sich cool und möchte nicht in den elterlichen Konflikt hineingezogen werden. Der 15-Jährige hat mit seinem eigenen Leben genug zu tun; seine Freunde, die Schule, seine Verliebtheit, vor allem aber die schwere Erkrankung seines Freundes beeinflussen Mortens diffuse Stimmungslage: „Ich war entweder gefrustet oder wütend oder beides“. Er vermeidet es, den besten Freund im Krankenhaus zu besuchen, erfindet Ausreden und entwickelt ein schlechtes Gewissen und ambivalente Schuldgefühle, betrachtet sein Verhalten aber durchaus genau. So stellt er pointiert, lakonisch und selbstreflexiv fest: „Man könnte (…) auch einfach sagen, dass ich ein gefühlloser, egoistischer Arsch war“. Die Sprachlosigkeit in Anbetracht der ungewohnten Situation, seinen Freund so verändert zu erleben, potenziert in der Folge seine ohnehin vorhandenen, auf entwicklungstypisch pubertäre Unsicherheiten zurückzuführenden Kommunikationsprobleme.

Auch hier ist sich Morten seiner mangelnden Fähigkeit, Erlebnisse und Empfindungen in Worte zu fassen, äußerst bewusst. Die Bedeutung von Sprechen und der Topos der Sprachkrise grundieren den Roman wie ein Backup, was im Gleichschritt mit Mortens Identitätskrise erstaunlich gut funktioniert. Sprachliche Verständigungs- und Kommunikationsprobleme auf die Nöte eines Pubertierenden herunterzubrechen, ist ja so neu nicht. Aber Matthias Brandt verdichtet Mortens Eindruck von Sprache als „große[m] zähe[n] Teig, der (…) durchgeknetet und in kleine Stücke zerteilt werden müsse“ subtil, nachvollziehbar und konsequent. In Mortens Jugendsoziolekt, der sich hier und da durch flapsig-unbeholfenes Sprechen auszeichnet, aber nie künstlich aufdringlich wirkt, wird spürbar, wie selten Worte ihm dazu taugen, sein inneres Erleben einer anderen Person sichtbar zu machen und umgekehrt. Dadurch bekommt das Thema der Sprachkrise eine doppelte Perspektive und Morten stellt immer wieder lapidar fest: „Ich verstand leider kein Wort“. Nebenbei bildet die Kommunikation im Hause Schumacher den Verständigungsmodus einer ganzen Generation ab: „(…) ich war es nicht gewöhnt, dass man Dinge (…) ansprach. Das machte bei uns zu Hause keiner. Ehrlich gesagt strengten wir uns alle unheimlich an, genau das nicht zu tun. Und jeder hielt sich an diese Verabredung.“ Vor allem mit Erwachsenen läuft Kommunikation für Morten in immer ähnlichen, routinierten Mustern ab: „Unsere Unterhaltung war einfach eine Gewohnheit, wir hätten sie auch auf Serbokroatisch oder weiß der Geier was führen können. [Er] stellte mir Fragen, aber ich glaube nicht, dass er sich jemals für die Antworten interessierte. Ehrlich gesagt glaube ich, dass er sie nicht mal hörte. Es waren für ihn Stichworte, damit er weiterlabern konnte. Egal, auf die Art waren wir bisher gut klargekommen“.

Der Roman erzählt von einem knappen Jahr im Leben eines 15-jährigen, das mit der fundamentalen Erschütterung all seiner Lebensbereiche einhergeht. Somit werden die Leser Zeugen einer Adoleszenzgeschichte par excellence und erleben, was Günter Lange als für die literarische Gattung konstitutiv bezeichnet, nämlich „die existentielle Erschütterung [und] die tiefgreifende Identitätskrise [eines] Jugendlichen, der auf der Suche nach einem eigenen Weg in der Gesellschaft und zu sich selbst ist“. Brandt verwebt tragikomische Momente mit den Alltagserfahrungen eines unsicheren, hilf- und ratlosen Jugendlichen, der mit den Eruptionen seiner Gefühlswelt und dem Erwachsenwerden zu kämpfen hat. Das ist teils traurig, teils komisch. Der Autor nutzt Anleihen beim Schelmenroman, wenn etwa der sadistische Sportlehrer – der freilich als generationenübergreifendes Stereotyp gezeichnet wird – von Morten und seinen Freunden an der Nase herumgeführt wird. Komik entwickelt auch die eigentlich beklemmende Situation, wenn Morten, der täglich an der Fähre wartet, um einen Blick auf seinen Schwarm Jacqueline zu erhaschen, ein Angebot erhält, sich 50 Mark zu verdienen. Der Mann, der wie der „Typ im Fernsehen, Heinz Schenk“ spricht, schlägt Morten vor: „Da kommst du mit mir hinten in die Büsche, und ich hol dir einen runter“. Das Unerhörte dieser Situation wird durch die Sprechweise des Mannes gefiltert und ins Lächerliche gezogen: „Er sprach einen komischen Dialekt, Hessisch oder so. (…) Sagte nicht ‚runter‘, sondern ‚runnä‘. Und ‚fuffzisch Maak‘. ‚Isch hol dir ajn runnä‘“.

Auch „die ganze Jacquelinegeschichte“ entspinnt sich zu einer dramatisch-komischen Miniatur. Morten trifft sich mit Jacqueline am Kino, nachdem er ihr einen Brief hat zukommen lassen, dessen Entstehungsgeschichte und Überarbeitungsmodi nicht nur erzählt, sondern auch typographisch abgebildet werden, was in gegenwärtigen Zeiten digitaler Annotationsverfahren einen wunderbaren Retro-Effekt erzeugt. Bei dem Treffen läuft für Morten nichts nach Plan. „Ins Kino geht man ja entweder, weil man sich für den Film interessierte oder weil es dunkel war und man Sachen machen konnte, die draußen nicht so gut gingen“. Die Atmosphäre im Kino ist durch die kitschige Coming-of-Age- und Softporno-Schmonzette Bilitis des Fotographen David Hamilton aus dem Jahr 1977 erotisch aufgeladen, was Mortens Aufregung steigert. Jacqueline bringt jedoch den Austauschschüler Callum mit, den sie – und eben nicht Morten – später im dunklen Kinosaal küssen wird. Zurück bleibt, so Morten, kein Schmerz, sondern „etwas Schlimmeres: Ich schämte mich so wie noch nie in meinem ganzen Leben“. Diese existentielle Erfahrung der Scham prägt Morten genauso, wie die Krankheit seines Freundes, die „von einem Tag auf den anderen eine riesige Schneise in [sein] Leben geschlagen hatte“.

Mortens letzter Besuch bei seinem Freund Bogi gehört zu den berührendsten Szenen des Buches. Wie zu Beginn des Romans spielt die Tonspur eine wichtige Rolle und unterfüttert nun die Hilflosigkeit des Jugendlichen angesichts des todkranken Freundes: Die Klimaanlage des Krankenhauses brummt und knistert, die Uhr tickt, der Alarm schrillt – und schließlich ist es still. Wie in Momenten des Rausches gerinnt hier die Zeit und scheint in Mortens Wahrnehmung stillzustehen. Im weiteren Verlauf verdichtet sich die Erkenntnis, dass das Erlebte das weitere Leben Mortens tief prägen wird: „Zum ersten Mal (…) merkte ich, wie groß diese Traurigkeit wirklich war und dass sie vielleicht für immer bleiben würde“. Dass er sich dazu entschließt, nie wieder ein Wort zu sprechen, ist nicht nur das Ergebnis der traumatischen Erfahrung von Verlust, sondern eine folgerichtige Konsequenz der Sprach- und Verständigungskrise eines Adoleszenten. Erst am Ende des Romans wird Morten – zaghaft und krächzend zwar – wieder beginnen zu sprechen.

Der Coming-of-Age-Roman ist ein nostalgischer Parcours durch Zeiten ohne Internet, Smartphone und Social Media und bildet das Lebensgefühl einer Generation ab, die noch analog sozialisiert ist. Dieser Umstand macht einen Großteil des Charmes von Blackbird aus, weil der Autor souverän das Zeitverhaftete an die zeitlosen Nöte Heranwachsender koppelt und von – wie neuere Hirnforschung und Entwicklungspsychologie dokumentieren – jugendlichen Gehirnen im Ausnahmezustand erzählt, die zu emotionalen Ausbrüchen neigen, aber auch zu Verhaltensweisen, die für Erwachsene teilweise mystisch, oft kryptisch oder schlicht nicht nachvollziehbar sind.

Matthias Brandt entwirft tieftraurig-melancholische und intensiv-poetische Szenen, in die er durch selbstkritische Reflexionen und ironische Kommentare der Hauptfigur eine Prise Humor mischt. Heraus kommt ein Kondensat der 1970er Jahre mit dezent zeittypischen Markern, die im abgezirkelten Kosmos des Protagonisten die Atmosphäre eines Jahrzehnts beschwören und mit einem stimmigen Soundscape von David Bowie über Talking Heads bis zu Roxy Music unterlegt sind. Und über allem schwebt der Song Blackbird von den Beatles als Leitmotiv für Aufbruch und Neuanfang, Loslösung und Freiheit. Letztlich ist es die Musik, die nicht nur den Rhythmus des Romans prägt, sondern auch die entscheidende Funktion übernimmt, den emotionalen Zustand der Figuren zu beeinflussen: „Das war doch immer eine riesige Entscheidung, wenn man im Laden stand und wusste, dass die Platte, die man kaufte, darüber bestimmen würde, wie man sich in den nächsten Wochen fühlte“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Matthias Brandt: Blackbird. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462053135

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