Die Beschreibung der Lage? Oder: Wo ist die Eule der Minerva?

Cornelia Koppetsch erklärt den Rechtspopulismus als Folge der Globalisierung

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Innerhalb weniger Monate sind in Deutschland drei Menschen von zwei rechtsextremistischen Attentätern getötet worden. Bei den Landtagswahlen 2019 in Sachsen, Brandenburg und Thüringen erhielt die AfD 27,5% respektive 23,5% und ca. 24% der Stimmen. Gehören die drei Morde, im Fall von Halle antisemitisch motiviert, und die Stimmanteile der AfD ‚irgendwie‘ zusammen? Welche Zusammenhänge/Nichtzusammenhänge könnte es zwischen rechtsextremistischem Mord und Rechtspopulismus geben?

Hier bietet Cornelia Koppetsch, Soziologin an der Technischen Universität Darmstadt, zumindest für die Entwicklung des globalen Rechtspopulismus eine vielfach hochgelobte Erklärung an. Der Rechtspopulismus zeige „einen ‚Strukturwandel‘ und einen ‚Mentalitätswandel‘“ an, die durch den „unbewältigten Epochenbruch“ der Globalisierung, des Übergangs von der im nationalen Rahmen eingehegten Industrie- in die globale Moderne ausgelöst worden sei.

Die um 1970 beginnende Globalisierung sei ausgezeichnet (1) durch ihren umwälzenden Charakter. Ökonomie, Soziales, Lebenswelt: alles wurde grundlegend transformiert. (2) Weiterhin sei es zu einem Bedeutungsverlust des Staats gegenüber der Ökonomie gekommen: Abschied von Keynes, neoliberale Deregulierung der Märkte. (3) Dabei entstanden „Global cities“, wo sich ein psycho-kulturalistisches Regime entwickelte, das Koppetsch „progressiven Neoliberalismus“ (meine Hervorhebung) nennt. Hochqualifizierte Akademiker hätten als Pendant zu freigesetzten Märkten die Psychologie des kreativ-unternehmerischen Selbst etabliert, das durch eine globalisierte, (vermeintlich) liberale Mentalität gekennzeichnet sei und einer konsumistischen Weltkultur huldige. (4) Es kam zur Transnationalisierung von Ungleichheiten, vor allem ganz oben und ganz unten. Der Reichtum der Reichsten nahm zu. Verlagerungen von Industriestandorten in Billiglohnländer führten zur Konkurrenz einheimischer mit transnational noch schlechter bezahlten Arbeitern. Die globale Migration brachte die Konkurrenz ins eigene Land, was Ungleichheit verschärfte. Untere und mittlere Lohnsegmente leben seit Jahrzehnten mit Reallohnverlust. Schließlich sei (5) die Globalisierung dadurch gekennzeichnet, dass sich politische Steuerung zunehmend vom Nationalstaat auf supranationale Akteure verlagere.

Wie andere Liberale (zum Beispiel Arlie Russell Hochschild mit ihrer Studie über die Tea Party in Louisiana) bemüht sich Koppetsch um „Selbst-Dezentrierung“; sie will den Rechtspopulismus verstehen. Sie sieht Rechtspopulismus hier und liberalen Mainstream dort als sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager. In ihrem Dezentrierungskonzept lässt sie sich von Bourdieu leiten: „Gesellschaftliche Kämpfe sind Deutungskämpfe, nicht etwa Kämpfe um überzeitlich geltende Wahrheiten, bei der die eine Seite – hier die Liberalen – rational ist und recht hat, während die andere Seite – die Rechtspopulisten – nur fake-news- und Verschwörungstheorie-Anhänger sind.“ Daher interpretiert Koppetsch den Rekurs von Rechtspopulisten auf „Postfaktisches“ nicht als irrational, sondern als „subversive Häresie“.

Der Rechtspopulismus reagiere auf die Herausforderungen der Globalisierung mit „drei Kernvorhaben“: Re-Nationalisierung, Re-Souveränisierung, Re-Vergemeinschaftung. Brexit, EU-Skepsis, „America first“ sind Versuche, Kontrolle über Ökonomie, Soziales, Recht wieder im Nationalstaat zu verorten. Dabei soll ‚das Volk‘ wieder als Souverän, als handlungsmächtiger Akteur auftreten. Ein altbekanntes Gesellschaftsmodell wird wieder bemüht – das der homogen verstandenen Gemeinschaft. Nicht Pluralität, Zentrifugalität multipler Gruppen in einer Gesellschaft sollen befördert, sondern die vermeintlichen Gemeinsamkeiten einer Abstammungs- und/oder Sprach- oder Wertegemeinschaft sollen gelten.

Wer gehört zu den Rechtspopulisten? Es ist zu einfach, AfD-Wähler nur unter den ökonomisch Abgehängten zu suchen. Auch treffe die These des kulturellen Backlash nicht zu, wonach die AfD nur von weniger Gebildeten gewählt werde. Schließlich helfe die These einer autoritären Charakterstruktur nicht weiter. Stattdessen markiere der Rechtspopulismus eine „übergreifende Trennlinie“, die „eher eine affektiv-ontologische Spaltung“ zeige; er rekrutiere sich aus „sozial absteigenden Gruppen“: Rechte Bewegungen resultierten „aus der Entwertung sozialer Anwartschaften und Zukunftsaussichten relativ privilegierter Gruppen“, bedroht seien „bestehende Vorrechte, die gegen den vermeintlich unverdienten Zugriff seitens gesellschaftlicher Neuankömmlinge verteidigt werden“. Ähnlich deutete dies Hochschild. Die „Tiefengeschichte“ der Tea-Party-Anhänger in Louisiana lautet: Sie stehen auf dem Weg zum amerikanischen Traum in einer Schlange und nun drängeln sich andere – Schwarze, Frauen, Migranten – vor, während sie selbst als hart arbeitende Amerikaner zurückfallen. Zugleich wird ihr Lebensentwurf von liberalen Eliten als rückständig verachtet. Es gibt, so Koppetsch, gesellschaftliche Gruppen, die „Anerkennung erfahren sowie Selbstgewissheit ausstrahlen, weil sie über ihre Existenzbedingungen verfügen“, und Gruppen, „deren Selbstgewissheiten und Kontrollmöglichkeiten“ erodieren.

Stimmt das so? Koppetsch denkt makrosoziologisch. Sie schert die USA, das Ungarn Orbans, die polnische PiS, Front national und die AfD über einen Kamm. Doch wo sind die Gemeinsamkeiten zwischen einem evangelikalen Christen in Louisiana, der gegen Abtreibung und Staat ist, und einem AfD-Wähler in einer thüringischen Kleinstadt, Kirchenbindung gleich null, der, durch vierzig Jahre DDR-Diktatur erzogen, hohe Anforderungen an den Staat und die Versorgung durch diesen stellt?

Was fällt bei der Wählerschaft der AfD auf? Der Wahlanteil der AfD ist in den neuen Bundesländern prozentual deutlich höher als in den alten. Die AfD wird zu fast zwei Dritteln von Männern gewählt. Die meisten AfD-Wähler verfügen über ein mittleres Einkommen. Etwa 25% haben einen Hauptschul-, 44% einen Realschulabschluss, 31% Abitur oder Fachhochschulreife. Viele AfD-Wähler rekrutieren sich aus dem Reservoir der Nichtwähler. Unter den 25- bis 59jährigen lag der Stimmanteil über 14%. Arbeitslose wählten zu 22% AfD, Arbeiter zu 21%, bei Selbstständigen, Angestellten, Rentnern war der Anteil deutlich geringer. In ländlichen Gebieten mit Bevölkerungsrückgang punktete die AfD. In Brandenburg ging es auch um das Ende des Lausitzer Kohlebaureviers, in manchen Gemeinden dort, so in Jänschwalde und Drachhausen, erzielte die AfD um die 40%.

Interessen und Klassenzugehörigkeit: offensichtlich ist das heterogen. Was verbindet den Arbeiter im Lausitzer Bergbau und den Beamten in einer westdeutschen Stadt? Offensichtlich die mentale Agenda. Koppetsch spricht von einer „Koalition der Deklassierten“. Doch inwiefern ist unser Beamter „deklassiert“, welche seiner sozialen Anwartschaften sind nicht berücksichtigt? Das ist etwas unterkomplex.

Es bedürfe dreier Voraussetzungen, um eine solche Koalition zu schmieden. (1) Häresien im kulturellen Feld. Auf der Klaviatur des Tabubruchs spielt die AfD ja nur zu gut: „Vogelschiss“, „Denkmal der Schande“. Sind das Häresien? Bloß Sticheln gegen die Orthodoxie des liberalen Konsenses? Nein. Wenn Alexander Gauland stolz ist auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen, dann ‚relativiert‘ er nicht, er unterschlägt etwas. Soll man ihm unterstellen, er halte Genickschüsse bei „Säuberungen“ im Osten für eine stolze Leistung? Hier steht nicht Häresie gegen Orthodoxie, denn fasst man die Tabubrüche Gaulands wie auch anderer AfDlerInnen als bloße Häresien auf, also als Abweichungen von der ‚Rechtgläubigkeit‘, dann unterschlägt man, dass hier die Enttabuisierer Wahrheiten und Fakten verleugnen und spielt zugleich ihr Spiel mit. (2) Da Interessen und Klassenzugehörigkeit bei den AfD-AnhängerInnen heterogen sind, ist eine symbolische Klammer nötig, die alle ‚Deklassierten‘ zusammenschließen kann, und diese Klammer stellt die Migrationspolitik dar.Weiterhin (3) lässt sich eine „strukturelle Homologie“ dieser Ungleichen finden: sie sehen sich eben als Nichtgesehene.

Aus Frust wird eine Protestbewegung, wenn die erwähnte Deklassierung, Krisenereignisse wie die „Flüchtlingskrise“ und der „Glaubwürdigkeitsverlust geltender Werte und Normen“ zusammenkommen. Ja, manche ‚Gewissheit‘ ist tief verankert und wird herausgefordert. Homo-Ehe, Diversity: Das ist vermeintlicher Mainstream, aber es unterschlägt, wie tief der Glaube an die ‚Richtigkeit‘ der heterosexuellen Normalehe mit zwei Kindern in (unseren) Köpfen sitzen. Verbunden ist diese Irritierung von Werten damit, dass wechselseitig lange Zeit halbwegs ertragene Unterschiede parteipolitisch nicht mehr repräsentiert sind. Fühlte sich der katholische Beamte mit seiner Gegnerschaft gegen Abtreibung und Homo-Ehe einigermaßen abgebildet, so zeigt sich jetzt eine doppelte Repräsentationslücke: er wird nicht mehr gesehen – und die Politik kann und will das auch nicht mehr. Vier Prozesse führten zu dieser Repräsentationslücke: Angleichung der Parteien, Unhinterfragbarkeit des Neoliberalismus, technizistische politische Kultur, Sozialstaatsabbau.

Nicht nur bei der „Flüchtlingskrise“ verordnet(e) ‚die Politik‘ Alternativlosigkeit; Postpolitik wird durch technokratische Expertisen abgesichert und so demokratischer Legitimation entzogen. Alternativlosigkeit signalisiert Verhärtung, die Quasi-Naturgegebenheit der Entscheidung. Mithin ist Politik nicht mehr Kompromissgewurstel, wo jeder etwas bekommt und etwas geben muss. So wird ‚die Politik‘ nicht mehr wahrgenommen als Gestalterin mit Zukunftsoffenheit. ‚Die Politik‘ entmächtigt, so die Wahrnehmung vieler, zugunsten der verhätschelten Klientel des liberalen Mainstreams.

Nun kommen Gefühle ins Spiel, das Grundnahrungsmittel von Politik. Angst ist zentral, vor allem Angst vor Armut, die prozentual in den letzten Jahren, trotz Abnahme sozialstatistisch messbarer Armut, gestiegen ist. Unzufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung: auch dies lässt zur AfD tendieren. Weitere Gefühle sind wichtig. Schon um 1990 war im Zug des neoliberalen Umbaus von Firmen unter gut ausgebildeten Ingenieuren Frust unterwegs. Qualitätsstandards der Arbeit wurden zugunsten schneller Produktion missachtet. Das bedeutet Entwertung von Leistung, Arbeit, professionellem Ethos.

Auch Neid ist zentral. Man bekomme den angemessenen Anteil nicht mehr: „Aus Neid wird Verachtung, aus Verachtung kann Hass werden.“ Zunehmend entwickeln sich Ressentiments, diese stiften Gemeinschaft, die Neogemeinschaft des exkludierenden Wir.  

Zorn, Neid, Angst, Leistungsentwertung, Ressentiment werden zu Politik, wenn „das Unrechtsbewusstsein durch revolutionäre Narrative auf Dauer gestellt“ wird und „Zornunternehmer“ auftreten, die diese Gefühle in einer Partei wie der AfD sichtbar machen.

Die Degradierungserfahrung lässt bisherige Selbstzwangmuster brüchig werden. Zivilität wird aufrechterhalten, wenn sie mit Anerkennung einhergeht. Hate Speech oder Tabubrüche erklärt Koppetsch mithilfe der Zivilisationstheorie von Norbert Elias als Phänomen nachlassender Affektkontrolle. Demnach lässt sich ein langer Prozess zunehmender Triebkontrolle seit dem Mittelalter beobachten. Aggressionen wurden gezähmt, Außenzwänge zur Affektkontrolle verinnerlicht. Aufsteigende Klassen übernahmen die Verhaltens- und Gefühlscodes der herrschenden Schicht. Doch wenn Aufstieg und Anerkennung nicht mehr erhältlich sind, wozu sich kontrollieren? Kann man also die Morde von Kassel und Halle als Folge von Dezivilisierung interpretieren? Beide Täter haben ein verfestigtes rechtsextremes Weltbild. Der Mörder Walter Lübckes war seit Jahrzehnten als Rechtsextremist bekannt. Es ging bei ihm nicht um die Kontrolle von Affekten, sondern um die Exekution eines Weltbilds. Der Täter von Halle gehört in die Gruppe der „incels“ (involuntary celibacy), er scheint eine gescheiterte jüngere, männliche Existenz zu sein, die sich von morgens bis abends im Internet in eine rechtsextreme Parallelwelt hineinwühlte. Er verkörpert eine fragile, ehedem hegemoniale Männlichkeit. Der Rechtspopulismus, so Koppetsch, greife auf „archaische Geschlechterbilder und Vorstellungen einer naturgegebenen Geschlechterpolarität zurück“.

Stimmt das so? Zuerst überzeugt der Rückgriff auf Elias nicht. Elias schloss sich der Freudschen Triebtheorie an. Dabei rekurrierte er eher auf den destruktiven Aggressions- als den konstruktiven Sexualtrieb. Doch gibt es einen Aggressionstrieb? Das ist fraglich. Überdies ist die Triebtheorie zur Erläuterung psychischer Muster ideologiebeladen. Freud ging davon aus, dass Menschen in Gesellschaften Triebverzicht leisten müssen, Menschen sind keine Gesellschaftswesen. Das ist Humbug. Menschen sind Bindungs- und Geselligkeitstiere. Zum zweiten steckt hinter Freuds Triebtheorie blanker Hobbesianismus: Der Mensch ist des Menschen Wolf. Sind das nur Beckmessereien? Nein. Wenn ein Phänomen wie der Rechtspopulismus auch sozialpsychologisch erklärt werden soll, dann kommt es auf die Begriffe an. Über Triebtheorie und negative Anthropologie Hate Speech zu erklären, das überzeugt nicht. Hier müssen andere Konzepte aus dem psychoanalytischen Fundus benutzt werden. Zum anderen ist die Abfolge von Neid zu Verachtung zu Hass doch etwas mechanisch gedacht, wenn man sich die Komplexität des Gefühlsnetzwerks innerhalb eines Menschen vorstellt.

Der Täter von Halle griff nicht auf „archaische Geschlechterbilder“zurück, die Polarität der Geschlechtscharaktere ist eine Erfindung der Aufklärung und zutiefst bürgerlich. Vielleicht tauchen rechte Bewegungen in der Moderne dann auf, wenn klassische Männlichkeit (Stärke, Überlegenheit, Intellekt) in Frage gestellt wird? Das ist ein durchgängiges Muster rechter Bewegungen – es hat wenig mit Globalisierung zu tun. Koppetsch vernachlässigt nicht nur hier die historische Langzeitperspektive. Der Rechtspopulismus in Deutschland rekurriert, das hat Volker Weiß 2017 in seinem Buch Die totalitäre Revolte gezeigt, auf Denkfiguren der konservativen Revolution um 1920/30. Eine repräsentative Umfrage des World Jewisch Congress zeigt ein bedenkliches Fort-(oder Wiederauf-?)leben antisemitischer Stereotype. Heißt das nun, dass in als krisenhaft empfundenen Zeiten verstärkt auf rechte Narrative zurückgegriffen wird? Oder „ist der Schoß fruchtbar noch“? Ging die innere Demokratisierung der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg eben doch nicht sehr tief?

Keine Ahnung, aber hier alles nur auf die Globalisierung zurückzuführen, das verstellt den Blick auf mögliche historische Tiefenschichten. Zu diesen könnten auch „deutsche“ Mentalitäten gehören, die bei Koppetsch nicht erwähnt werden. Ein Projekt, geleitet von Rebecca Pates und Julia Leser, untersucht, welche Ansichten über das Deutschsein in der Bevölkerung virulent sind. Die Antworten sind wenig erstaunlich. Erstens ist der Deutsche pünktlich, fleißig, ordnungsliebend (aka Sekundärtugenden). Zweitens bedeutet Deutschsein, etwas zu leisten und zu arbeiten (Deutsche sind also keine „Faulenzer“). Und drittens bedeute Deutschsein, etwas zur Gemeinschaft beizutragen – irgendwoher kennt man diese Attribute, die ja zugleich Ressentiments gegen Andere füttern.

Koppetsch interpretiert nicht nur die Rechtspopulisten. Gemäß ihrem Projekt der „Selbst-Dezentrierung“ und gemäß dem Bourdieuschen Konzept Häresie vs. Orthodoxie nimmt sie die Orthodoxie in den Blick. Der Liberalismus glaube, er verkörpere die Idee der Aufklärung und Rationalität, doch sei auch er ideologisch aufgeladen. Außerdem sei die urbane Linke heuchlerisch. Der progressive Neoliberalismus behaupte, der böse Neoliberalismus habe den guten Kulturliberalismus gekapert, doch korrespondierten neoliberale Marktstrukturen „bis in die feinsten Verästelungen“ mit den Begehrensstrukturen der „bourgeois bohemians“, der Bobos. Das zeige sich nicht nur in der „emotionalen Grammatik spätmoderner Konsummuster“. Die Neue Bürgerlichkeit sei gekennzeichnet durch Leistung und Lässigkeit, Arbeit und Konsum, Disziplin und Kreativität und sie grenze sich scharf (in Szenevierteln zum Beispiel) nach unten ab. Die Bobos seien „Komplizen der herrschenden Ordnung“, ja: die akademische Mittelschicht stelle gar „die Schlüsselfigurdes neuen Kapitalismus und seiner globalen Verflechtungen dar – zum einen, weil sie sich durch die Aneignung kulturkosmopolitischer Praktiken einen Weg an die Spitze des wissens- und innovationsgetriebenen Kapitalismus gebahnt hat und zum anderen, weil sie das Akkumulationsregime des ‚Neoliberalismus‘ durch die Herausbildung projekt- und teamförmiger Management- und Arbeitsstrukturen auch in normativer Hinsicht absichert“.

Koppetsch geht einen Schritt weiter: Eigentlich seien beide Lager „gar nicht so gegensätzlich“, die „scharfe Abgrenzung folgt auf beiden Seiten dem Skript absoluter Zugehörigkeiten und trägt in bestimmten Hinsichten somit das Signum einer ‚Rückkehr zum Stammesfeuer‘.“ In der Tat findet sich ja nicht nur Tribalisierung, sondern eine dichotome Rigidisierung und Moralisierung. Da wird jeder SUV in der Innenstadt als der letzte Sargnagel fürs Klima gesehen, während mit dem Gestus überlegener Moral das Infragestellen einer Politik völlig durchlässiger Grenzen schon als Rassismus bezeichnet wird: Auch von links sind Denkfaulheit und vernebelnde Gefühlspolitik Trumpf. Otherness wird per se als „Bereicherung“ gesehen, als wäre das Leben ein einziges Weltmusikkonzert, wo sich alle ganz doll lieb haben. Beide Lager, so Koppetsch, seien in einem untergründig von rechts „tickenden Zeitgeist“ einander gleich. 74% der AfD-Anhänger sagen, dass „Deutschland in eine Katastrophe“ treibe, wenn das (was immer das sein mag) so weitergehe. Dem hingegen beglückt uns Kapitän Rackete mit einem Buch, das sich „Aufruf an die letzte Generation“ nennt: rechts wie links ist Katastrophismus ein angstlusterzeugender Sport.

All das zugestanden. Doch stimmt das so? Hier die sich als „deklassiert“ Auffassenden, dort die urbanen 40somethings, die in hippen Projekten im Glück baden und allseits Anerkennung erfahren?

Vielleicht hilft die Beobachtung der Lebenswelt. Hierzu drei Anekdoten.

In Hamburg-Ottensen (das ist sowas wie Prenzelberg light) gibt es die Eisdiele Eisliebe. Im Sommer immer eine sehr lange Schlange davor von merkwürdiger Konsistenz. Schlangestehen macht ja rappelig. Doch alle stehen ruhig und zivil an. So gehört sich das. Allerdings sieht die Schlange nicht aus wie andere Schlangen – aber was war anders? Erstens sah das nach einer Gemeinschaft, nicht nach einer anonymen Masse aus – manfraukind stand als Vertreter einer Haltung und einer Zugehörigkeit da. Man bewies sich die Zugehörigkeit zum mentalen Ottensen. Und wie ist diese Mentalität: nun eben, dass man nicht aggressiv wird, sondern zivil, altruistisch ist. Die Schlange strahlte noch etwas anderes ab. Sie ist sehr geordnet, aber dicht gedrängt, es gibt keine verschlamperte Lücke dazwischen. Was bedeutet das? Erstens: Ordnung. Aber dieses Zusammengedränge strahlte nicht aggressiven Abschluss nach außen ab, sondern: Angst. Die Schafherde beieinander – doch wo ist in Ottensen der Wolf?

Den gibt es, und das ist die zweite Anekdote. Ich bin bei den 10jährigen Kindern der Anerkannten. Sind die wirklich so anerkannt? Ja – und nein. Hysterische Angstattacken artikulieren sich, wenn die Tochter in der Schule nicht so recht mitkommt, denn dann schreddert ein Rechtschreibdiktat sämtliche Lebensoptionen. Die Bobos haben Angst – das wissen sie zwar noch nicht – und das zeigt die dritte Anekdote.

Im familienfreundlichen Restaurant sitzt eine Gruppe von ca. 30-40jährigen Jungeltern, Kind um die zwei, das zweite trägt Mama unterm Herzen. Die neuen Väter kümmern sich. Das also sind die, die „Anerkennung erfahren sowie Selbstgewissheit ausstrahlen, weil sie über ihre Existenzbedingungen verfügen“: tun sie das? Sie sind Kinder von Eltern, die ihnen in der alten Bundesrepublik ein völlig sorgenfreies Leben ermöglichten. Ja, sie strahlen Selbstgewissheit aus – doch verfügen sie über ihre Existenzbedingungen? Noch. Aber was, wenn der nächste Managementfirlefanz ihrem Mindset nicht entspricht oder sie keine „Projekte“ mehr an Land ziehen?

Es ist also fraglich, ob die Bobos wirklich anerkannt sind – oder wie lange sie es noch bleiben werden. Überdies: Inwiefern bildet diese Dichtomisierung in zwei Lager die Gesellschaft ab?

Koppetsch behauptet, dass größere „Bevölkerungsgruppen“ den „gemeinsamen Boden der Wirklichkeit“ (meine Hervorhebung) verlassen, die über Jahrzehnte als Common Sense geltende „Idee der Gleichheit und der Inklusion“ gelte nicht mehr. Das sind große Worte. War es nicht schon immer so, dass ca. 10-20% der bundesrepublikanischen Bevölkerung mitnichten auf einem „gemeinsamen Boden“ mit den restlichen 80% standen oder, falls sie dort standen, mit verkniffen verschlossenen Mündern, dann aber am berüchtigten Stammtisch ihren xenophoben, verschwörungstheoretisch eingefärbten antisemitischen Stereotypen freien Lauf ließen? Und: gab es je, auch für die restlichen 80% einen „gemeinsamen Boden“ als handele es sich um ein mentales Land, auf dem alle nett nebeneinander standen – etwa wie in der Schlange vor der Eisliebe?

Das war schon 1990 nicht so. Beschreibt also Koppetsch die Lage richtig?

Gibt es denn unsere eine Gesellschaft? Das lässt sich anders denken: mehr oder minder parallele Lebenswelten, die plural, nicht dichotom sind und die mal mehr, mal weniger, mal konfliktreicher, mal konfliktärmer miteinander (inter-)agieren. Dann: die hier wieder auftauchende alte Schmittianische Dichotomie – Politik sei die Unterscheidung von Freund und Feind – ist zwar klug, aber auch normativ. Überdies: diese Dichotomie beschreibt nicht nur eine Lage, sie erzeugt diese Lage gemäß den Wahrnehmungen der einander gegenüber liegenden Lager selbst – keine Beschreibung ist objektiv. Und schließlich fällt auf, dass Koppetschs Beschreibung inzwischen selbst zum gedanklichen Mainstreamgehört – das macht vorsichtig.

Heißt das, Koppetschs Beschreibung der Lage sei nicht angemessen? Ich weiß es nicht – und komme nun zur Eule der Minerva und dazu, was es mit ihr auf sich hat. Hegel notiert, dass dann, wenn die „Philosophie ihr Grau in Grau“ male, eine „Gestalt des Lebens alt geworden“ sei. Er ergänzt, Erkenntnis sei nur dann möglich, wenn eine Gestalt untergegangen sei: „die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“. Doch wo ist die Eule der Minerva grade? Gab es tatsächlich einen Epochenbruch, der jetzt von den PhilosophInnen (aka SoziologInnen) erkannt wird, und ist er so zu deuten, wie es Koppetsch macht? Oder müssen wir noch viel ältere „Gestalten“ in unsere Überlegungen einbeziehen und unsere Begriffsmesser noch ganz anders wetzen? Die Zukunft wird es zeigen.

Zum Schluss muss noch zumindest kurz auf die gegen Koppetsch erhobenen Plagiatsvorwürfe eingegangen werden. Folgt man etwa Alexander Cammann in der Zeit vom 14. November 2019, dann finden sich Übernahmen aus anderen Texten, die nicht korrekt gekennzeichnet wurden. Manchmal formulierte Koppetsch Sätze und Überlegungen anderer nur wenig um, verwob das mit wohl Eigenem und gab das Ganze als Selbstgedachtes aus. In einer zweiten Auflage wurden einige Monita teilweise berücksichtigt, diese zweite Auflage wurde aber nach weiteren Monita vom Verlag zurückgezogen. Derzeit, Stand Mitte November 2019, ist eine dritte Auflage in Vorbereitung, die hier Korrekturen schaffen soll. Koppetsch selbst sprach von „handwerklichen Fehlern“ – das klingt zu euphemistisch. Sie hat der Wissenschaft damit einen Bärendienst erwiesen.

Titelbild

Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter.
Transcript Verlag, Bielefeld 2019.
283 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783837648386

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch