Der Ur-Maigret

Wie mit Georges Simenons „Haus der Unruhe“ alles begann, bevor es begann

Von Rosa WohlersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosa Wohlers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Pfeife rauchender Kommissar, diesige Pariser Nächte und seltsame Gestalten auf den Straßen – es braucht nur einige Stichworte und schon fühlt man sich in die typische Szenerie eines Maigret-Romans versetzt. Moment, das kenne ich, möchte man rufen, das habe ich bereits unzählige Male gelesen, genauer gesagt in 75 Romanen und 28 Erzählungen! Wir sprechen über ein dickes Stück französischer Kultur, einen nicht wegzudenkenden literarischen Brocken, dessen Beginn der Kampa Verlag mit einem vorher noch nie ins Deutsche übersetzen Buch neu schreiben will: Nicht der 1. Fall ist der erste Maigret, sondern der 0. Fall! Doch Maigret ist heute ein Monument, im literarischen wie im realweltlichen Sinn – gibt es darunter noch Platz?

Maigret im Haus der Unruhe ist ein wunderschönes Buch geworden und wurde nun zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Von Georges Simenon nicht als Teil der Maigret-Serie eingeordnet, hatte das Buch bisher wenig Beachtung erfahren – tatsächlich tritt der Kommissar hier aber zum ersten Mal als Protagonist auf. Der „0. Fall“ also, wie der Kampa Verlag ihn im Innentitel nennt. Man merkt dem Buch die Liebe zum Detail an, die man bei der Herstellung hat walten lassen: Hardcover, kleine handliche Form, luftiger Satz auf hochwertigem Papier, bedrucktes Vorsatz- und Nachsatzpapier, Nachwort vom Verleger höchstpersönlich – alles signalisiert: Dies ist ein sehnlichst erwartetes Buch.

Die Geschichte steigt, wie es sich gehört, spät abends ein. Der Kommissar Maigret wird in seinem Büro am Quai des Orfèvres von einer jungen Frau aufgesucht, die wie aus dem Nichts auftaucht, einen Mord gesteht und dann genauso plötzlich wieder verschwindet. Als dann kurze Zeit später ein Todesfall vermeldet wird, ein Kapitän im Ruhestand, unter mysteriösen Umständen in seinem Arbeitszimmer zu Tode gekommen, wittert Maigret sofort einen Zusammenhang. Der Kommissar begibt sich zum Tatort und beginnt mit den Ermittlungen. Akribisch vollzieht Maigret nun die letzten Handlungen des Kapitäns und seiner Nachbarinnen nach, und legt hier besonderen Wert auf die zwischenmenschliche Dynamik. Ist der Täter der Neffe, der immerhin um die große Summe Geld wusste, die der Kapitän in seinem Schreibtisch aufbewahrte? Oder doch der Familienvater aus dem 1. Stock, der sich so seltsam schweigend verhält? Es entspinnt sich eine verwickelte Recherche, während der Maigret viele Stunden in Bars auf Observation verbringt, immer wieder ratlos und ohne rechte Spuren oder Beweise an seinen Schreibtisch zurückkehrt, sich bewusst auf seine Intuition besinnend, um so letzten Endes nicht nur dem komplizierten Tathergang, sondern auch noch einer dramatischen Familiengeschichte auf die Schliche zu kommen. Die Ermittlungen werden erschwert durch klassische Finten aus dem Krimi-Repertoire wie psychische Krankheiten, Doppelgänger, Verwechslungen oder auch fehlende Polizeiverstärkung. Am Ende behält Maigret, wie sollte es anders sein, natürlich recht mit seiner Vorahnung. Der Plot selbst entwickelt wenig Eigendynamik, denn er wirkt, man ahnt es schon, recht konstruiert – allerdings soll hier nicht unterschlagen werden, dass der Roman bei Erscheinen als Groschenroman vermarktet werden sollte und daher eine genretypisch ereignisreiche Dramaturgie aufweisen musste.

Wenn dieses Buch bemerkenswert ist, dann also sicher nicht, weil es besonders gut, unglaublich alt oder außergewöhnlich umfangreich ist. Das Besondere an diesem Werk ist die beruhigende Sicherheit, die sich schon beim Lesen der ersten Seiten einstellt: Keinen Moment zweifelt man daran, dass man sich in der Welt von Maigret befindet, obwohl – und das fällt einem dann erst beim Lesen der Paratexte wieder ein – dies eigentlich eine Unmöglichkeit darstellt, denn es gab in jener Zeit noch keine Maigret-Romane. Man kann es gar nicht genug betonen: Maigret im Haus der Unruhe ist tatsächlich ein Maigret aus einer Zeit, in der es Maigrets noch gar nicht gab. Ganz hervorragend lässt sich also an diesem Roman beobachten, wie das narrative Schema einer Serie zu einer wiedererkennbaren Marke werden kann. Wie Brigitte Rath in ihrem Buch Narratives Verstehen skizziert, sind Schemata

Wissenseinheiten, die aus verschiedenen Arten von Variablen mit Erwartungswerten und Verbindungen zwischen diesen Variablen bestehen […]. Wird ein Schema aktiviert, werden die Variablen sukzessive mit den entsprechenden verfügbaren konkreten Werten gefüllt; das Schema wird instantiiert.

Das narrative Schema ist demnach mehr als eine Zusammenstellung sich wiederfindender prägnanter Charakteristika wie eine zu Übergewicht neigende Hauptfigur mit Pfeife oder eine durch Straßenlaternen erzeugte düstere Stimmung; das narrative Schema ist ein Gesamtkonzept, welches die Wahrnehmung des Textes bei den Lesenden aktiv steuert, indem es alle Einzelinformationen kontextualisiert und aufeinander bezieht. Mit anderen Worten: Es braucht heute nicht viel mehr als ein paar Stichworte wie Leibesfülle, Pfeifenkonsum oder die psycho-soziale Logik des Kommissars, um bei der Leserin den bekannten Maigret-Kosmos zu aktivieren, der sich heute nicht nur durch eine wirklich beachtliche Anzahl an Romanen und Novellen begründet, sondern sich darüber hinaus aus zahlreichen außertextuellen kulturellen Verankerungen speist – eine Statue des Protagonisten, urbane Mythen um die Erfindung der Figur Maigret etc. Die außertextuellen Verankerungen werden nicht zuletzt durch das Nachwort von Daniel Kampa deutlich, der sich in der Frage ergeht, wer wie wann und wo das erste Mal „Maigret“ gedacht hat, wo genau also die Geschichte ihren Ursprung hat und hierzu allerlei Kleinigkeiten heranzieht: ein Nachbar am Place des Vosges beispielsweise, ein früherer Direktor des Amts für Brücken- und Straßenbau, der Simenon inspiriert haben könnte, Madame Maigrets Verwandte ebenfalls dort zu verorten. All diese Detailbeobachtungen zur Frage nach den Inspirationsquellen sind vielleicht erstaunlich, auf jeden Fall aber erstaunlich nebensächlich für den vorliegenden Roman.

Wenn es also auch kein besonders elegant geschriebener Krimi ist, so ist es doch wirklich faszinierend, wie die Maigret-Serie nicht nur serielles Erzählen in Perfektion demonstriert, sondern ihr Sujet einfach gleich zu einem eigenen narrativen Schema ausbaut, in welches Maigret im Haus der Unruhe sich ohne jeden Zweifel retrospektiv einordnen lässt.

Titelbild

Georges Simenon: Maigret im Haus der Unruhe. Roman.
Mit einem Nachwort von Daniel Kampa.
Übersetzt aus dem Französischen von Thomas Bodmer.
Kampa Verlag, Zürich 2019.
219 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783311130000

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