Bildmächtig und geschichtsträchtig

Tanja Maljartschuks Roman „Blauwal der Erinnerung“ ist ein Zeugnis ukrainischer Geschichte

Von Silke SchwaigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Schwaiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Zeit verschlingt Millionen Tonnen davon [menschliche Leben, d. Rez.], zerkaut und zermalmt sie zu einer gleichmäßigen Masse wie ein gigantischer Blauwal das mikroskopisch kleine Plankton – ein Leben verschwindet spurlos, um einem anderen, dem nächsten in der Kette, eine Chance zu geben. Mich bedrückt weniger das Verschwinden selbst als die Spurlosigkeit des Verschwindens.“ Gegen diese Spurlosigkeit des Verschwindens und das Sichtbarmachen von menschlichen Leben durch das Schreiben von Lebensgeschichten geht es in Tanja Maljartschuk Roman Blauwal der Erinnerung.

Der Name Tanja Maljartschuk ist den LeserInnen spätestens seit der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises 2018 an die Autorin ein Begriff. Maljartschuk wurde im westukrainischen Iwano-Frankiwsk geboren und übersiedelte 2011 nach Wien. Bereits in der Ukraine machte sie sich als Autorin einen Namen. Für den deutschsprachigen Markt entdeckte sie schließlich der österreichische Residenz Verlag. Hier publizierte sie in deutscher Übersetzung ihren Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig (2009) sowie ihren Debütroman Biografie eines zufälligen Wunders (2013). Ins Zentrum dieser ersten Publikationen stellte die Autorin die Ukraine und porträtierte unter anderem die Zeit des Übergangs von der Sowjetunion zum eigenständigen Staat.

Maljartschuks neuer Roman knüpft thematisch an ihr bestehendes Werk an, erweitert jedoch die Perspektive. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Wjatscheslaw Lypynskyj (1882–1931), Historiker, Politiker, Philosoph, ein „ukrainischer Pole“, wie er sich selbst bezeichnet. Mit der historischen Vergangenheit Lypynskyjs verschränkt Maljartschuk die Gegenwart der Ich-Erzählerin des Romans, ein Alter Ego der Autorin: „Er ist Pole, ich bin Ukrainerin. Er ist Denker, als Politiker ein Philosoph, als Historiker ein Poet, ich hingegen bin ein Mensch ohne bestimmten Beruf, Manipulatorin von Worten und Ideen, ich kann schreiben und ich kann schweigen.“ Ausgangspunkt der Erzählung sind drei Berührungspunkte der beiden Charaktere: Die Autorin besuchte Lypynskyjs Heimatstadt, wie damals Lypynskyjs die ihre besuchte; darüber hinaus wurden beide am 17. April geboren.

Mit fortschreitender Erzählung verbindet Maljartschuk immer mehr die beiden auf den ersten Anschein nach sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten und zeigt Gemeinsamkeiten auf. Ein verbindendes Element sind etwa Atemprobleme – Lypynskyjs Lungenkrankheit und die Panikattacken der Autorin, die sie immer wieder einholen. 

Dem Erzählen von Lebensgeschichten, die ineinander verschränkt sind, sowie von historischen Ereignissen kommt im Roman zentrale Bedeutung zu. Durch das Aufschreiben von Lypynskyjs Geschichte durch die Autorin wird sein Leben sichtbar gemacht und aus der Vergessenheit geholt. Darüber hinaus erzählt sie vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte nicht nur ihre Geschichte, sondern auch die Geschichte der Ukraine beziehungsweise ukrainischen Unabhängigkeit. Für diese engagiert sich wiederum auch Lypynskyj und schreibt mit Flugblättern, politischen Schriften und Aufsätzen an der ukrainischen Nationenwerdung mit. Zugleich zeigen sich in der Erzählung aber auch deutlich die Schwierigkeit, die mit dieser einhergehen und die Fragilität und Konstruiertheit, die ihr innewohnen – diese spiegeln sich nicht zuletzt in Lypynskyjs eigener Positionierung als „ukrainischer Pole“ wider.

Im Roman steckt wie in Maljartschuks vorangegangenen Werken viel Erzählwitz und Ironie – doch kommt er weniger leichtfüßig daher als es etwa ihr Debütroman tut. Denn Blauwal der Erinnerung ist auch ein Geschichtsbuch, dem viel akribische Recherchearbeit vorangegangen sein muss, um auf den Spuren Lypynskyjs ein Stück ukrainischer und europäischer Geschichte zu entfalten.

Titelbild

Tanja Maljartschuk: Blauwal der Erinnerung. Roman.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
288 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462052206

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