„Gute Projektion!“

Dokumentarische Narrative auf der Duisburger Filmwoche – Matthias Linterns Träume von Räumen

Von Monique GrüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monique Grüter

Unter dem Motto Wer erstickt, wo wir atmen? fand vom 4. bis 10. November 2019 die 43. Duisburger Filmwoche statt. Das Dokumentarfilmfestival, dessen Filme im herrlich kleinen Kino filmforum gezeigt wurden, grenzt sich von anderen Filmfestivals durch eine ganz bestimmte Debattenkultur ab – das Gespräch über den Film, das Sprechen, das Entstehen eines Diskurses ist ebenso wichtig wie das Sehen des Films selbst. Im Anschluss an die Projektion des Films folgt ein Gespräch mit dem Filmemacher, das zunächst durch Impulse strukturiert, dann aber auch für Fragen des Publikums geöffnet wird. Die Sensibilität für das Sprechen äußert sich auch, wenn Gudrun Sommer, Teil des Veranstaltungsteams, den deutschsprachigen Produktionskontext (Deutschland, Österreich, Schweiz) mit den Worten „das Zuhause sein in der eigenen Sprache [ist zentral für die Diskussion], die Übersetzung würde einfach etwas an der Qualität des Filmgesprächs verändern“ begründet.

Neben dem deutschsprachigen Produktionskontext werden bei der Auswahl der Filme weitere formale Kriterien berücksichtigt, wichtig sei aber vor allem ein ästhetisch-politischer Wert, eine Innovation, die sich in inhaltlich-künstlerische Relevanz ergießt. Was das aber genau ist, konnte Sommer auch nicht näher bestimmen, das zu definieren sei ohnehin unsinnig, unspannend und schlichtweg nicht zweckdienlich. Das eher kleinere Festival besticht durch seine Trennung vom Konsum, denn während andere Filmfestivals mittlerweile Geschäftsorte für den Ein- und Verkauf von Filmen sind, lehnt die Duisburger Filmwoche dies ab. Obwohl zunächst mit der Kritik konfrontiert, „nicht mit der Zeit zu gehen“, hat sich dieser Entschluss nun zu einem geschätzten Qualitäts- und Alleinstellungsmerkmal entwickelt.

Dokumentarisches Narrativ ist ein passender Begriff, um das Dokumentieren an sich zu umreißen, denn Dokumentation geht wohl kaum ohne das Erzählen, das sich aus dem eingenommenen Standpunkt ergibt. Aber wovon wird auf der Duisburger Filmwoche erzählt? Was ist inhaltlich-ästhetisch so relevant, dass es der Kinoleinwand würdig ist, über das sich das Sprechen lohnt? „Eine gute Projektion“ wünscht man sich im Kinosaal vor jedem Film und die hatte Matthias Lintner mit seinem Film Träume von Räumen auf jeden Fall. Der Film, nach fünf Produktionsjahren 2018 fertiggestellt, feierte auf der Duisburger Filmwoche seine Deutschlandpremiere.

Der zum Studium nach Berlin gezogene und dort ansässige Filmemacher entwirft in seinem Film nicht nur Philosophien über Räume, sondern Lebensräume und nicht zuletzt eigentlich über das Leben selbst. Wenn Pianomusik einen langsamen Kameraschwenk aus luftigen Höhen auf einen verlassenen Platz mit Bierflaschen und einem Feuerknistern aus dem Off begleitet, dann glaubt man zunächst den Schauplatz nach einer ausgelassenen Party zu betrachten. Doch Lintner macht gleich in seiner nächsten Szene deutlich, dass es hier keinesfalls um Belangloses geht: Der Zuschauer sieht eine Gruppe junger Menschen auf Fahrrädern auf den verlassenen Platz fahren. Nicht ungewöhnlich für Berlin, handelt es sich bei der Gruppe um eine Touri-Tour und so erfährt nicht nur diese Gruppe, sondern auch der Zuschauer ganz nebenbei, wo man sich überhaupt befindet – auf einem Innenhof eines alten Arbeiterquartiers in Berlin-Mitte. Lintner nutzt diese Protagonisten geschickt, um einen den Film dominierenden Gedanken zu manifestieren. Nachdem der Tourguide erzählt hat, dass in dem Gebäude nur noch wenige Wohnungen bewohnt sind und das Gebäude Baumaßnahmen zum Opfer fallen soll, stellt einer der Touristen die Frage in den Raum: „Was, wenn die Leute nicht ausziehen wollen?“. Die Problematik bleibt unbeantwortet und hinterlässt schon ganz zu Anfang des Films eine schwermütige, nachdenkliche Stimmung. Denn worüber der Film spricht, das ist nicht nur dieser Raum, sondern das sind die dort lebenden Menschen. Lintner, selbst im dokumentierten Haus ansässig, übernimmt eine Doppelrolle – als Protagonist entblößt er sich der Kamera und als Filmemacher erzählt er mit feiner Sensibilität von dem Leben der anderen Bewohner.

Obwohl „erzählen“ vielleicht auch das falsche Wort an dieser Stelle ist. Lintner schafft vielmehr eine Bühne, einen Raum, ja einen kleinen Kosmos, der sich nicht durch eine Verortung definieren lässt. Der Raum bleibt über den topographischen Ansatz der Kameraführung unkonkret und genau deshalb verliert er sich nicht. Lintner und damit auch der Film begegnen dem Ort, diesem kleinen Kosmos, mit einer Haltung, die nicht von oben hinab, sondern von unten nach oben ausgerichtet ist. Diese von Lintner geschaffene Bühne lässt Menschen zu Wort kommen, denen womöglich in der Anonymität unserer urbanen Schnelllebigkeit nur wenig Gehör geschenkt würde. Neben ihm selbst umzeichnet das dokumentierte Nachbarschaftsleben drei weitere Protagonisten: den Alkoholiker und Künstler Raffael, den alten und schon ewig dort ansässigen Herrn Pieper und die junge Koben, ein Punk. Das dokumentarische Format stellt in Lintners Film niemanden bloß – im Gegenteil, man nähert sich den Protagonisten, man fühlt sich ihnen vertraut und irgendwie sind sie das ja auch, denn sie wirken wie Stereotype, denen wir alle in unserem Alltag schon einmal begegnet sind. Uns selber können wir aber auch in ihnen wiederfinden und zwar in den Momenten des Nachbarschaftslebens, wenn sich beispielsweise Raffael darüber freut, dass die Hausbesetzer von der Polizei abgeführt werden und er nun froh ist, wieder Ruhe finden zu können und letztlich sogar die schon häufig gehörte Plattitüde „die haben sich ja dafür entschieden obdachlos zu sein“ von sich lässt – haben wir uns nicht alle schon einmal über laute Nachbarn aufgeregt? Fast schon ein bisschen ironisch wirkt es dann, dass Raffael sich darüber beschwert, er selbst sei zu laut gewesen: „Demnächst heißt es, kannst du mal bitte leiser auf Toilette gehen?!“

Was Lintner uns hier zeigt, das sind aber nicht nur die Probleme, sondern auch das nette Miteinander, das Füreinander-da-sein, Menschen, die sich umeinander kümmern, und das, obwohl sie keine Familie sind, oder aber vielleicht sind sie eine geworden. In diesem ehemaligen Arbeiterquartier, da hilft man sich. Dem alten Herrn Pieper wechselt man die Glühbirnen aus oder sucht mit ihm nach einer seiner zahlreichen Puppen innerhalb seiner Figurensammlung, wie es Koben tut. Und wenn so unterschiedliche Personen wie Herr Pieper und Koben zusammenfinden, dann merkt man, dass augenscheinliche Differenzen völlig obsolet werden, wenn man respekt- und liebevoll mit den Menschen um sich herum umgeht. Dieses kleine Zusammenleben zu beobachten ist unglaublich fesselnd, es ist ein Raum des Zulassens von Ansichten und Gedanken, von Unterschieden. „Ist die Giraffe schwanger?“ „Nein, die ist abstrakt.“ „Wieso ist die abstrakt?“ „Naja, weil die Giraffe ist in echt ja viel größer.“ So manch einen Dialog belächelt man zuerst, bevor man realisiert, dass Gedanken, die einen selbst womöglich belustigen, dem Anderen vollkommen ernst sind.

Lintner formuliert in seinem Film Korrelationen zwischen Räumen und Personen, Räumen und Zeitlichkeit. Er ist Teil des Nachbarschaftslebens, aber eben auch der Filmemacher. Das merkt man an einigen Stellen deutlich, wenn er Gespräche bewusst über Äußerungen wie „hier stagniert alles und ist das dann auch in dir drin?“ versucht in bestimmte Richtungen zu lenken. Und während solche Fragen noch recht subtil wahrgenommen werden können, wird der gesamte Film etwas weniger subtil durch Fragen zum und über Räume gerahmt. Lintner zitiert dabei aus Georges Perecs Buch Träume von Räumen. Die Zitate in Form von Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film und postulieren diesen selbst als fragendes Narrativ. Wenn Bild und Text zusammenkommen, dann finden Verschiebungen statt, der Text wird durch das Bild in konkrete Kontexte eingebettet, während das Bild durch den Text an poetischen Assoziationen gewinnt. Lintner begründet den Einbezug des Buches künstlerisch-logisch mit „das gibt dem Film was dazu und nimmt dem Film nichts weg.“

Am Ende des Films ist man nicht unbedingt schlauer, was den Begriff des Raumes angeht. Man kann sich nur sicher sein, dass Räume nicht beständig sind, sie verschwinden und sind durch Zeitlichkeit determiniert. Aber es sind auch Orte, die durch die dort lebenden Menschen, stattgefundene Handlungen, Ereignisse bestimmt sind. Wohinein sich Räume dann ergießen, das sind Erinnerungsräume. Das Verschwinden von Räumen ist ein urbanes Phänomen und in 20 oder 30 Jahren, so wünscht sich Lintner, ist sein dokumentarisches Narrativ vielleicht ein „Dokument der Sehnsucht.“ Räume zu denken, das bedeutet stets den Raum in Zweifel zu ziehen. „Ich bringe ein Bild an einer Wand an […] und weiß nicht mehr, dass es eine Wand ist.“

Dieser Text entstand im Zusammenhang mit der Lehrveranstaltung „Alltag in fiktiver Echtzeit. Strategien des Dokumentarischen“ von Prof. Susanne Weirich an der Universität Duisburg-Essen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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