Fontanes Maria Stuart

Eine Relektüre des Romans „Cécile“ von 1887

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

1. Vorbemerkung

Fontanes Roman Effi Briest gehört zu den Gewinnern der Einführung des Zentralabiturs und des abnehmenden Wissens über ursprünglich dem Kanon zugerechneter Literatur. Leider fördert eine solche Monopolbildung nicht nur das Vergessen anderer Texte, sondern auch – durch das unkontrollierte Angebot sogenannter Hilfsmaterialien – die Fehlerhaftigkeit des Wissens über den Roman. Dies beginnt bereits bei Falschschreibungen wie „In(n)stetten“.[1] Es bleibt zu hoffen, dass Lehrerinnen und Lehrer eher zuverlässige literaturwissenschaftliche Quellen verwenden, von denen mit dem Effi Briest-Handbuch eine neue mit eigener Beteiligung anzuzeigen ist.[2]

Dabei gibt es noch einen anderen, früheren Roman, der einen ähnlichen Grundkonflikt behandelt: Eine Dreiecksbeziehung führt zu einem Duell und zum Tod der Liebespartner und nur der – deutlich ältere – Ehemann überlebt. Auch Cécile ist bereits Ausweis der „sozialen Romankunst“ (Walter Müller-Seidel)[3] des Autors und beispielhaft soll gezeigt werden, welche intertextuellen und zeitgeschichtlichen Bezüge den Roman ausmachen und welches Aktualisierungspotenzial er hätte, wenn er noch gelesen würde. Dies ist natürlich auch als nachdrücklicher Hinweis auf den ‚ganzen Fontane‘ gemeint – wer gern Effi Briest liest, sollte Cécile und andere Romane Fontane nicht ignorieren. Ein 200. Geburtstag ist vielleicht ein guter Anlass für einen solchen Appell.

2. Was geschieht?[4]

Der ältliche Oberst a.D. Pierre von St. Arnaud und seine junge Frau Cécile wollen sich im Harz erholen und steigen im Hotel Zehnpfund in Thale ab. Dort lernen sie den Zivilingenieur Robert von Gordon-Leslie kennen, dem bereits kurz nach der Ankunft des Paares die schöne Frau aufgefallen ist. Der nervenleidenden Cécile geht es dank der Bewunderung und Achtung, die Gordon ihr entgegenbringt, zunehmend besser. Gordon, der immer mehr Gefallen an der ebenso kindlichen wie damenhaften Cécile findet, schreibt seiner stets gutinformierten Schwester Klothilde, um mehr über das ungleiche Ehepaar zu erfahren.

In Begleitung der Malerin Rosa Hexel und zweier Gelehrter werden Ausflüge unternommen, unter anderem nach Quedlinburg, wo man das Schloss besichtigt, und nach Altenbrak, um im dortigen Gasthaus die Fischspezialität Schmerle zu probieren und den Inhaber kennenzulernen. Auf dem Rückweg von Altenbrak ist Cécile ermüdet und friert, doch der sonst so rücksichtsvoll scheinende St. Arnaud muss unbedingt ein am Wegrand stehendes Denkmal näher betrachten. Gordon drückt sein Verständnis und seine Zuneigung gegenüber Cécile in einem langen Handkuss aus, den sie widerspruchslos hinnimmt.

Am nächsten Tag erhält Gordon ein Telegramm, das ihn zu seiner Kabelfirma nach Bremen ruft. Gordon sieht darin ein Zeichen, sich nicht weiter in Gefahr zu begeben und durch seine Abreise einer weiteren Vertiefung der Beziehung zu Cécile vorzubeugen. Dennoch denkt er ständig an sie, und als er sich geschäftlich in Berlin aufhält, wo auch die St. Arnauds wohnen, hält er es nicht mehr aus. Gordon spricht bei dem Ehepaar vor und lernt deren Bekannte kennen, die alle, bis auf den Hofprediger Dörffel, seltsame bis lächerliche Figuren zu sein scheinen. Dann erhält Gordon endlich den Brief seiner Schwester, der ihn in Kenntnis über Céciles Vergangenheit setzt.

Cécile wurde von ihren Eltern, denen Äußerlichkeiten und Geld am wichtigsten waren, kaum erzogen. Ihre Mutter willigte schließlich ein, dass sie die Mätresse des alten Fürsten von Welfen-Echingen wurde. Als dieser starb, wurde der junge Fürst ihr Liebhaber. Nach dessen Tod zog sich Cécile wider Erwarten, man war von einer Ehe mit einem von ihr protegierten Kammerherrn mit dem sprechend-ironischen Namen Schluckmann ausgegangen, ins elterliche Haus zurück. Dort lernte sie der sich in dem oberschlesischen Dorf langweilende Regimentskommandeur von St. Arnaud kennen und er verlobte sich mit ihr. Sein ältester Stabsoffizier wies brieflich auf die Unmöglichkeit einer solchen Verbindung hin. St. Arnaud tötete ihn daraufhin im Duell und musste seinen Abschied nehmen.

Die Nachrichten erregen Gordon sehr. Beim nächsten Treffen mit Cécile verändert er sein Verhalten, er schlägt einen leidenschaftlichen und verliebten Ton an. Cécile spürt die Gefahr und weist ihn zurecht. Erneut ruft ein Telegramm Gordon nach Bremen, erneut erkennt er, dass es besser ist, sich der Gefahr weiterer Verirrungen durch Abreise zu entziehen. Doch kann er die schöne Frau nicht vergessen. Als er wieder in Berlin ist und die Oper besucht, sieht er Cécile und einen unsympathischen Bekannten in einer gegenüberliegenden Loge. Gordon hat kein Vertrauen mehr in die moralische Standfestigkeit Céciles, missversteht die vertraulich scheinende, aber harmlose Szene und verfolgt seine Angebetete bis in ihre Wohnung. Dort kommt es zu einer Auseinandersetzung. Voller Eifersucht macht Gordon ihr Vorhaltungen, kann nicht von Cécile beruhigt werden und stürmt hinaus.

St. Arnaud, der seine Ehre verletzt wähnt und den es ärgert, dass Gordon nicht mehr Furcht vor seinem Zorn gehabt hat, fordert den Nebenbuhler zum Duell. Gordon wird getötet, St. Arnaud geht außer Landes und weist seine Frau in einem Brief an, ihm zu folgen. Als sie das kalte, im Befehlston gehaltene Schreiben erreicht, nimmt Cécile sich das Leben.

3. Cécile, das unbekannte Wesen

„Dieser Roman hat sich beim Publikum keiner besonderen Beliebtheit erfreut, und auch die Kritik hat ihn gewöhnlich mit ein paar Worten abgetan.“[5] Ebenso die Forschung, denn es gibt nicht viele Arbeiten zu Cécile.[6] Eine Reihe von Standardwerken schenkt diesem doch recht umfangreichen Roman keine Beachtung.[7] Im Widerspruch dazu steht, dass die wenigen Cécile-Interpretatoren dem Werk einen ausgeprägten Kunstcharakter bescheinigt haben.[8] Walter Müller-Seidel meint: „Wir haben es zweifellos mit einer sehr kunstvollen und durchdachten Anordnung der Teile zu tun.“[9] Magdalene Heuser hat durch „Gespräche“ oder „zentrale Begriffe“ geschaffene „Verweisungszusammenhänge“ festgestellt.[10]

Über die Deutung gehen die Meinungen weit auseinander, dies betrifft insbesondere die Frage der Schuld. Für Peter Uwe Hohendahl bleibt Cécile ein geheimnisvoller Charakter. „Cécile gehört zu den Menschen, die Leben verzehren; sie bringt kein Heil.“[11] Hohendahl sieht in Cécile keine „Identifikationsfigur“, für ihn eine Ursache des mangelnden Romanerfolgs.[12] Auch Gerhard Friedrich, der sich mit der „Schuldfrage in Fontanes ,Cécile‘“ beschäftigt hat, kann nicht genau sagen, wer eigentlich den tragischen Ausgang zu verantworten hat. Für ihn ist nur „nicht zu zweifeln, daß Fontane Céciles Schritt in die Schuld als schuldloses Schuldigwerden verstanden sehen will“.[13]

Walter Müller-Seidel möchte Céciles persönliche Schuld noch geringer veranschlagt wissen und macht in erster Linie die „Konventionen ihrer Welt“ verantwortlich.[14] Sylvain Guarda hat folgendes Fazit gezogen: „Fontanes virtuosenhaft sinnliche Kunst drängt sich dem Leser nicht in der Form einer Moral, sondern eines Gefühls auf […]. Mit dem bescheidenen Anspruch, die Welt zu bessern, anstatt sie zu verändern, bleibt Fontanes Dichtung dem klassischen Erbe verpflichtet.“[15]

Neben diesen eher vorsichtigen Interpretationen finden sich zwei extreme Positionen, die Cécile als einzig Schuldige bzw. vollkommen Unschuldige am Desaster darstellen. Für Ursula Schmalbruch ist Céciles Tod eine „Erlösung von einer Welt ohne Liebe“, der Roman somit „eine Art negativer Utopie“.[16] Inge Stephan sieht in der Zeichnung der „gefährlich-schönen Hexe“ Cécile nur eine Manifestation einer „Männerphantasie“. Sie macht stereotype Vorstellungen des Autors dafür verantwortlich, dass er „Cécile, indem er sie zur Hexe macht, zum Tode verurteilt. Ihre Schuld ist ihr Geschlecht, ihre Sexualität. Ein Entrinnen gibt es nicht. Sie ,sitzt‘ drin und ,kommt nicht wieder heraus‘.“[17] Man kann den Roman indes auch ganz anders lesen – und zwar als ähnlich gesellschaftskritisch und ähnlich offen gestaltet wie Effi Briest. Einen Hinweis auf eine solche Deutung liefert etwa Winfried Jungs Fazit, Fontane stelle mit seinem Roman „vieldeutig und ironisch die preußische Welt, ihre Siege und ihre Denkmäler in Frage.“[18]

4. Fontane über seinen Roman

„Stoff: Ein forscher Kerl, 25, Mann von Welt, liebt und verehrt – nein, verehrt ist zu viel – liebt und umkurt eine schöne junge Frau, kränklich, pikant. Eines schönen Tages entpuppt sie sich als reponirte Fürstengeliebte. Sofort veränderter Ton. Zudringlichkeit mit den Allüren des guten Rechts. Conflikte; tragischer Ausgang.“[19] So fasst Fontane noch während der Arbeit an seinem Roman den Inhalt zusammen. Fontane widmet den Vorabeiten viel Zeit, betreibt umfangreiche Studien vor Ort in Thale und Umgebung und äußert sich bereits im frühen Stadium sehr erwartungsvoll. Die Geschichte werde, so glaubt er, „was ganz Feines“.[20] Nachdem der Abdruck in der Zeitschrift Universum begonnen hat, schreibt Fontane seinem Sohn, er finde dessen „Bemerkung sehr richtig, daß der nebenherlaufende Bummelton einiger Figuren, also besonders auch der beiden Berliner, die Gewitterschwüle des Hauptthemas steigern soll“.[21] Das ist ein Indiz für den von Interpretatoren festgestellten „Kunstcharakter“ des Romans und dafür, dass Fontane alles auf ein zentrales Thema hin ausgerichtet hat. Die „Gewitterschwüle“ deutet auf den tragischen Höhepunkt und widerlegt Wandreys Behauptung, ein gutes Ende hätte besser zu dem Roman gepasst.[22]

Was aber ist die Intention, wenn es nicht darum geht, eine(n) Schuldige(n) zu entlarven? Einen Hinweis liefert eine Bemerkung Fontanes zum schlesischen Adel, zu dem ja auch, wenigstens als Fürstengeliebte, Cécile zu rechnen ist: „Er ist gewiß, nach bestimmten Seiten hin, anfechtbar, aber grade diese Anfechtbarkeiten machen ihn interessant und mir auch sympathisch. Es sind keine Tugendmeier, was mir immer wohltut. Ich war nie ein Lebemann, aber ich freue mich, wenn andere leben, Männlein wie Fräulein. Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb“.[23]

Betrachtet man den Satz „Das Natürliche hat es mir seit lange(m) angetan“, den Inge Stephan zum Titel ihres Aufsatzes gewählt hat, im Kontext dieser ausführlichen Attacke gegen alle „Tugendmeier“, dann wird unverständlich, wie die Interpretation zu dem Schluss kommen konnte, Fontane habe sich an Cécile „abreagiert“, bleibe „letzten Endes doch in den Vorstellungen seiner Zeit und seiner Gesellschaft befangen“ und werde „zum Vollstrecker ihrer Ordnung an seinen Figuren“.[24] Fontane ist es offenbar gar nicht darum gegangen, Cécile zu ,bestrafen‘. Das „Drinsitzen“, der tragische Tod Céciles, bedeutet also etwas anderes als die Wiederherstellung einer moralischen Ordnung, wenn ihr Schöpfer sie um ihrer „Menschlichkeiten, d.h. um ihrer Schwächen und Sünden willen“ zu „lieben“ vorgibt. Wichtiger als Moralität sei ihm „die Ehrlichkeit, der man bei den Magdalenen mehr begegnet als bei den Genoveven. Dies alles, um Cécile und Effi ein wenig zu erklären.“[25]

Statt auf die biblische Maria Magdalena hätte Fontane auch auf die schottische Königin Maria Stuart hinweisen können. Sie ist ebenfalls, legt man Schillers Darstellung in seinem Trauerspiel Maria Stuart zugrunde, „weder fromm noch keusch noch sittlich“ gewesen, hat aber andere Tugenden gehabt, die sie weit über die scheinbar so fromme, keusche und sittliche Elisabeth erhoben haben. Der zweimalige Verweis auf die Schottenkönigin in Cécile, mit dem Fontane den Charakter seiner Hauptfigur schlaglichtartig erhellt, ist bisher von der Forschung nur am Rande zur Kenntnis genommen worden.

5. Ehepaar mit Hausfreund

Für die Interpretation ist die Frage entscheidend, in welcher Beziehung die Protagonisten St. Arnaud, Cécile und Gordon zueinander stehen und wie sich ihr Verhältnis entwickelt. Schon auf der ersten Seite wird angedeutet, dass die Ehe der Arnauds nicht glücklich ist. Zunächst fällt dem Leser, dank der Beschreibungen des Erzählers, der große Unterschied zwischen den Eheleuten auf.

Pierre von St. Arnaud ist „ein starker Fünfziger“ mit einem „scharfen und beinah stechenden Blick“, der auf seine misstrauische Natur schließen lässt. Dazu passt, dass er ein „Oberst“, ein „alter Militär“ ist, der von seinem Diener mit ängstlicher Unterwürfigkeit behandelt wird. Dieser bezeichnet seinen Arbeitgeber noch immer mit dem militärischen Rang.[26] St. Arnaud ist „mit besonderer Adrettheit“ gekleidet, scheint das Leben also nicht so schwer zu nehmen wie seine Frau, die Schwarz trägt und einen leidenden Eindruck macht. Der Oberst a.D. verhält sich ihr gegenüber so, wie man es nach der ersten Beschreibung schon vermuten konnte. Zwar hilft er ihr, es sich bequem zu machen. Doch zeigt sein Blick neben „Aufmerksamkeit und Teilnahme“ einen Ausdruck „von Herbheit, Trotz und Eigenwillen“, der „die freundliche Wirkung“ des Eindrucks „mindert“. Der auktoriale Erzähler schlussfolgert: „Täuschte nicht alles, so lag eine ,Geschichte‘ zurück, und die schöne Frau (worauf auch der Unterschied der Jahre hindeutete) war unter allerlei Kämpfen und Opfern errungen“ (131). Die Neugier des Lesers wird geweckt, welche Vor-„Geschichte“ die Ehe hat. Gleichzeitig deutet der Erzähler vorsichtig auf die Ungleichheit der Eheleute hin und bezeichnet vielsagend die Heirat als einen ,Sieg‘ des Obersten, der unter „Kämpfen und Opfern“ die „schöne Frau“ wie einen Preis „errungen“ habe. Wahre Liebe scheint hier nicht im Spiel gewesen zu sein. Die „Herbheit“ des Oberst und sein „Eigenwillen“ sind ebensowenig Zeichen, dass er selbstlose Zuneigung für seine Frau empfindet.

Dem Hinweis auf eine „Geschichte“ in der Vergangenheit folgt im Gespräch der Eheleute eine Andeutung auf eine „Geschichte“ in der Zukunft. Cécile sagt: „,Erzähle mir etwas Hübsches, etwas von Glück und Freude. Gibt es nicht eine Geschichte: Die Reise nach dem Glück? Oder ist es bloß ein Märchen?‘ – ,Es wird wohl ein Märchen sein.‘“ Das berührt Cécile „schmerzlich“, und mitleidig meint ihr Mann: „,Laß, Cécile. Vielleicht ist das Glück näher, als du denkst, und hängt im Harz an irgendeiner Klippe. Da hol ich es dir herunter, oder wir pflücken es gemeinschaftlich‘“ (131). Cécile ist leidend, weil sie unglücklich ist. Ihr fehlen „Glück und Freude“, die ihr der Ehemann offensichtlich nicht bieten kann (131). Sein In-Aussicht-Stellen eines möglichen Glücks, dessen Höhepunkte gemeinsames gutes Essen und Spazierenfahren sind, tut ihr „wohl“, aber „bedeutet“ ihr „wenig“ (132). Die Beziehung der Eheleute kann offenbar keine Basis für Glück oder Genesung Céciles sein. Trotzdem will sie „allein“ mit ihm bleiben, ohne Gesellschaft anderer Menschen. Ihre erst viel später aufgedeckte „Geschichte“ ist hierfür der Grund. Die Vergangenheit hält Cécile in Schach und lässt es nicht zu, dass sie aus dem Käfig ihrer Ehe ausbrechen kann. Und sei es nur, um harmlose zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen. Das „Märchen/Glück“-Motiv deutet aber auf ihre kommende Romanze mit Gordon voraus. Doch wird das Glück ein „Märchen“ bleiben, das von der bösen Realität, in Gestalt des Rächers St. Arnaud, schnell wieder eingeholt werden wird. Seine tröstenden Worte, er wolle ihr das „Glück“ von einer „Klippe“ holen, deuten eher auf Gefährdung als auf Sicherheit.[27]

Im folgenden zweiten Kapitel werden die Unterschiede zwischen den Ehepartnern noch unterstrichen. Cécile ist „ganz einer träumerischen Stimmung hingegeben, in der sie sich augenscheinlich ungern gestört fühlte, wenn der Oberst, in wohlmeinendem Erklärungseifer, den Cicerone machte“ (133). Sie ist „sichtlich gleichgültig“ gegen das, was St. Arnaud sagt. Er besitzt kein Taktgefühl und nimmt ihr Desinteresse nicht wahr. Seine Bemerkung über das Paarungsverhalten der Schwalben ist noch taktloser. Cécile wird rot und sie fröstelt. Doch ihr Mann, der eigentlich die Wirkung einer solchen Anspielung auf Céciles traumatische Vergangenheit kennen müsste, vermutet arglos (oder hinterhältig?), die Reaktion seiner Frau zeige, dass sie nicht genug Bewegung gehabt habe (134). Wie sehr Cécile Liebe vermisst, zeigt sich in ihrem Verhalten, nachdem der ihr erstmals begegnende Gordon sie bewundernd und „mit besonderer Devotion“ gegrüßt hat (134). Plötzlich will sie spazierengehen, und zwar zu dem Baum, „wo die Schwalben nisten“. Da diese es, wie Arnaud vorher formuliert hat, in der Liebe „nicht so genau“ nehmen, ist Céciles plötzliches Interesse an dem Nistplatz, dem ,Bett‘ der Schwalben, auch ein Hinweis des Erzählers auf Céciles ähnlich ,natürlichen‘ Charakter und auf eine mögliche Affäre zwischen ihr und Gordon.

Gordon springt der Unterschied zwischen den Eheleuten gleich ins Auge. Er wundert sich auch, dass „ein so brillanter und bewährter Offizier“ wie St. Arnaud „den Abschied genommen“ hat (136). Immer stärker wird bei ihm der Eindruck, dass „was zu kaschieren“ (136) ist und dass die Ehe von Cécile und St. Arnaud nur durch äußere Beweggründe zusammengehalten wird. Anfangs trennt Cécile und Gordon bei Tisch noch eine zwischen ihnen stehende Vase „mit allerhand rotem Blattwerk“ (140). Die Farbe Rot kann als Farbe der Liebe und des Blutes, also als ambivalente Vorausdeutung auf die Liebe der beiden und das blutige Romanende gesehen werden. Später ist dieses Hindernis verschwunden. „Der die Neigungen und Wünsche seiner Gäste beständig scharf im Auge habende Wirt“ hat Gordon neben seine neue Freundin gesetzt (176). Dass Gordon nun links von ihr sitzt und sie rechts von ihm mag verdeutlichen, dass sie für ihn zwar die Rechte wäre, aber er nicht für sie, eine verheiratete Frau.

Auch sonst kommen sich die beiden näher – nicht ohne dass der Erzähler ihren Weg mit Mahnungen säumt. Da ist zum Beispiel ein einsam gelegenes Haus, das Cécile als „das ,verwunschene Schloß‘ im Märchen“ bezeichnet (143). Gleich darauf fällt das mit dem „Märchen“ bereits zuvor verbundene Stichwort „Glück“. Gordon aber klärt Cécile auf, dass das „Idyll“ eine grausame Täuschung ist, nur „Kulisse“, und dass „ein finsterer Geist durch dieses Haus“ gehe. Der letzte Bewohner habe sich am Fenster erschossen (144). Das Haus steht für Gordons und Céciles Traum einer gemeinsamen Zukunft und gleichzeitig für das Ende dieses Traums, denn Gordon wird durch eine Kugel sterben wie jener letzte Bewohner. Von Gordon wird das Haus aber als Symbol für etwas ganz anderes benutzt. Gordon hat, so vermutet der Erzähler, „den ganzen Umweg vielleicht nur um dieser Stelle willen gemacht“ (143), er hat einen Zweck damit verbunden, es den St. Arnauds zu zeigen. Welchen, darauf deutet sein Hinweis auf die „Predigt“, die er sich „täglich“ dort im Vorübergehen „hole“ (143). „,Die, daß man darauf verzichten soll, ein Idyll oder gar ein Glück von außen her aufbauen zu wollen‘“ (144). Gordon wartet „auf ein Wort der Zustimmung“, das aber ausbleibt. Er wollte mit seinem Abstecher auf die ,Fassade’‘ der Ehe der St. Arnauds hinweisen und Reaktionen provozieren, die ihm Rückschlüsse auf das Geheimnis des Paares hätten verschaffen könnten.

Eine weitere Vorausdeutung ist die Geschichte von der tugendhaften Prinzessin. Sie rettet sich vor einem untugendhaften Verfolger durch einen Pferdesprung auf den Berg Roßtrappe. Gordon interpretiert das leichtsinnig als: „wo die Gefahr liegt, liegt auch die Rettung“ (151), bekanntlich ein Zitat aus Hölderlins Gedicht Patmos: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“[28] Malerin Rosa widerspricht ihm und meint, im umgekehrten Falle (Prinzessin verfolgt Prinz) gebe es keine Hilfe. Ein verfolgter Kavalier habe „die Pflicht, sich selber zu helfen“. So wird Gordons gedankenlose Impulsivität entlarvt, nicht aber Cécile als böse Hexe dämonisiert.[29] Cécile spürt, im Gegensatz zu Gordon, „ein leises Unbehagen“ (151).

Nächstes Glied in einer Kette von Bauwerken, deren Geschichte auf die Romanhandlung verweist, ist das Schloss von Quedlinburg, dessen Vergangenheit Zeugnis von Mätressenwirtschaft und menschlicher Untreue ablegt. Ein „Denkmal für Hundetreue“ (163) ist ironisches Symbol dieser charakterlichen Fehlleistungen. Als nächstes folgt das Jagdschloss Todtenrode, dessen bedeutungsvollen Namen Gordon hervorhebt: „,Wenn es nicht schon so hieße, so müßt es so getauft werden. Todtenrode! Wohnen Menschen hier? Mutmaßlich Totengräber?‘“ (197) Nachdem Gordon die Verbindung zwischen dem Bauwerk und der Mätressenwirtschaft eines „Duodezfürsten“ hergestellt hat, fügt er hinzu, allein der Name Todtenrode hätte ihn „in einen Tugendpriester verwandeln können“ (198). Somit ist bereits in dem Namen des Schlösschens eine Vorausdeutung auf die über Cécile und Gordon entscheidende Konstellation von verbotener Liebe und Tod enthalten.

Während der diversen Ausflüge sieht St. Arnaud die Bewunderung Gordons für seine Frau und erheitert sich über die „Eifersucht“, die Cécile Rosa wegen ihrer klugen Gespräche mit Gordon entgegenbringt (155). Der Eindruck drängt sich auf, dass der Oberst die Sache etwas zu leicht nimmt, dass er zu selbstsicher ist. Andererseits scheint den beiden neuen Freunden ihre Liebe zueinander nicht klar zu sein. Beobachter wissen mehr, beispielsweise die rücksichtslos offenen Berliner, die trocken kommentieren (und so den Leser informieren): „,Sieh nur, schon den Schal überm Arm. Der fackelt nicht lange. Was du tun willst, tue bald. Ich wundre mich nur, daß der Alte…‘“ (144f.).[30]

Die wachsende Zuneigung zwischen Cécile und Gordon korrespondiert mit einer immer größer werdenden Entfremdung zwischen den Eheleuten. St. Arnaud bauscht den körperlichen Schwächezustand seiner Frau so sehr auf, dass sie vor Verlegenheit rot wird (152). Gordon dagegen bietet ihr „den Arm“ und wird von einem „Anflug kleinen Übermuts“ überrascht (153), der Beleg genug ist, wieviel besser sie sich fühlt, wenn sie mit ihm nah beisammen ist. Gordon macht in einem Brief an seine Schwester unmissverständlich deutlich, wie wenig seiner Meinung nach der „Gardeoberst“ zu der schönen jungen Frau zu passen scheint. „,Es ist unmöglich, sich etwas Unverheirateteres vorzustellen als ihn‘“ (171f.). Gordons folgende Einschätzung klingt wie eine zynische Vorausdeutung des Erzählers auf die kommenden Ereignisse: „,In manchen Momenten […] wirkt er nicht viel anders, als ob er ein Jeu-Oberst wäre, der hier in Thale den Gemütlichen spielt und seine Kräfte für eine neue Kampagne sammelt‘“ (172). Die „neue Kampagne“ wird jenes Duell sein, in dem Arnaud zum zweiten Mal seiner Ehre ein Menschenleben zum Opfer bringen wird.

Auf dem Ausflug nach Altenbrak verhält sich Arnaud, Gordons Ansichten bestätigend, noch unhöflicher als sonst. Er kommentiert die soeben erhaltene Lehrstunde über die Askanier mit den Worten: „,Freilich, ob Herrn von Gordon an einer derartigen Wissenszufuhr gelegen gewesen wäre, muß dahingestellt bleiben – hinsichtlich meiner teuren Cécile verbürg ich mich für das Gegenteil‘“ (201). Als es um die Frage geht, ob man zu Esel oder zu Pferd zurückreiten soll, will St. Arnaud als einziger das Pferd wählen; Cécile entlarvt diese Wahl als einen Akt der Überheblichkeit: „,Die Männer sitzen ohnehin auf dem hohen Pferd; schlimm genug; reitet man aber gar noch aus freien Stücken zu Esel neben ihnen her, so sieht es aus wie Gutheißung ihres de haut en bas‘“ (212). Wie ein Seitenblick in Richtung Gordon zeigt, will sie nicht ihre eigene, sondern Gordons Erniedrigung durch ihren Mann abwenden, indem sie für alle um Pferde bittet. St. Arnaud ist „überrascht“ (212), denn mit dem Widerstand seiner sonst so fügsamen Cécile hat er offenbar nicht gerechnet.

Die Situation gipfelt in einem durch St. Arnauds Unhöflichkeit provozierten langen Handkuss, den Gordon unbemerkt Cécile gibt (214). Ihr Mann wird, wie um die Berechtigung des Kusses zu bestätigen, kurz darauf noch anzüglicher. So fragt er seine Frau: „,Oder bist du für Extratouren?‘“, eine im Kontext ihrer Lebensgeschichte beleidigende Bemerkung. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Cécile dann bei St. Arnauds „Annäherung unwillkürlich zur Seite“ biegt (215). Der Handkuss hat ihre Sympathien ebenso gezeigt wie die Drehbewegung ihre Antipathien. An dieser Stelle, dem Ende des 15. Kapitels, sieht es fast so aus, als könnte sie sich von ihrem Mann trennen, um mit Gordon glücklicher zu werden.

Der Eindruck, den Gordon von St. Arnaud gewonnen hat, bestätigt sich, der „alte Militär“ ist tatsächlich ein „Jeu-Oberst“. Seine Frau vernachlässigend, verbringt Arnaud die meiste Zeit „im Klub“, „in dem Billard, Skat und L’hombre mit beinah wissenschaftlichem Ernst gespielt wurde. Nur die Points hatten eine ganz unwissenschaftliche Höhe“ (238). Rosa erklärt St. Arnauds Spielmanie mit Verbitterung und Langeweile. Ihre Bemerkung „,Er war ganz Soldat und ging darin auf‘“ (249), bestätigt die Einschätzung Gordons, dass der Oberst ein Militär aus Fleisch und Blut ist und kein Familienmensch. Noch aufschlussreicher ist Rosas Analyse der Ehe der St. Arnauds: „,Aber was heißt Liebe bei Naturen wie St. Arnaud? Und wenn es Liebe wäre, wenn wir’s so nennen wollen, nun so liebt er sie, weil sie sein ist, aus Rechthaberei, Dünkel und Eigensinn, und weil er den Stolz hat, eine schöne Frau zu besitzen. In Wahrheit ist er ein alter Garçon geblieben, voll Egoismus und Launen, viel launenhafter als Cécile selbst. Die Ärmste hat ihr Herz erst neulich darüber zu mir ausgeschüttet‘“ (249).

Das ist Wasser auf Gordons Liebesmühle. Als er den Brief seiner Schwester empfängt, gibt er ganz offen zu, dass sie „recht hat“, ihn als „jungen Kavalier“ und Cécile als seine „schöne Angebetete“ zu bezeichnen (251). Kein Wunder, dass Gordon, für den Cécile bisher eine vernachlässigte, unschuldige Frau gewesen ist, sich nach Lektüre des Briefes „in der höchsten Erregung“ befindet, gar zu „ersticken“ (!) glaubt (253). (In der Tat wird ihn diese Neuigkeit später das Leben kosten.) Er kann das Wissen um Céciles Vergangenheit nur schwer ertragen.

Doch wird nicht nur die wachsende Zuneigung zwischen Gordon und Cécile im Romanverlauf veranschaulicht. Auch zeigt sich, dass es Unterschiede zwischen den beiden gibt, die später größere Bedeutung erlangen werden. Gordon ist gebildet, Cécile nicht. Er „erheitert sich“ über ihre Nichtbildung (146),[31] sie langweilt sich bei den gelehrten Gesprächen Gordons mit der Malerin Rosa (149f.). Cécile interessiert sich für „Traktätchenliteratur“ und romantische Romane aus Frankreich. Sie mag nur das, was „direkt mit ihrer Person oder ihren Neigungen“ zusammenhängt (154). Daher kennt sie auch den Namen Klopstock nicht (156).

Gordon findet es extrem schwierig, sich ein klares Bild von ihr zu machen (217), aber er spürt, wie sehr sie ihn anzieht und dass er derjenige ist, von dem eine mögliche Gefahr für ihr Eheleben ausgeht: „,Ich will sie nicht wiedersehen, ich darf sie nicht wiedersehen; ich will nicht Verwirrungen in ihr und mein Leben tragen‘“ (221). Doch genau das wird er später tun. Er verhält sich alles andere als verantwortungsvoll. Trotz besserer Einsicht schreibt er seiner Angebeteten, einer „weichen Stimmung“ hingegeben (222), um ihr dann – mit der Ausrede, er habe in Berlin keine anderen Freunde – seine Aufwartung zu machen, obwohl sie seinen Brief nicht beantwortet hat. Noch bevor Gordon das Gebäude betritt, in dem die St. Arnauds wohnen, spricht er von „meiner schönen Cécile“. Dass er vermutet, das Nebengebäude mit der Alhambra-Kuppel dürfte eher zu ihr passen, und dass er der ihm öffnenden Dienerin unterstellt: „Sie schien in einer intimen Unterhaltung gestört worden zu sein oder doch mindestens in ihrer Toilette“ (227), zeigt bereits, wie er Céciles moralische Widerstandsfähigkeit einschätzt, ohne ihre Vorgeschichte schon zu kennen. In seinen Gedanken schließt Gordon von ungeordneter Kleidung gleich auf eine Liebschaft und taucht damit die Verhältnisse im Haus in ein Zwielicht.

6. „Gentleman“ Gordon? Der Mann von Welt

Als Robert von Gordon-Leslie Cécile das erste Mal erblickt, versucht er sich darüber klarzuwerden, weshalb sie ihm aufgefallen ist, und er schlussfolgert: „,Das ist Baden-Baden […] oder Brighton oder Biarritz, aber nicht Harz und Hotel Zehnpfund‘“ (136). Gordon scheint mit den berühmten Badeorten Europas vertraut zu sein. Sein Interesse an Cécile lässt auch den Schluss zu, dass ihn die Provinzialität der Harzgegend langweilt. Wenig später stellt Gordon weitere Betrachtungen an: „Er gestand sich, selten eine schönere Frau gesehen zu haben, kaum in England, kaum in den ,States‘“ (140). Gordons Kenntnis und Céciles Schönheit gehen offenbar noch über den europäischen Rahmen hinaus. Für ihn ist sie eine der schönsten Frauen der Welt und er scheint der Mann zu sein, der das beurteilen kann.

Gordon hat sich in vielen Ländern herumgetrieben, nachdem er, Schulden halber, aus der preußischen Armee ausscheiden musste. St. Arnaud teilt Cécile folgendes mit, weil sie sich sehr für Gordon interessiert: „,Kurzum, er konnte sich nicht halten und übersiedelte […] nach England, woselbst er seine wissenschaftlichen Kenntnisse praktisch zu verwerten hoffte. Dies gelang ihm denn auch, und er ging Mitte der siebziger Jahre nach Suez, um hier im Auftrag einer großen englischen Gesellschaft einen Draht durch das Rote Meer und den Persischen Golf zu legen‘“ (174). Nach ähnlichen Ingenieurarbeiten für die Perser und Russen sei Gordon wieder „Bevollmächtigter derselben englischen Firma“ wie zuvor geworden. Er sei „,gerade jetzt mit einer geplanten neuen Kabellegung in der Nordsee beschäftigt. Hat aber den lebhaften Wunsch, in preußischen Dienst zurückzutreten‘“ (174).

Gordon ist, wie sich herausstellt, noch in anderen Teilen der Welt gewesen, z.B. in Indien (221). Er liest noch immer regelmäßig die Londoner Times, die führende Zeitung der Welt (172). Seine Weltläufigkeit hat auch Auswirkungen auf Benehmen und Charakter. Nicht nur weiß er, Cécile gentlemännisch umwerbend, ihre Schönheit zu würdigen. Auch erkennt er die in der enger werdenden Beziehung wurzelnde Gefahr. Der versucht er zu begegnen, indem er auf Erfahrungen zurückgreift. So hält er den eigenen Bedenken entgegen: „Sind Verwirrungen denn unausbleiblich? Lady Windham in Delhi war nicht älter als Cécile, und ich selbst war um fünf Jahre jünger als heut, und doch waren wir Freunde.“ Folglich sei auch ein „Wiedersehen“ und „Freundschaft“ mit Cécile möglich (221). Gordon muss aber erkennen, dass es mit Cécile anders ist, da er „von der Frage nicht loskomme“ (221). Seine „Neigungen“ gegenüber Cécile sind so intensiv, dass Gordon einen „Brand“ der Leidenschaft nicht ausschließen kann.

Zuerst hilft ihm seine Weltläufigkeit, die „Vorsätze“ nicht über Bord zu werfen (222). Gordon bemüht sich um einen Mittelweg. Er will, wie die Lady-Windham-Episode zeigt, mit Cécile nicht brechen, aber sie und sich auch nicht ins Unglück stürzen. Noch einmal versucht er später, nachdem er von Céciles Vergangenheit erfahren hat, sich mit Hilfe seiner Erfahrungen auf diesen Mittelweg einzuschwören: „,Colonel Taylor pflegte zu sagen: ,alle Weisheit stecke im Tabak‘. Und ich glaube fast, er hatte recht. Ich werde meine Besuche bei den St. Arnauds ruhig fortsetzen und mir gar keinen Plan machen, sondern alles dem Augenblicke überlassen. Ich glaube wirklich, das ist das Beste: sie freundlich ansehen und mit ihr plaudern wie zuvor, als wüßt ich nichts, und als wäre nichts vorgefallen… Und am Ende, was ist denn auch vorgefallen?‘“ (256) Doch beginnen bereits die „Neigungen“ über die „Vorsätze“ zu triumphieren. Gordon, der sich und sein Temperament besser kennen müsste, wird gerade durch sein „alles dem Augenblicke überlassen“ die Grenze des Erlaubten überschreiten. Cécile wird ihn mehrmals zurückweisen müssen, später sogar mit den deutlichen Worten: „,Ich habe Sie für einen Kavalier genommen oder, da Sie das Englische so lieben, für einen Gentleman und sehe nun, daß ich mich schwer und bitter in Ihnen getäuscht habe‘“ (272).

Mit Cécile hat sich auch der Leser in Gordon getäuscht. Von Romanbeginn an stand der weltläufige Gordon im Gegensatz zu den spießigen Preußen, die entweder Cécile ihrer Vergangenheit wegen schnitten oder nur mangels anderer Möglichkeiten mit ihr Umgang pflegten (deshalb haben sie und St. Arnaud auch so merkwürdige Freunde). Nur die Schulden, deretwegen Gordon den Abschied aus der Armee nehmen musste, haben bereits einen Hinweis auf eine riskante Unterströmung in seinem Charakter geliefert. Er hat sich Cécile gegenüber rücksichtsvoller als St. Arnaud erwiesen und sich in Gesprächen meist um eine tolerante, ausgleichende Haltung bemüht. Er ist, wie Cécile es formuliert, scheinbar ein „Gentleman“ gewesen. Seine anglophile Neigung, die sich z.B. in einer Vorliebe für englische Ausdrücke und Sprichwörter zeigt (vgl. z.B. 167, 169, 217, 267), hat dies belegt. Und doch sind die Anzeichen unübersehbar, dass Gordons Toleranz Grenzen hat und dass er, wenn es um Tugenden geht, ähnlich borniert reagieren wird wie alle anderen.

Die Weltläufigkeit zeigt sich als eine zu schwache Rüstung. Hofprediger Dörffel hat daher unrecht, wenn er, um Cécile wegen zuvor geäußerter Bedenken zu beruhigen, Gordon wie folgt lobt: „,Man erkennt unschwer den Mann, der die Welt gesehen und die kleinen Vorurteile hinter sich geworfen hat‘“ (233). Denn damit beschreibt Dörffel nur eine Seite von Gordons Persönlichkeit. In Gordon beansprucht neben dem Weltmann auch der Provinzler sein Recht. „,Ich liebe Weltreisen und möchte sie, wiewohl ich fühle, daß die Passion nachläßt, auch für die Zukunft nicht missen…‘“ (168), sagt Gordon, er betont aber auch: „,Ich glaube, ich bin so glücklich, weil ich wieder in der Heimat bin. Wo war ich nicht alles? Aber solche Momente hat man nur daheim‘“ (250; ähnl. 194). Einerseits ist Gordon, wie es Baronin von Snatterlöw ausdrückt, ein Mann, „,der die Wandelbarkeit moralischer Anschauungen […] persönlich erfahren hat‘“ (241). Andererseits gibt sich dieser Weltmann puritanisch engstirnig, wenn es um gefallene „Magdalenen“ geht (165). Diese Seite wird später triumphieren, wenn Gordon Cécile nicht glauben wird, dass sie sich geändert haben könnte.

Cécile hat schon früh geahnt, dass Gordon, trotz aller Vorzüge, im Grunde nicht anders als die anderen ist. Gegenüber ihrem einzigen wirklichen Freund, dem Hofprediger, vermutet sie nach dem ersten Zusammentreffen mit Gordon in Berlin: „,Er wird sich rasch hier wieder einleben, alte Beziehungen anknüpfen, und eines Tages wird er alles wissen. Und an demselben Tage…‘“ (234) ,wird er anders von mir denken‘, könnte man den Satz vervollständigen. Die folgende Vision Céciles von der Blutbuche und dem Schein der niedergehenden Sonne, deren Glut Gordon übergießt, weist auf Gordons Tod voraus. Bemerkung und Vision zusammengenommen machen vorab deutlich, was Cécile ahnt und nicht zu denken wagt: dass Gordon sich im Ton vergreifen und von ihrem Mann getötet werden könnte.

7. Die schottische Herkunft

Gordon hat einen Doppelnamen, doch „eigentlich“ ist er, wie er St. Arnaud erklärt, „,ein Leslie. Der Name Gordon ist erst durch Adoption in unsere Familie gekommen‘“ (141). Es kann nur eine einzige historisch verbürgte adelige Familie Leslie gemeint sein, da Gordon später die Gegend um den Lochleven-See als die „schottische Heimat meiner Familie“ bezeichnet (179): die Familie der Earls of Leven. Der erste Earl, Alexander Leslie (ca. 1580-1661), war Befehlshaber der schottischen Armee und besiegte Charles I. in den ‚Bischofskriegen‘. Er folgte, seinen Einsätzen nach zu urteilen, presbyterianischen und schottisch-royalistischen Überzeugungen. Dass er als überzeugter Presbyterianer nicht nur gegen die anglikanische, sondern ebenso gegen die reiche katholische Kirche eingestellt war, zeigt sich auch darin, dass er 30 Jahre unter Gustav Adolf von Schweden kämpfte. Der Presbyterianismus, eine besonders im 17. Jahrhundert erfolgreiche schottische Variante des Protestantismus, lehnte Pomp ab und trat für Schlichtheit in der Gottesverehrung ein. An die Stelle einer hierarchischen Kirchenorganisation mit Bischöfen als ,Hirten‘ setzten die Presbyterianer eine aus den Ortsgeistlichen bestehende Versammlung. Trotz ihrer demokratischen Organisationsform waren die Presbyterianer sehr doktrinär. Fontane kannte sie aus Walter Scotts Romanen, vor allem aus dem Herz von Midlothian und aus Old Mortality. Letzteres Werk trug in deutschen Übersetzungen auch den Titel Die Presbyterianer.

Gordons Abstammung von Presbyterianern verweist auf seinen zu hohen moralischen Anspruch und seine Verurteilung des Nicht-Tugendhaften. In Scotts Heart of Midlothian sind es die überzogenen Ansprüche des fanatischen Presbyterianers David Deans, die seine Tochter Effie ins Unglück stürzen (sie ist möglicherweise eines der Vorbilder für Effi Briest gewesen). Wäre David Deans weniger doktrinär und verständnisvoller gegenüber menschlichen Schwächen gewesen, hätte Effie ihm ihre Schwangerschaft beichten und ihr Kind zuhause bekommen können. Der Diebstahl des Neugeborenen, die Anklage wegen Kindsmords wären ihr erspart geblieben. Es ist bei Fontanes guter Kenntnis des Romans möglich, dass Gordon Züge von David Deans trägt. Gordons Heimat, den Lochleven-See, hat Fontane auf seiner Schottlandreise von 1859 besucht. Anlass ist wieder ein Roman Scotts gewesen: Der Abt. Das Schloss in der Mitte des Sees war einst das Gefängnis Maria Stuarts. Durch dieses Motiv wird Gordon bereits mit Cécile, als Fontanes Maria Stuart, in Verbindung gebracht.

Der Name Gordon kommt auch aus Schottland, seit 1682 sind die Gordons Earls of Aberdeen. Doch im Roman wird eine ganz andere Assoziation geweckt. Ein Berliner meint, nachdem Gordon seinen Namen kurz erklärt hat: „,Gordon-Leslie! […] Das ist ja der reine ,Wallensteins Tod‘“ (142). Ein Gordon war Kommandant der Festung von Eger.[32] In Schillers Werk ist dieser Gordon eine zwiespältige Persönlichkeit, die dem deutschen Kaiser unbedingt treu ist, die sich trotz ihrer Integrität aber von Buttler überreden lässt, den Mord an dem ,Kaiserverräter‘ Wallenstein zu dulden. Es ist daher eine zweifelhafte Schmeichelei, wenn St. Arnaud an die Verbindung zwischen Robert von Gordon-Leslie und Schillers Figur erinnert: „,Oberst Gordon, Kommandant von Eger, zähle zu den besten Figuren im ganzen Stück, und er glaube sagen zu können, die Tugenden desselben fänden sich in dem neuen Freunde seines Hauses vereinigt‘“ (245).

Der schottische Leslie stand auf der Seite des protestantischen Schwedenkönigs, der deutsche Gordon auf der des katholischen Kaisers. In dem Namen Gordon-Leslie hat Fontane also nicht nur zwei Nationalitäten, sondern auch zwei Glaubensgegensätze vereinigt. Fontanes Figur hat Züge eines glaubensstrengen Moralapostels, sie hat aber auch liberale Ansichten. Sie ist innerlich hin- und hergerissen zwischen Verständnis für und Verurteilung von Céciles Fehltritt. Zu der würdigen Position des protestantischen Hofpredigers Dörffel kann sich ein Gordon-Leslie nicht durchringen. Dem Namens-Motiv entspricht der Eindruck, den der Hofprediger von Gordon gewonnen hat. Dörffel hält Gordon für „klug“, „gewandt“ und „von untadliger Gesinnung“. Bezeichnenderweise schränkt er letzteres mit einem „ich glaube“ ein. Doch: „,Er hat, so lebhaft und sanguinisch er ist, einen eigensinnigen Zug um den Mund und ist mutmaßlich fixer Ideen fähig. Ich fürchte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, so will er auch mit dem Kopf durch die Wand. Das Schottische spukt noch in ihm nach. Alle Schotten sind hartköpfig‘“ (232).

Der Doppelname Gordon-Leslie steht also für die innerliche Gespaltenheit seines Trägers. Bezeichnenderweise hat Gordons Schwester der brieflichen Schilderung von Céciles moralischen Verfehlungen hinzugefügt: „,Da hast Du die St. Arnaud-Geschichte, hinsichtlich derer ich Dich nur noch herzlich und inständig bitten möchte, von Deiner durchgängerischen Gewohnheit ausnahmsweise mal ablassen und das Kind nicht gleich mit dem Bade verschütten zu wollen. Als Leslie-Gordon kennst Du natürlich Deinen Schiller und wälzst hoffentlich mit ihm, als ob es sich um Wallenstein in Person handle, die größere Schuldhälfte ,den unglückseligen Gestirnen‘ zu. Wirklich, mein Lieber, an solchen unglückseligen Gestirnen hat es im Leben dieser schönen Frau nicht gefehlt‘“ (253). Mit den „unglückseligen Gestirnen“ meint Klothilde keine übersinnlichen Kräfte, darin weicht sie von dem astrologischen Glaubensbekenntnis des Schillerschen Wallenstein ab. Klothilde geht es um konkrete soziale Umstände, die Céciles Verfehlungen verschuldet haben, ohne dass diese etwas dagegen hätte tun können. Doch wie Schillers Gordon durch Zweifel an der Unschuld Wallensteins dessen Tod mittelbar hervorruft, wird Robert von Gordon-Leslie durch seine Zweifel an Céciles Unschuld ihren und seinen Tod verursachen.

8. „Er war ein Stuart“: Gordon und Charles II.

Gordons innerer Zwiespalt zeigt sich auch darin, dass er Mätressenwirtschaft verurteilt, später aber sein Liebhaberrecht einfordert (274f.). Er misst mit zweierlei Maß. Bei dem Besuch des Quedlinburger Schlosses klagt der weitgereiste Gordon, als er die Bilder-„Galerie alter Prinzessinnen“ erblickt: solche Galerie der Schönheiten habe er schon oft gesehen, und alle hätten ihn zur Verzweiflung gebracht. „,Schon in ihrer Entstehungsgeschichte sind sie meistens beleidigend und ein Verstoß gegen Geschmack und gute Sitte. Denn wer sind denn die jedesmaligen Mäzene, Stifter und Donatoren? Immer ältliche Herren, immer mehr oder weniger mythologische Fürsten, die, pardon, meine Damen, nicht zufrieden mit der wirklichsten Wirklichkeit, ihre Schönheiten auch noch in effigie genießen wollen. Einer von ihnen […] ist mit seiner Galerie von Magdalenen – selbstverständlich von Magdalenen vor dem Bußestadium – allen anderen vorauf. Er war ein Stuart, wie kaum gesagt zu werden braucht. Aber unsere deutschen Kleinkönige sind ihm gefolgt und haben nun auch dergleichen‘“ (165).

Gordon reklamiert „Geschmack und gute Sitte“ für sich, schwingt sich zum Richter über Fürsten und Mätressen auf. Rosa entlarvt die Entrüstung als Schein: „,Ei, wie tugendhaft Sie sind‘, lachte Rosa. ,Doch Sie täuschen mich nicht, Herr von Gordon‘“ (165). Cécile ist plötzlich „angegriffen“, wohl weil sie Gordons Bemerkungen auf sich bezogen hat und sich schuldig fühlt. Diese Verbindung zu Céciles Vergangenheit, die Gordon und dem Leser noch unbekannt ist, weist auf spätere Ereignisse voraus. Der sich hier so „tugendhaft“ gebende Gordon wird sich tatsächlich versuchsweise als Don Juan gebärden.

Aufschlussreich ist es auch, dass Gordon auf Charles II. (den erwähnten „Stuart“) als größten Schürzenjäger verweist. Die vielen Affären und illegitimen Kinder des britischen Monarchen, der ab 1660 regierte und 1685 starb, sind historisch verbürgt. Dennoch hätte der Erzähler Gordon einen anderen Herrscher wählen lassen können. Beispiele bietet die Geschichte genug, z.B., um in Großbritannien zu bleiben, Henry VIII. Grund für die Wahl dürfte gewesen sein, dass Gordon und Charles II. beide schottischer Herkunft sind. Charles war ein Angehöriger der königlich-schottischen Stuart-Familie und Urenkel Maria Stuarts.

Nicht nur Gordon, auch Cécile ist zwischen „Neigungen“ und „Vorsätzen“ hin- und hergerissen (vgl. 222 für Gordon bzw. 264 für Cécile). Doch wird bei ihr das „Gefühl der Pflicht“ siegen (274), während Gordon sich seiner „Eifersucht“ und „Eitelkeit“ hingeben (273 u. 275) und sein Unrecht zu spät einsehen wird (281).

9. Cécile: Kinderseele und Naturkind

Céciles Wunsch nach einem „Märchen“ offenbart bereits viel von ihrer Disposition (131). Sie wünscht sich ein vollkommenes Glück, doch die Wirklichkeit ist weit davon entfernt, ihr dieses bieten zu können. Cécile interessiert sich nicht für Bildung (146f.), dafür aber umso mehr für die Natur. Sie selbst scheint ein Naturwesen zu sein, Blumen und Bäume scheinen ihre natürliche Umgebung zu bilden. Das zeigt sich beispielsweise, wenn sie den Nistplatz der Schwalben sehen möchte (134), oder wenn sie sich „nicht satt sehen“ kann „an der oft ganze Muster bildenden Blumen- und Farbenpracht“ der Harzlandschaft (158, ähnlich S. 186).[33] Sie sagt über sich selbst, dass ihr das Leben „ein Bilderbuch“ sei, in dem sie „blättere“: „,Über Land fahren und an einer Waldecke sitzen, zusehen, wie das Korn geschnitten wird und die Kinder die Mohnblumen pflücken, oder auch wohl selber hingehen und einen Kranz flechten und dabei mit kleinen Leuten von kleinen Dingen reden: einer Geiß, die verlorenging, oder von einem Sohn, der wiederkam, das ist meine Welt, und ich bin glücklich gewesen, solang ich darin leben konnte‘“ (261f.; Hervorhebung S.N.). Offenbar ist der Zustand des naiven Glücks für Cécile vorbei und sie sehnt sich dorthin zurück.

Cécile erinnert sich auch gern an die Zeit, die sie in den Bergen verbrachte. „Alpenglühn“ und „Ponyfahren“ bescherten ihr „schöne, himmlische, glückliche Tage“ (190). Die Naturverbundenheit wird auch deutlich in ihrer Einstellung zu Tieren, besonders zu Hunden. Sie interessiert sich für das „Denkmal für Hundetreue“ mehr als für die Geschichte des Quedlinburger Schlosses (163). Der „schöne (!) Neufundländer“ mit dem bezeichnenden Namen Boncoeur huldigt ihr nicht nur als Herrin, sondern stellt die Treue seiner Rasse unter Beweis, indem er ihre „Liebkosungen einer fruchtlosen Hasenjagd“ vorzieht (187). Diese Stellen sind, im Romankontext gesehen, eine bitterböse Kritik an den Menschen um Cécile, die weder Vertrauen noch Treue beweisen. Hunde sind ihnen in dieser Hinsicht überlegen. Bezeichnend ist, dass Boncoeur, als Gordon abreist, seinen Kopf in Céciles Schoß legt und dabei „sagen zu wollen“ scheint: „,Laß ihn ziehen; ich bleibe bei dir und – bin treuer als er‘“ (221). Das ist auch als Vorausdeutung auf Gordons späteres Verhalten zu verstehen. Die Zuneigung zu Boncoeur findet eine Parallele in Effi Briest und der Treue des Hundes Rollo, beide Hunde sind Neufundländer. Verblüffend ist die von der Forschung bisher nicht erkannte Fülle von Gemeinsamkeiten der Romane Cécile und Effi Briest.[34]

Worin besteht Céciles vielbeschworene Schuld? Gordon erkennt trotz der Eifersucht, die ihn nach Lektüre des alles enthüllenden Briefes zu überwältigen droht, dass Cécile sich unter den damaligen Umständen nicht anders hätte verhalten können: „,Ja, das entwaffnet! Großgezogen ohne Vorbild und ohne Schule und nichts gelernt‘“. Und: „,Arme Cécile! Sie hat sich dies Leben nicht ausgesucht, sie war darin geboren‘“ (255). Gordon verliert dennoch sein Vertrauen in Cécile, weil die Vorurteile in ihm stärker sind. Die internalisierten gesellschaftlichen Normen, zu denen auch St. Arnauds fanatischer und inhaltsloser Ehrbegriff zu zählen ist, führen schließlich zu Céciles und Gordons Tod.

10. „Lady Macbeth oder dergleichen“: St. Arnauds Grausamkeiten

Céciles Mann ist keineswegs der treusorgende Gatte, als der er sich gibt. Weshalb bemüht er sich aber um sie, umsorgt sie, obwohl das eigentlich nicht zu seiner rücksichtslosen Art passt und aufgesetzt wirkt? Die Lösung ist ganz einfach: St. Arnaud lebt von dem Geld seiner Frau. Darauf deutet bereits Gordons Feststellung hin, das Ehepaar sei „,noch auf dem Gut. Das will sagen: auf dem Gute der Frau. Denn Obersten haben keine Güter. Es gibt zwar Dotationen, aber die kommen erst später, wenn sie überhaupt kommen‘“ (227). Die Bedeutung dieses Satzes wird durch seine Stellung am Schluss des 17. Kapitels noch unterstrichen. Gordons Einschätzung erweist sich als richtig, wenn Dörffel später St. Arnaud Céciles letzten Willen mitteilt. Sie hat das Gut von ihren fürstlichen Liebhabern geschenkt bekommen, vermacht es St. Arnaud zu Lebzeiten und verfügt, dass der Besitz nach dem Tod ihres Mannes wieder an die Fürstenfamilie zurückfällt (284).

Es dürften Céciles Vermögen (das sie ihrer Mutter hinterlässt; 284) und die Einkünfte aus dem Gut sein, die es St. Arnaud erlauben, im Klub mit Beträgen in „unwissenschaftlicher Höhe“ zu spielen (238). Der sich über Fragen der Ehre ereifernde St. Arnaud pflegt eine Doppelmoral, er ist sich nicht zu schade, auf Kosten seiner Frau zu leben und ihr Geld zu verschwenden. St. Arnauds Ehrbegriff erweist sich als noch pervertierter, wenn man bedenkt, dass das Geld aus dem Vermögen jener Liebhaber stammt, deretwegen Cécile geächtet wird. Die Gesellschaft missbilligt aber nicht die Handlungsweise des früheren Offiziers, während Céciles Vefehlungen zu ihrer Ächtung führen.

Indem Cécile sich zum Schluss selbst tötet, übt sie also die einzige Form des Protestes und der Bestrafung St. Arnauds aus, die ihr möglich ist. Auch St. Arnaud wird dadurch zum Verlierer, denn er kann nun nicht mehr über das Vermögen seiner Frau verfügen. Seine Skrupellosigkeit ist ihm doch noch zum Verhängnis geworden.

St. Arnauds Verhalten gegenüber seiner Frau ist nur an der Oberfläche tadellos. Seine häufigen Beleidigungen gipfeln in einem Vergleich, der dem bedeutungsvollen Handkuss Gordons unmittelbar vorausgeht, diesen auch motiviert. St. Arnaud reicht der frierenden Cécile ein Plaid und merkt an: „,Herr von Gordon wird dich kunstgerecht damit drapieren; das ist er seinem Clan Gordon schuldig. Und dann haben wir dich als Hochlandserscheinung zwischen uns. Lady Macbeth oder dergleichen‘“ (214).[35] Durch diese Szene werden beide Ehepartner charakterisiert. Der Erzähler betont die ,Verwandschaft‘ Gordons und Céciles, er verlegt die geistige ,Heimat‘ der schönen Frau nach Schottland. Auf Figurenebene wirkt sich der Vergleich mit Lady Macbeth aber anders aus. St. Arnauds Bemerkung ist wenig schmeichelhaft. Er spielt an auf die aus Shakespeares Drama bekannte Königin, die erst ihren Mann zum Mord an König Duncan drängt und dann diese Schuld nur schwer ertragen kann. Die Bemerkung verweist auf Céciles Schuld am Tode Dzialinskis und verstärkt sie, so, als habe Cécile ihren Mann zum Duell angestiftet. Da St. Arnaud die Tat allein zu verantworten hat, ist sein Vergleich ebenso ungerecht wie beleidigend.

Allgemein zeichnet sich Céciles Gatte durch ein übersteigertes Selbstwertgefühl aus. Übersteigert, weil ihm seine „Ehre“ über das Leben von Menschen geht. Hat das Gespräch mit dem Altenbraker Präzeptor bereits St. Arnauds Selbstgenügsamkeit und Selbstgerechtigkeit deutlich werden lassen (207), so offenbart der Grund für seine Duellforderung an Gordon vollends, wie wichtig er sich selbst nimmt und wie wenig ihm andere bedeuten. Der Erzähler erläutert: „Nicht das Liebesabenteuer als solches weckte seinen Groll gegen Gordon, sondern der Gedanke, dass die Furcht vor ihm, dem Manne der Determiniertheiten, nicht abschreckender gewirkt hatte. Gefürchtet zu sein, einzuschüchtern […], das war recht eigentlich seine Passion“ (278). Nur weil er das „Anmaßliche“ dieses „Durchschnitts-Gordon“ nicht ertragen kann, bringt St. Arnaud ihn um.

Cécile ist ein weiterer Gegenstand von St. Arnauds Einschüchterungspassion. In diesem Licht kann man den Vergleich mit Lady Macbeth betrachten, der sich somit gegen St. Arnaud selbst kehrt, gegen den Typus des preußischen Militaristen, den er schon deshalb vertritt, weil er der einzige Militär im Roman ist. Sein repräsentativer Charakter zeigt sich darin, dass er „ein Gardebataillon kommandiert“ hat (169; Hervorhebung S.N.).

11. „Es war die schottische Königin“: Cécile und Maria

Gordons „schottische Heimat“ liegt in der Gegend des „Kinroß-Sees“.[36] Dem fügt er erläuternd und anzüglich hinzu: „,Maria Stuart saß da gefangen, in einem alten Douglas-Schlosse mitten im See, und wenn sie während dieser Gefangenschaftstage, neben der Liebe von Willy Douglas, eines beiläufig illegitimen, also doppelt verführerischen Sohnes des Hauses, irgend etwas getröstet haben kann, so müssen es die Lachsforellen gewesen sein‘“ (179). Ohne dass Gordon dies weiß, spielt er hier auf Céciles ,unmoralische‘ Vergangenheit an, der Roman zieht also eine Parallele zwischen ihr und Maria Stuart.

Als sich Gordon kurz vor seiner Abreise aus Thale fragt, woran ihn Cécile erinnert, stellt er einen bemerkenswerten Vergleich an, der das Motiv ergänzt: „,Ja, das ist es. Ich habe mal ein Bild von Queen Mary gesehen – ich weiß nicht mehr genau, wo: war es in Oxford oder in Hampton-Court oder in Edinburgh-Castle.[37] Gleichviel, es war die schottische Königin, meine arme Landsmännin. Etwas Katholisches, etwas Glut und Frömmigkeit und etwas Schuldbewußtsein. Und zugleich ein Etwas im Blick, wie wenn die Schuld noch nicht zu Ende wäre. Ja, daran erinnert sie mich. Und der alte Oberst! Nun! der könnte den Bothwell aus dem Stegreif spielen. Wahr und wahrhaftig. Ob er irgendeinen Darnley hat in die Luft fliegen lassen?‘“ (219).

Wenn Cécile Züge von Maria trägt und wie diese gefangen gehalten wird (von St. Arnaud), dann entspricht auf dieser symbolischen Verweisungsebene Gordon Willy Douglas. Auch Gordons Liebe zu Cécile wird, wie es bei Willy und Maria der Fall war, keine Zukunft beschieden sein. Gordon versucht Cécile durch den Verweis auf die Königin näher zu definieren, schreibt ihr einerseits katholische Frömmigkeit, andererseits Glut und Schuld zu, bleibt aber ratlos, welche Schlüsse er daraus ziehen soll.

Die hier entwickelte Charakteristik Maria Stuarts basiert auf Fontanes Kenntnis von Schillers Drama,[38] die historische Gestalt ist umstritten und war wahrscheinlich nicht so unschuldig, wie Schiller sie aus intentionellen Erwägungen gemacht hat. Schillers Maria trägt, wie Cécile, keine Schuld an dem blutigen Geschehen der Vergangenheit. Ihre Amme Hanna Kennedy stellt dies fest und will so die Schuldgefühle der an sich selbst zweifelnden Maria verringern: „Die Jugend mildert Eure Schuld. Ihr wart / So zarten Alters noch.“ Oder: „Ihr rächtet blutig nur die blut’ge Tat“, womit Hanna Danleys Mord an dem Sekretär Rizzio meint. Oder: „Ergriffen / Hatt Euch der Wahnsinn blinder Liebesglut, / Euch unterjocht dem furchtbaren Verführer, / Dem unglückselgen Bothwell – Über Euch / Mit übermütgem Männerwillen herrschte / Der Schreckliche […]“.[39]

St. Arnaud herrscht über Cécile wie Bothwell über Maria. Beide Männer morden, um ihren ,Besitz‘ zu verteidigen. St. Arnauds spätere Handlungsweise bestätigt, dass man ihn mit dem amoralischen Bothwell vergleichen kann. Maria hingegen gibt sich, wie Cécile auch, die Schuld an allem. Ihre Demut hebt die beiden Frauen von dem sie umgebenden Figurenkreis ab. Gordons Anmerkung „wie wenn die Schuld noch nicht zu Ende wäre“ deutet auf das tragische Romanende voraus und weist auf den passiven Charakter der angeblichen „Schuld“. Beide Frauen bereuen überdies ihre Vergangenheit, lassen sich nicht mehr verführen und gewinnen eine selbstverständlich wirkende moralische Integrität.

Wichtig ist auch Gordons Hinweis auf das „Katholische“ und die „Frömmigkeit“. Wenn zum Schluss Hofprediger Dörffel in seinem kühlen Brief an St. Arnaud Céciles letzten Willen wiedergibt, gesteht sie, „,daß ich, eine Konvertitin, meine letzten Gebete an ebendies Kreuz (ein katholisches, das sie Dörffel vermacht hat; S.N.) und aus einem katholischen Herzen heraus gerichtet habe‘“ (284). Der katholische Glaube hat Cécile „das Sterben leichter“ gemacht, auch darin gleicht sie Schillers Maria. Diese Stelle, der wegen ihrer Platzierung am Romanschluss ganz besondere Bedeutung zukommt, soll nicht den katholischen Glauben propagieren. Es geht wie bei Schiller nicht um den Glauben selbst, denn sonst müsste man fragen, weshalb eine gläubige Cécile die Todsünde des Selbstmordes begehen und sich so vom Himmel ausschließen konnte. In England und Preußen ist der Protestantismus Landesreligion, somit dient die Wahl des Katholizismus auch dazu, die Andersartigkeit und letztlich die Idealität von Maria bzw. Cécile zu betonen.

Beide Frauenfiguren büßen freiwillig für eine Schuld, die sie nicht zu verantworten haben. Schillers Maria wird wegen einer nicht von ihr zu verantwortenden Verschwörung gegen die englische Königin Elisabeth hingerichtet. Doch nimmt sie das Todesurteil auf sich als gerechte Strafe für ihre Mitschuld am Tode Darnleys: „Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod / Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen.“[40] Indem der Roman eine Parallele zwischen Cécile und Schillers Maria zieht, wird Cécile von moralischer Schuld freigesprochen.

12. Die andere Effi

Cécile und Effi verfallen aber nicht nur dem Verdikt der Gesellschaft in der Fiktion, sondern interessanterweise auch (in Teilen) der Forschung des 20. Jahrhunderts. Dabei werden beide Figuren in sehr jungen Jahren verführt, dann aber für den Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung verantwortlich gemacht. Cécile zieht als erfahrene und verheiratete Frau sogar eine deutliche Grenze, ohne dass es ihr etwas nutzen würde. Die „männliche Herrschaft“ (Pierre Bourdieu)[41] ist stärker und kann offenbar nur durch den Tod der Protagonistinnen gesühnt werden. Doch auch männliche Figuren werden Opfer dieser Ordnung, die vor allem, aber nicht nur Frauen unterdrückt.

Am Ende gibt es nur Verlierer. Die selbstverständliche Unerbittlichkeit, mit der alles geschieht, ist das eigentliche Skandalon der Romane. Beide zeigen eine patriarchalische Gesellschaft, die – um einen zum geflügelten Wort geronnenen Satz aus Georg Büchners Drama Dantons Tod abzuwandeln[42] – ihre eigenen Kinder frisst. Und beide Romane sind, weil sie auf diese Weise provokativ die Frage stellen, in welcher Gesellschaft Individualität denn (im Wortsinn verstanden) lebbar wäre, heute so aktuell wie damals. Zwar haben sich für viele Bürger westlicher Gesellschaften die Rahmenbedingungen deutlich verbessert, doch gibt es immer noch genug Missbrauch von Macht und menschenfeindliche Normen, die etwa ein sozial und ökonomisch gleichberechtigtes, selbstbestimmtes Leben zumindest erschweren.

Anmerkungen

[1] Vgl. etwa folgende Seite: Effi Briest, T. Fontane. Landesabitur Deutsch. Aktuelles Prüfungsmaterial. URL: http://www.schule-studium.de/Deutsch/Landesabitur-Deutsch/Effi-Briest-Landesabitur-Inhaltlicher-Schwerpunkt.html (abgerufen am 7.11.2019).

[2] Vgl. Stefan Neuhaus (Hg.): Effi Briest-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2019.

[3] Vgl. Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. 2., durchgesehene Aufl. Stuttgart: Metzler 1980.

[4] Der nachfolgende Text ist eine stark gekürzte und leicht überarbeitete Fassung des Kapitels zu Cécile aus: Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien. Frankfurt/Main u.a.: Lang 1996 (Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur, Bd. 19), S. 260-289. Auch wenn spätere Arbeiten teilweise ebenfalls zu ähnlichen Beobachtungen gekommen sind, wird darauf verzichtet, solche Verweise auf die jüngere Forschung einzuarbeiten – eben weil diese Arbeiten zeitlich später liegen und damit die Voraussetzungen einer Beschäftigung mit dem Roman andere werden. Dennoch haben, so meine ich, der Appell für den Roman und die hier entwickelte Begründung nichts von ihrer Aktualität verloren.

[5] Peter Uwe Hohendahl: Theodor Fontane: Cécile. Zum Problem der Mehrdeutigkeit. In: Germanisch-Romanische Monatssschrift. Neue Folge, Bd. 18, 49. Bd. der Gesamtreihe (1968), S. 381-405, hier S. 381.

[6] „Unter den Gesellschaftsromanen Fontanes hat bislang Cécile die geringste Beachtung gefunden.“ Gerhard Friedrich: Die Schuldfrage in Fontanes Cécile. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 14. Jg. (1970), S. 520-545, hier S. 520.

[7] Um nur zwei zu nennen: Alan Bance: The Major Novels. Cambridge: Cambridge University Press 1982 (Anglia Germanica Series, Bd. 2); Jost Schillemeit: Theodor Fontane. Geist und Kunst seines Alterswerks. Zürich: Atlantis 1948.

[8] Vgl. z.B. Sylvain Guarda: Theodor Fontanes Cécile: Die Weihe des „Augen-Blicks“ als geheimnisvolles Schauspiel. In: Michigan Germanic Studies 16 (1990), S. 128-149, hier S. 141.

[9] Müller-Seidel: Theodor Fontane: Soziale Romankunst in Deutschland, S. 182. Ein sehr früher, allerdings folgenlos gebliebener Hinweis darauf findet sich bereits 1887 in der Rezension von Paul Schlenther: „Cécile“.

[10] Vgl. Magdalene Heuser: Fontanes Cécile. Zum Problem des ausgesparten Anfangs. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 92 (Sonderheft Theodor Fontane) (1973), S. 36-58, hier S. 53f.

[11] Hohendahl: Th. Fontane: Cécile, S. 399.

[12] Vgl. ebd., S. 385.

[13] Friedrich: Die Schuldfrage in Fontanes Cécile, S. 523. Ähnlich Gottfried Radisch: Studien zu Fontanes Cécile. Göttingen 1961 (Masch.), S. 153. Vgl. auch den Hinweis auf die „schuldvolle Unschuld“ in der 1887 erschienenen Rezension von Paul Schlenther: Cécile. In: Vossische Zeitung Nr. 241 v. 27.05.1887.

[14] Vgl. Müller-Seidel: Theodor Fontane: Soziale Romankunst in Deutschland, S. 196.

[15] Guarda: Theodor Fontanes Cécile, S. 142.

[16] Vgl. Ursula Schmalbruch: Zum Melusine-Motiv in Fontanes Cécile. In: Text und Kontext, Bd. 8/1 (1980), S. 127-144, hier S. 138.

[17] Inge Stephan: „Das Natürliche hat es mir seit langem angetan.“ Zum Verhältnis von Frau und Natur in Fontanes Cécile. In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Natur und Natürlichkeit. Stationen des Grünen in der deutschen Literatur. Königstein/Ts.: Athenäum 1981, S. 118-149, hier S. 141.

[18] Winfried Jung: „Bilder, und immer wieder Bilder…“ Bilder als Merkmale kritischen Erzählens in Theodor Fontanes Cécile. In: Wirkendes Wort, 40 Jg. (1990), S. 197-208, hier S. 207.

[19] Brief an Adolf Glaser vom 25. April 1885. In: Richard Brinkmann, in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen: Theodor Fontane. 2 Bde. München: dtv 1973. Bd. 2, S. 349; hinter dem Datum steht ein „?“.

[20] Brief an Emilie vom 19. Juni 1884. In: Ebd., S. 348.

[21] Brief an Friedrich Fontane vom 29. März 1886. In: Ebd., S. 352.

[22] Vgl. Wandrey: Theodor Fontane, S. 209.

[23] Brief an Colmar Grünhagen vom 10. Okt. 1895. In: Brinkmann (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 2, S. 357.

[24] Stephan: „Das Natürliche hat es mir seit langem angetan“, S. 142.

[25] Brief an Colmar Grünhagen vom 10. Okt. 1895. In: Brinkmann (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 2, S. 358.

[26] Theodor Fontane: L‘Adultera. Cécile. Hg. v. Edgar Groß. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1959 (Sämtliche Werke, Bd. 4), S. 129. – Dieser Band wird im Text nur noch unter Angabe der Seitenzahl zitiert.

[27] Es lassen sich weitere Stellen finden, die deutlich machen, dass die Eheleute kein so trautes Paar sind, wie sie zu sein scheinen. Vgl. z.B. den Erzählerkommentar auf S. 187: „Cécile lächelte. Solche Huldigungsworte taten ihr wohl, auch wenn sie von St. Arnaud kamen.“

[28] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 2005 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd. 4), S. 350.

[29] Vgl. Stephan: „Das Natürliche…“, S. 134f. Stephans Argumentation ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil Gordon später Cécile verfolgen wird und nicht umgekehrt.

[30] Eine ähnliche Funktion hat die Szene im Berliner Glaspavillon, als Gordon die beiden Berliner wiedersieht. Diesmal sind sie in Begleitung ihrer Frauen, tuscheln über Gordon und setzen „sofort Anstandsgesichter“ auf (228), wohl weil sie Gordon für Céciles Liebhaber halten und sein Tun öffentlich missbilligen wollen. Gordons kurzes Gespräch mit dem Wirt entlarvt das Verhalten der Berliner als Ausdruck einer Doppelmoral: Sie geben sich zuhause und vor ihren Frauen „vernünftig“, weil dort der gesellschaftliche Zwang auf sie wirkt. Auch diese Szene ist also eine deutliche Kritik an der herrschenden gesellschaftlichen Doppelmoral.

[31] Dieses Gespräch zwischen Rosa, Gordon, Cécile und St. Arnaud bestätigt erneut den Charakterunterschied zwischen den Ehepartnern. Der Oberst quittiert die wenig gebildeten Bemerkungen Céciles mit einem „nervösen Zucken um den Mund“ (146).

[32] Und zwar zusammen mit einem Leslie. Gordon allein ist aber als Figur in Schillers Wallenstein-Trilogie eingegangen. Fontanes Namenwahl „Leslie“ dürfte also, wie der Hinweis auf Lochleven gezeigt hat, nichts mit diesem zweiten, unbekannteren Festungskommandanten zu tun haben.

[33] Dazu gehört, dass Céciles „Lieblingsplatz“ (258) in Berlin der Balkon ihrer Wohnung ist, auf dem sie sich auch fast immer aufhält, wenn Gordon sie besucht. Vgl. die Schilderung der von dem Balkon aus einsehbaren Gärten als Naturidylle auf 231f.

[34] Vgl. Stefan Neuhaus: Effi und Cécile: Bezüge zu Figuren und Motiven in Fontanes Werk. In: Ders. (Hg.): Effi Briest-Handbuch. Stuttgart: Metzler 2019, S. 68-72.

[35] Gerhard Friedrich hat kurz auf diese Stelle hingewiesen und wie folgt kommentiert: „Cécile, die sich am Tode Dzialinskis schuldig fühlt, muß sich von der Erwähnung der schottischen Königin, die sich vergeblich bemüht, das Blut des ermordeten Duncan von ihren Händen zu waschen, zutiefst abgestoßen fühlen“ (Friedrich: Die Schuldfrage in Fontanes Cécile, S. 533).

[36] Gordon meint Lochleven unweit des kleinen, nördlich von Edinburgh gelegenen Städtchens Kinross, und das sich auf einer Insel in der Mitte des Sees erhebende Lochleven Castle, in dem Mary Queen of Scots von Juni 1567 an für ein Jahr lang eingesperrt war, bis sie mit Hilfe von Willy Douglas auf abenteuerliche Weise entkommen konnte. Vgl. hierzu: Her Majesty’s Stationery Office (Hg.): Lochleven Castle. Edinburgh 1984, S. 7f. Vgl. auch Fontanes Schilderung seines Schlossbesuchs in dem Kapitel „Lochleven Castle“ von Jenseit des Tweed (Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Hg. v. Edgar Groß. München: Nymphenburger 1959-1975, Bd. 17, S. 418-426).

[37] Fontane kannte diese Orte und Bilder aus eigener Anschauung. Vgl. Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Hg. v. Edgar Groß. München: Nymphenburger 1959-1975, Bd. 17, S. 427-450 (Oxford), 122-133 (Hampton Court) und 220-227 (Edinburgh Castle).

[38] Winfried Jung hat bereits einen Hinweis gegeben: „Für den Leser wird die Anspielung auf das literarische Muster (Schiller!) zu einer Deutungsmöglichkeit für das Problem von Schuld und Sühne. Das Motiv der Schuld aber verdeutlicht, wie stark der Zwang für Cécile ist, die einmal bereitgestellte Rolle spielen zu müssen.“ Vgl. Jung: „Bilder, und immer wieder Bilder…“ Bilder als Merkmale kritischen Erzählens in Theodor Fontanes Cécile, S. 206.

[39] 1. Aufzug, 4. Auftritt. Zitiert nach: Friedrich v. Schiller: Maria Stuart. Die Jungfrau von Orleans. Hg. v. Benno v. Wiese u.a. Weimar 1948. (Werke. Nationalausgabe, i.A. des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums hg. von Julius Petersen u.a. 9. Band.) S. 14f.

[40] Ebd., S. 150 (Stelle im 5. Aufzug, 7. Auftritt).

[41] Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Übersetzt von Jürgen Bolder. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005.

[42]Danton. Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eigenen Kinder.“ Georg Büchner: Werke und Briefe. München: dtv 1980 (Literatur – Philosophie – Wissenschaft), S. 22.