Die Mühen der Ebenen

Matthias Bauer und Nils Kasper legen einen Sammelband zu Thomas Manns Monumentalwerk „Joseph und seine Brüder“ vor

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwa 1700 Seiten Text liegen vor dem Leser, der sich dazu entschließt zu erfahren, was es mit der Tetralogie Joseph und seine Brüder von Thomas Mann auf sich hat. Tage, Wochen und auch Monate können ins Land gehen, ehe das Ziel erreicht ist: „Und so endigt die schöne Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern.“

So der letzte Satz des vierteiligen Romans. Nicht nur aufgrund seines Umfangs überfordert dieses Werk den Leser in vielfacher Hinsicht, eine Erfahrung, die er allerdings mit dem Autor teilt, denn, wie dieser zu Beginn seiner Erzählung mitteilt, das Geheimnis des Menschen, dieses „Rätselwesens“, zu ergründen, und um nichts anderes kann es dem Menschen gehen, als sich selbst auf die Spur zu kommen, dieses Geheimnis führt direkt in den Abgrund der Geschichte und damit „ins Bodenlose“. Unabhängig von der Frage nach seiner Verständlichkeit hinterlässt dieses Werk bei demjenigen, der sich dem Exerzitium der Lektüre unterzogen hat, einen enormen Eindruck. Mancher meint, er müsse diese Übung wiederholen, um so vielleicht doch auf den Grund des eigentlich bodenlosen Werkes zu gelangen.

Sekundärliteratur dient dem Gespräch über literarische Texte, so auch die Aufsatzsammlung Zwischen Mythos und Moderne. Thomas Manns „Josephs“-Tetralogie. Nach Ansicht von Nils Kasper, mit Matthias Bauer einer der beiden Herausgeber, ist es bedauerlich, dass die Josephs-Tetralogie „wie ein Zentralmassiv in der literarischen Landschaft des 20. Jahrhunderts“ stehe, „das viele nur ehrfurchtsvoll aus der Ferne bestaunen“. Wer „die Bedeutungstiefe der von Thomas Mann aufgeschichteten Stoffmassen zu durchdringen“ versuche, sei „gut beraten, sich an die Selbstauskünfte des Autors zu halten“. Die Aufzählung all der „Fach- und Sachbücher“, die von Thomas Mann „im Schreibprozess konsultiert worden waren“, treibt dem Romanleser den Angstschweiß auf die Stirn. Denn „das weitläufige Gelände der Voraussetzungen, Bedingungen, Lebensumstände und Querbezüge, aus dem sich die vier zusammenhängenden Gipfel von Thomas Manns Erzählkunst erheben“, kann nur erschließen, wer zu den „beiden Kommentar-Bänden der jüngsten textkritisch durchgesehenen Ausgabe (2018)“ greife. Um es mit Brecht zu formulieren: „Die Mühen der Berge haben wir hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“

Mit gut 200 Seiten ist die Lektüre des Sammelbandes dagegen leicht zu bewältigen. Sechs Aufsätze sind dort zu finden, allerdings nehmen die Überlegungen des Mitherausgebers Matthias Bauer nahezu die Hälfte des Textkorpus in Anspruch: zu gut 80 Seiten Einleitung (Einleitung: Zwischen Mythos und Moderne) kommt ein weiterer Text von Bauer über 13 Seiten mit dem Titel Distinktion – Narration – Mediation. Joseph und seine Brüder als Bildungsroman einer Idee – der Idee der Solidarität.

Die Überlegungen von Vikica Matić konzentrieren sich auf die „Humanisierung des Mythos“ im Josephs-Roman. Joseph werde „zu humanem Handeln“ erzogen. Der Mythos entgehe bei Thomas Mann der Gefahr seiner „ideologischen Instrumentalisierung“ und seiner „Pervertierung ins Inhumane“, wie in den Händen des Nationalsozialismus. Der mythisch-biblische Stoff werde humanisiert „und damit auch ein Gegennarrativ zu der bloß mythologisch verbrämten Blut-und-Rasse-Ideologie der Faschisten“.

Alexander Hunold widmet sich in Eine Grammatik des Mondes? Astrokalendarische Motive und figurale Zeitordnung in der Josephs-Tetralogie der „Zeitökonomie“ des Werkes. Zeit, so Hunold, erscheine im Joseph-Roman nicht so sehr als Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern eher im Sinne sich wiederholender Abläufe. Nicht Entwicklung, sondern Wiederkehr kennzeichne das Wesen der Zeit, deshalb können auch biblisch-mythische Themen wieder auftauchen und Bedeutung für die Gegenwart erlangen. Gleichzeitig entgehe Thomas Mann „der Gefahr, in ein falsches Fahrwasser zu geraten, respektive: mit antimodernen ideologischen Programmen oder mit der Propagierung kulturfeindlicher Regressionseffekte verwechselt zu werden“. Auch Hunold betont, dass Manns Hinwendung zum Mythos die Funktion zukomme, dem menschenverachtenden Mythus des 20. Jahrhunderts von Alfred Rosenberg eine humane Mythos-Variante entgegenzustellen.

Martina Schönbächler möchte in ihren Ausführungen mit dem Titel Gerda in Ägypten. Überlegungen zur Wandlung einer Frauenkonstellation im dritten Band von Thomas Manns Josephs-Tetralogie nachweisen, „wie genau der jüngere Text den älteren noch einmal aufruft.“ Bei dem älteren handelt es sich um die Novelle Der kleine Herr Friedemann. Mut-em-enet, Potiphars Ehefrau, hat ein Auge auf Joseph geworfen und möchte ihn zum Beischlaf überreden. In der Novelle stellt sich die Situation umgekehrt dar: Friedemann betet Gerda an, die ihn daraufhin auslacht und in den Selbstmord treibt. Die Wiederaufnahme des Motivs enttäuschter Leidenschaft steht nach Ansicht von Schönbächler aber nicht für sich selbst, denn Mut-em-enet verkörpere im Josephs-Roman „das faschistische Deutschland“, das „zur hässlich-geschlechtlich entstellten Liebesvettel geworden“ sei.

Markus Pohlmeyer widmet sich der Frage, wer genau im Roman den Traum des Pharaos deutet: Ambiguität und Ambiguitätstoleranz: Wer deutet Pharaos Traum? Lässt der biblische Text keinen Zweifel daran, dass Joseph die Träume des Herrschers interpretiert, präsentiert Thomas Mann seinen Lesern ein Gespräch zwischen dem Pharao und Joseph, in dem dieser als sokratischer Lehrer den Pharao selbst zum Traumdeuter werden lässt.

Julia Karin-Partrut hebt den utopisch-humanistischen Gehalt des Romans hervor. An die Stelle von Gegensätzen treten nach ihre Ansicht „Ähnlichkeitsrelationen“. Der Titel Ähnlichkeitsrelationen in Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Menschheitserzählungen und Anerkennung verweist auf ihre zentrale These, Mann lege absichtlich und zielgerichtet keinen großen Wert darauf, zwischen dem Polytheismus der Ägypter und dem jüdischen Monotheismus streng und wertend zu unterscheiden. Nicht die Gegensätze, sondern die Ähnlichkeiten bestimmten „das Verhältnis von Religionen, Geschlechtern und Kulturen“, sodass die Ägypter schließlich „die Abrahamiten aufs Herzlichste willkommen heißen.“ Der Roman erkenne den gemeinsamen Nenner aller Menschen an, unabhängig von ihrer Herkunft und Prägung: „Dank dieser Anerkennung besitzt Thomas Manns magnum opus eine politische Bedeutung, in der die Kritik des Nationalsozialismus ebenso aufgehoben ist wie die jedes binär-fundamentalistischen Denkens.“

Matthias Bauer liest die Tetralogie als „Bildungsroman einer Idee“ und weniger als Bildungsweg eines Individuums im Sinne von Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meister und seiner vielen Nachfolger. In gewisser Hinsicht, so Bauer, weiß Joseph bereits zu Beginn seines Lebensweges „vorbewusst“ von seiner Besonderheit. Als Ernährer wird er zum Garanten einer brüderlichen Gesellschaft. In der Einleitung umkreist Bauer die Frage, wie Mann in seinem Monumentalwerk „eine Brücke“ schlägt „zwischen Mythos und Moderne, zwischen Altertum und Zeitgeschichte.“ Aus dem alttestamentarischen Joseph wird der „Typus des modernen Politikers, den Thomas Mann in Theodor Roosevelt mustergültig ausgebildet sah“. Dieser Deutung entsprechend, zitiert Bauer Manns missverständlich klingende Bemerkung nach Vollendung des Romans:

Wenn Thomas Mann also am 8. Januar 1943 nach dem Abschluss der Tetralogie notierte, ‚mit dem Joseph bin ich früher fertig geworden als die Welt mit dem Fascismus‘, steckt in dieser Bemerkung, die auf Anhieb einigermaßen selbstgefällig und unverhältnismäßig wirkt, ein tieferer Sinn. Denn in diesem Sinne darf man die dia-logische Vermittlung von Religion und Literatur und die Überwindung von Hass durch Liebe sehen, die Thomas Mann, um die Menschheit besorgt, geleistet hat.

Der Versuch, den Gehalt der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes vorzustellen, kann diesen Texten kaum gerecht werden, wäre es dazu doch notwendig, die dort ausgebreiteten theoretischen Voraussetzungen in all ihren Feinheiten nachzuzeichnen. Sollte das Buch nicht nur für die selbst im Falle von Thomas Mann keineswegs sehr große Zahl der wirklichen Spezialisten geschrieben werden, war Lesbarkeit und immanente Schlüssigkeit oberstes Gebot.“ So Eckhard Heftrich im Vorwort zu seiner Untersuchung Geträumte Taten. Joseph und seine Brüder. Den dort dargelegten Gedanken zu folgen vermöge allerdings nur, „wer wenigstens zwei Texte einmal gelesen hat: den biblischen und den von Thomas Mann.“

Die Lektüre des Romans wie seiner biblischen Vorlage reichen für das Verständnis der hier vorgestellten Texte nicht aus, wie ein Zitat aus der Einleitung belegt. Erst, so Matthias Bauer, müsse die Mythenforschung in den Blick genommen werden, bevor Aussagen über die Bedeutung des Mythos im Roman getroffen werden könnten:

Von daher sind die nachstehenden Ausführungen als Abfolge von Vermittlungsakten und Differenzierungsprozessen zu sehen, die auf Umwegen zu Thomas Mann und seiner Tetralogie führen – ohne diese Umwege aber die Implikationen und Konsequenzen seiner Vermittlung des Mythischen mit dem Literarischen und Religiösen verfehlen würden.

Es führt somit nicht ans Ziel, den Romantext direkt quasi werkimmanent zu betrachten, erst der Rückgriff auf eine Fülle theoretischer Erwägungen zu zentralen Themen des Werkes ermöglicht dessen Verständnis. Deshalb sieht sich der Leser immer wieder mit Sätzen wie diesem konfrontiert: „Folglich konnte Mann sich eine Grundoperation des mythischen Denkens, nämlich die Konkreszenz, beim Erzählen wie eine heuristische Fiktion zunutze machen und den historischen Abstand zwischen der Lebenszeit des biblischen Joseph und der Gegenwart einziehen.“ Der Begriff der Konkreszenz verweist auf die Philosophie von Ernst Cassirer. Geht Heftrich davon aus, zum Verständnis seiner Überlegungen genüge die Kenntnis des Textes selbst sowie seiner biblischen Vorlage, begeben sich die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes auf mannigfaltige theoretische Umwege, in denen der interessierte Leser sich zu verlieren droht, weil es den Autoren kaum gelingt, ihre theoretischen Abschweifungen einem in seinem Wissen begrenzten Leser zu vermitteln.

Vor kurzem behauptete Hans-Ulrich Gumbrecht, „dass es niemand ausserhalb der Welt der Geisteswissenschaften registrierte (oder gar bedauerte), wenn deren Existenz morgen global eingestellt würde.“ Zwar steigerten die Geisteswissenschaften „ihre angebliche Professionalität“, doch führe dies „zu einem immer absurderen Missverhältnis zwischen gefordertem Arbeitsvolumen und dem fortschreitenden Ausschluss potenziell interessierter Adressaten.“ Dieser These können wir nach der intensiven Lektüre des Sammelbandes Zwischen Mythos und Moderne nur zustimmen. Gumbrechts Kritik richtet sich gegen deren „Anspruch auf rigorosen Ernst und auf Spezialisierung“, wie er sich besonders deutlich im Rückgriff auf immer neue Theorien bemerkbar macht. Demgegenüber fordert Gumbrecht eine Besinnung auf einen „säkularen Stil individueller Konzentration und Kontemplation, in dem schon immer die eigentliche Stärke, ja der spezifische gesellschaftliche Beitrag der sogenannten Geistes-,Wissenschaften‘ gelegen hatte.“

Die modernen Geisteswissenschaften, so Gumbrecht, schließen ihre „potenziell interessierten Adressaten“ aus. Dabei denke Gumbrecht „wohl vor allem an sein eigenes Fach […], wenn er zur Situation der Geisteswissenschaften Stellung bezieht.“ So Andreas Kablitz in seiner Replik auf Gumbrechts „Gedankenanstoss“. Es geht Gumbrecht um die ästhetische Erfahrung. Deshalb macht es keinerlei Sinn, wenn Kablitz Geschichte und Philosophie gegen Gumbrecht ins Spiel bringt, um dessen Anliegen zu diskreditieren: „Es will nicht einleuchten, dass etwa die Geschichte oder auch die Philosophie ihre primäre Zweckbestimmung in der Vermittlung ästhetischer Erfahrung besitzen sollen.“ Polemisch verweist Kablitz auf Auschwitz:

Es fällt nicht ganz leicht, sich vorzustellen, wie etwa die Holocaust-Forschung diesem Ziel dienen soll. So scheint Gumbrechts Empfehlung wie aus dem Geist einer romantischen Poetik geboren, die schließlich allen Versuchen, den Erzeugnissen von Dichtung und Kunst durch Rationalisierung beizukommen, erfolgreich ein Ende zu bereiten wusste. […] Nicht ästhetische Erfahrung zu vermitteln war die Aufgabe, die sich die betreffenden Disziplinen stellten, sondern die Rationalisierung einer schon vorausgesetzten ästhetischen Wirkung. Hierin liegt der Anspruch wie das Risiko akademischer Beschäftigung mit Artefakten.

Damit kommen wir zurück auf den Sammelband. Es ist durchaus interessant zu erfahren, welche theoretischen und geisteswissenschaftlichen Quellen dieses monumentale Romanwerk speisen. Die Aufgabe der Wissenschaft könnte darin bestehen, zwischen dem Leseerlebnis und dem Inhalt des Romans zu vermitteln. Beeindruckend an Thomas Manns Roman ist doch nicht die Fülle der verarbeiteten Quellen, sondern dass daraus ein Werk entstanden ist, das sich in seinem ganzen Habitus fundamental von seinen theoretischen Voraussetzungen unterscheidet. Über dieses Surplus hätten wir als interessierter Leser gerne mehr gewusst. Lässt sich die ästhetische Wirkung von Artefakten derart rationalisieren, wie Kablitz behauptet, oder sollten nicht andere Wege eingeschlagen werden? Etwa solche, wie Theodor W. Adorno sie in seiner Ästhetischen Theorie eingeschlagen hat und deren Richtung bereits in deren erstem Satz kenntlich wird: „Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“

Titelbild

Matthias Bauer / Nils Kasper (Hg.): Zwischen Mythos und Moderne. Thomas Manns Josephs-Tetralogie.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2019.
236 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783849813826

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