„Das Klassische nenne ich das Gesunde …“

Krankheitsbilder in Fontanes erzählter Welt

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

„Die Physik des neunzehnten Jahrhunderts mit ihren bahnbrechenden Erkenntnissen im Gebiete der Mechanik, der Elektrizitätslehre, der Thermodynamik oder der Optik bezeichnen wir heute ohne jeden Bezug zum Weltbild der Antike als klassische Physik – im Unterschied zur modernen Physik der Quantentheorie oder der Relativitätstheorie.[1] Daß die ältere Physik nicht durch die neue abgelöst wird, sondern in gewissen Grenzen ihre Geltung behält, ändert an der Feststellung nichts, daß man solche Unterscheidungen vorgenommen hat.[2] Sie sind weder Zufall, noch sind sie Mode, sondern haben sich offensichtlich als notwendig erwiesen – als Folge eines Umdenkens und einer Veränderung der Denkweise, die man in der Geschichte der Physik als Paradigmawechsel bezeichnet.[3] Ein solches Umdenken gibt es um 1900 auf nahezu allen Gebieten des geistigen und sozialen Lebens. Die Umorientierung hundert Jahre zuvor ist damit vergleichbar, aber anders beschaffen. Um 1800 stehen Ansehen und Geltung der Antike noch durchaus im Vordergrund. In den ,,Querelles des Anciens et des Modernes“ hatte diese Auseinandersetzung begonnen. Schillers Abhandlung ,,Über naive und sentimentalische Dichtung“ wie Friedrich Schlegels Programmschrift ,,Über das Studium der griechischen Poesie“ stehen noch durchaus in dieser Tradition – mit dem Ziel, einer modernen Poesie ihr Eigenrecht zu sichern.[4]

Das von Goethe am Ende seines Lebens eingeführte Begriffspaar – die Unterscheidung zwischen dem Klassischen als dem Gesunden und dem Romantischen als dem Kranken – bedeutet in der Sache nichts Neues; aber neu sind die Ausdrücke und Akzente, die er setzt. Von dem 1829 mit Eckermann geführten Gespräch ist die Rede. Man unterhält sich über die neuesten französischen Dichter und die Bedeutung von klassisch und romantisch; in diesem Zusammenhang heißt es: ,,,Mir ist ein neuer Ausdruck eingefallen‘, sagte Goethe, ,der das Verhältnis nicht übel bezeichnet. Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist.“[5] Daß Eckermann dieses Gespräch zutreffend wiedergegeben hat, bestätigen die ,,Maximen und Reflexionen“. Hier wird in apodiktischer Verkürzung wiederholt, was gegenüber Eckermann schon gesagt worden war. ,,Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“, heißt es nunmehr.[6] Die Wertung zugunsten des Gesunden ist unüberhörbar, und daß Goethe im Gebrauch solcher Begriffe auch an Darstellungen von Krankheitsfällen in der Literatur denkt, geht aus einer Gruppe der Maximen hervor. In ihr wird das Gräßliche in neueren Produktionen beklagt, und Goethe ist der Auffassung, daß uns in diesem Punkt die Engländer und Franzosen noch übertreffen. ,,Körper, die bei Leibesleben verfaulen und sich in detaillierter Betrachtung ihres Verwesens erbauen, Tote, die zum Verderben anderer am Leben bleiben und ihren Tod am Lebendigen erhärten: dahin sind unsere Produzenten gelangt!“ Wenn derartige Erscheinungen in der Antike vorkämen, fährt er fort, so blieben sie auf seltene Krankheitsfälle beschränkt, während sie bei den Neueren endemisch und epidemisch geworden seien.[7]

Man kam mit dieser etwas schroffen Gesundheitslehre partiell einverstanden sein. Krankheit, welche es auch sei, bezeichnet stets einen Mangel, einen Defekt, daher ist sie nicht begehrenswert, ist sie kein Wert. Aber Krankheiten können auch etwas Heilsames sein. Sie sind nicht das Übel schlechthin, so wenig das Altern lediglich als ein Prozeß des Verfalls und der Erstarrung zu verstehen ist. Krankheit wie Altern haben in sich einen Sinn, den man theologisch, philosophisch oder biologisch begründen kann. Die um jeden Preis Gesunden sind nicht unbedingt die sensibelsten Menschen, die man sich denken kann. Krankheit schließt „Geistiges“ nicht aus, und das Gesunde als das Kraftvolle und Starke kann uns verdächtig werden, wenn man mit solchem Lobpreis in erster Linie das Recht des Stärkeren verficht, wofür es Beispiele genug in der Weltgeschichte gibt. An den Sozialdarwinismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat man vor allem zu denken.[8] Die Einstellung gegenüber dem Kranken und Gesunden reicht in ihrer Bedeutung über medizinische oder ästhetische Fragen weit hinaus. Sie betrifft unser Weltbild im ganzen. „Krankheit, Unnatur“, hat Peter Szondi bemerkt, „das sind Urteile, die übers Ästhetische weit hinausgreifen, und nicht bloß ein Kunstwerk als schlechtes verwerfen, sondern den Weg bahnen zu einem Verdikt, von dem das Lebensecht des Künstler selber ereilt wird […]. Das beginnt mit der Verdammung der französischen Klassik als naturferner Kunst, führt zu Goethes Urteil über die Kleistsche Dichtung als Zeichen von Krankheit, von Hypochondrie, und mündet in die Barbarei, in der, was der eigenen Vorstellung vom Gesunden sich nicht fügt, als entartet verfolgt wird.“[9] So oder so: Das Gesunde wie das Kranke sind Begriffe, mit denen sich Auffassungen, Einstellungen und Verhaltensweisen des Menschen verbinden, die sich wandeln. Auch Goethes Unterscheidung zwischen dem Klassischen und Romantischen kann daher nicht als ein zeitlos gültiges Dictum aufgefaßt werden. Auf keinen Fall ist damit seine eigene Dichtung charakterisiert, die Pathologisches wiederholt einbezieht: in Gestalten wie Tasso, Orest, Mignon oder den Harfner. Die Ottilie der ,,Wahlverwandtschaften“ ist eine überaus gefährdete Natur und denkbar weit entfernt, ein Inbegriff des Kraftvollen und Starken zu sein. Die Phänomene, dürfen wir folgern, sind ambivalent, und sie sind so leicht nicht auf die Begriffe zu bringen, die Goethe in jenem Gespräch mit Eckermann eingefallen sind.

Vor allem aber sind sie im Hinblick auf Entwicklungen im neunzehnten Jahrhundert vor Mißbrauch zu schützen. Das gilt vom Gesunden als dem Starken und Kraftvollen in besonderer Weise, weil in einem Zeitalter des sozialen Aufstiegs, des Erfolgs, der Konkurrenz und des beginnenden Rassenwahns solche Begriffe leicht eine soziale oder unsoziale Färbung erhalten können. Erfolg, Leistung und Tüchtigkeit als Äußerungsformen eines allemal gesunden Lebens sind gewiß Werte, ohne die eine Gesellschaft nicht auskommt. Aber wo man sie einseitig und ohne Einschränkung propagiert, gerinnen sie rasch zu Ideologie. Solche Tendenzen sind um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in bestimmten Kreisen des Realismus unverkennbar. Es handelt sich um einen Realismus besonderer Art, um den programmatischen Realismus, wie man ihn in neuerer Forschung nennt.[10] Seine Wortführer sind Julian Schmidt und Gustav Freytag. Sie sind zugleich die Herausgeber der einflußreichen Zeitschrift „Die Grenzboten“, die aus dem literarischen Leben der zweiten Jahrhunderthälfte nicht wegzudenken ist. In der literarischen Kritik dieser im engeren Sinne bürgerlichen Realisten sind das Gesunde und Kranke zentrale Begriffe. Julian Schmidt vor anderen nimmt wörtlich, was Goethe in jenem Gespräch gegenüber Eckermann geäußert hat. Seine Denunzierung des Romantischen als des Kranken ist ohne vergleich. Der Dichter Achim von Arnim ist für ihn „ein Spuk für nervenschwache Seelen, eine Fratze für die Gesunden“.[11] „Daß Kleist latenter Wahnsinn vergiftet habe, ist er überzeugt.[12] ,,Er hat mit Arnim, Brentano und Hoffmann die poetische Anlage und die krankhafte Richtung des Gemüthes gemein.“[13] E.T.A. Hoffmanns Märchen „Der goldene Topf“, eine seiner liebenswürdigsten Dichtungen, wird gar als Phantasie eines Fieberkranken herabgesetzt und abgetan.[14]

Tragik in der Tragödie ist nur zugelassen, wenn sie sich als etwas Gesundes ausweisen, so daß es in einer Rezension heißen kann: „Die Freude am Tragischen, soweit sie gesund und berechtigt ist, beruht lediglich auf der Freude an der Kraft, die eine starke Seele dem feindseligen Schicksal gegenüber entwickelt.“[15] „Schon gar nicht dürfe es gestattet werden, den Wahnsinn in einem Kunstwerk zum Thema zu machen, wie es Büchner getan hat: „Ich halte den Versuch, den Wahnsinn darzustellen“, heißt es mit Beziehung auf dessen Erzählung ,,Lenz“, ,,für den Einfall einer krankhaften Natur. Die Darstellung des Wahnsinns ist keine künstlerische Aufgabe, denn der Wahnsinn als die Negativität des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz […]. Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie.“[16]

Wahnsinn dürfe in schöner Literatur ebenso wenig behandelt werden wie Lazarett oder Folter. Wo es dennoch geschieht, wird eine solche Literatur als Lazarettpoesie abgefertigt.[17] Es leuchtet ein, wenn von einem so verstandenen Realismus her auch Arthur Schopenhauer und seiner Philosophie der Prozeß gemacht wird. Gustav Freytag nennt ihn einen elenden Gesellen, und Rudolf Haym bringt es fertig, ihn in den „Preußischen Jahrbüchern“ als gemeingefährlich abzukanzeln.[18] Kein Zweifel: Es ist der noch ungebrochene, aber auch schon unerträglich gewordene Fortschrittsoptimismus, der nicht wenigen dieser Autoren die Feder führt. Auch Wilhelm Scherer, den man ganz gern den Begründer oder Mitbegründer der deutschen Germanistik nennt, zählt zu ihnen, wenn er 1874 in einem Vortrag über Hölderlin mit dem Weltschmerz Schopenhauers abrechnet und den im bürgerlichen Leben erfolglosen Dichter in diese Abrechnung gleich miteinbezieht: Es sei ihm unbegreiflich, führt Scherer aus, daß die Lehre dieses Philosophen überhaupt noch Anhänger finden könne – ,,in dieser herrlichen Zeit, in der täglich so viel neues Leben erwacht, in der unzählige Kräfte sich regen, in der alle Wissenschaften kühn vordringen wie auf geebneter Bahn, in der sehnsüchtige Wünsche von Jahrtausenden sich zu erfüllen beginnen […]. Nein, unter uns ist kein Raum mehr für den Weltschmerz. Was will da Schopenhauer? Aber auch: was will da Hölderlin?“ Er sei, heißt es im Fortgang dieser bitteren Rede, ,,keine dauernde Lectüre für einen vollen heutigen Menschen“.[19]

Von solchen Auffassungen und Denkweisen sind die großen Erzähler des poetischen Realismus zu unterscheiden. Fontane wie Raabe haben Schopenhauer als einen ernst zu nehmenden Denker schätzen gelernt, ehe ihn Nietzsche in seiner bekannten Schrift als Erzieher vorstellt. Sie hatten sich daher im Kreis der „Grenzboten“ auch vielfach Kritik gefallen zu lassen. Wenige Jahre vor seinem Tod hat es Raabe ausgesprochen: „Ich bin ja völlig todtgeschwiegen worden […]. Nehmen Sie zum Exempel die ,Grenzboten‘, das Leib und Herzblatt der gebildeten deutschen liberalen Bourgeoisie. Die redigierte bis 1870 Herr Gustav Freytag. Für alles hat er ein Wort und seine Schreiber gehabt. Doch voll der Chronik bis zum Schüdderump, – von 1856 bis 1870, ist mein Name nicht ein einziges Mal in dem Blatt genannt worden. Ebenso war es mit den Preußischen Jahrbüchern […]. Ich paßte den Herren eben nicht in ihren Kram! es war nicht allein die Menge, die nichts von mir wissen wollte!“[20] Fontane erging es kaum anders. Eine Erzählung wie „Schach von Wuthenow“, die mit dem Freitod eines preußischen Offiziers endet, war in diesen Kreisen nicht hinzunehmen. Man vermißt ,,Empfindung für das poetisch Ergreifende und künstlerisch Gesunde“, heißt es in einer Rezension der ,,Grenzboten“.[21] Abermals die Kategorie des Gesunden, die ,,Gesundmeierei“, wie man sie genannt hat![22] Auf dem Weg von der Klassik zur Moderne ist unverkennbar ein Wandel im Verständnis solcher Begriffe zu verfolgen, der die Literatur nachhaltig beeinflußt und verändert, wie an Fontanes Krankheitsbildern gezeigt werden soll. Mit dem Weltbild der ,,Grenzboten“, in denen es vorrangig auf Arbeit, Erfolg und Tüchtigkeit wie in ,,Soll und Haben“ ankommt, stimmt keiner der großen Erzähler des poetischen Realismus überein, Theodor Storm natürlich eingeschlossen. Ihre Erzählkunst erweist sich gegenüber einem solchen „Weltbild“ als vielschichtig und komplex. Manches in der Darstellung des Abseitigen, Sonderbaren und Abnormen, so vor allem bei Raabe, aber auch bei Storm, deutet schon auf die Modere voraus, was nicht ausschließt, daß man sich nur vorsichtig von den Vorbildern und Mustern der deutschen Klassik entfernt.[23] Versöhnung und Verklärung bleiben auch an der Schwelle zum Naturalismus Begriffe, die man sich so leicht nicht nehmen läßt. Zahlreiche Fragen werden aufgeworfen, aber Gott und Welt werden nicht von Grund auf in Frage gestellt.

Das gilt zumal vom Verhältnis dieser Erzähler zur Wissenschaft allgemein und zur ärztlichen Wissenschaft im besonderen. Zwar wird ihr kaum je aus jener Fortschrittsgläubigkeit heraus gehuldigt, wie es in Zolas Roman „Le Docteur Pascal“ noch einmal geschieht. Vor allem Raabe bezieht moderne Wissenschaft wie das beginnende – oder begonnene – Industriezeitalter in seine gesellschaftskritische Erzählkunst ein, ohne seine Skepsis gänzlich zu verbergen. Im Roman Fontanes sind die gelegentlich vorkommende Quacksalberei, wie in den abschließenden Kapiteln des ,,Stechlin“-Romans, humoristische Episoden; und weithin unproblematisch im Unterschied zu den Arztgestalten Döblins, Schnitzlers, Benns oder Kafkas werden auch die Ärzte dargestellt, wo es sie gibt. Das Erscheinungsbild dieses Berufsstandes nimmt sich im poetischen Realismus noch durchaus wohlwollend und freundlich aus. Der junge Arzt in Stifters „Mappe meines Urgroßvaters“ ist eine solche Gestalt. Er hat sich auf der hohen Schule in Prag der ,,Heilwissenschaft“ gewidmet, ist zum ,,Doktor der hohen Kunst“ ernannt worden und der ,,Zunft der Heilmänner“ nunmehr einverleibt, wie bezeichnende Wendungen lauten.[24] Diesem Erscheinungsbild scheint eine der eindrucksvollsten Arztgestalten im Werk Wilhelm Raabes, sein Geheimrat Feyerabend in der Fragment gebliebenen Erzählung ,,Altershausen“, am wenigsten zu entsprechen. Die Wiederbegegnung mit dem von Schwachsinn gezeichneten Jugendfreund, der auf der Entwicklungsstufe eines Kindes stehengeblieben ist, macht ihn und macht uns betroffen. Aber gerade dadurch gewinnt er erst recht die Sympathie der Leser. Von Spannungen zwischen Literatur und aufstrebender Wissenschaft kann kaum die Rede sein. Die Aufwertung des Arztberufes in der Romantik, vor allem durch Schelling, wirkt offensichtlich fort.[25] Dementsprechend wird auch der die Hauptgestalt behandelnde Arzt in Fontanes erstem Roman „Vor dem Sturm“ vorgestellt. Es ist dies der alte Leist, von dem gesagt wird, daß er „wie alle Doktoren […] gerne sprach und Anekdoten erzählte“.[26] Ein Arzt also, wie er im Buche steht – im Buch eben des poetischen Realismus. Auch der Vater des unglücklichen Helden in Raabes „Akten des Vogelsangs“ „war ein echter und gerechter Vorstadtdoktor, ein gutmütiger Mensch und ein guter Arzt“, wie wir hören.[27] Dem heutigen Leser mag auffallen, daß einige dieser Ärzte mit Titeln bezeichnet werden, die uns etwas altmodisch vorkommen. Sie heißen Amtschirurgus (wie bei Storm), Physikus oder Kreisphysikus. In ,,Effi Briest“ wird unter den Ärzten in Kessin beiläufig ein aus Lissabon stammender Wundarzt namens Beza erwähnt, von dem gesagt wird, daß er eigentlich bloß Barbier sei. In demselben Roman ist aber auch die Rede von dem modernen Spezialisten im Gebiete der Medizin, dem Professor der Augenheilkunde Kar1 Schweigger, den Effis Mutter aufsucht und den Fontane als eine historische Figur der Zeitgeschichte in seine erzählte Welt übernimmt. Solche Wandlungen vom Barbier über den Wundarzt bis zum modernen Facharzt hin, wie sie sich innerhalb eines Menschenlebens vollzogen haben, sind geeignet, die verbreitete Sympathie für einen Berufsstand zu erklären, dem in dieser Epoche ein noch weithin uneingeschränktes Vertrauen entgegengebracht wird.[28] Sie gehören daher im Roman Fontanes auch nur selten zum Kreis der Personen, die an den Geselligkeiten teilnehmen und der Gesellschaftskritik ausgesetzt werden; und wenn sie dennoch einmal über bloße Erwähnungen hinaus Kontur gewinnen, so haben sie zu der Gesellschaft, der sie angehören, ein zumeist distanziertes Verhältnis, als stünden sie wenigstens zum Teil schon außerhalb ihres Bereichs – wie Doktor Sponholz im ,,Stechlin“ oder Geheimrat Rummschüttel in ,,Effi Briest“, eine der denkwürdigen Gestalten, die wir Fontane verdanken.

Dieser Arzt wird zu einer das Geschehen überragenden Figur in dem Maße, in dem die Ehegeschichte in eine Krankengeschichte übergeht. Wenn Effi während der Wohnungssuche in Berlin krank spielt, um nicht noch einmal nach Kessin zurückkehren zu müssen, wird er wegen angeblicher Neuralgien konsultiert; und sofort durchschaut er die Schulkrankheit, wie er sie nennt.[29] Man zieht ihn im Hause Innstetten erneut heran, als nach siebenjähriger Ehe ein zweites Kind noch immer auf sich warten läßt, das man erhofft; denn er war, wie uns versichert wird, „auf dem Gebiete der Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf“.[30] Seine Verordnung – „Also zunächst Schwalbach, meine Gnädigste, sagen wir drei Wochen und dann ebenso lange Ems“ – erhält eine im Fortgang des Geschehens schicksalhafte Bedeutung; denn eben während dieser Kur werden die Briefe entdeckt, die den Stein ins Rollen bringen, so daß alles ablaufen kann, wie es vorgezeichnet scheint. Aber gerade gegenüber solchen Determinationen, um die es sich offensichtlich handelt, erweist sich dieser Arzt überlegen, indem er den Mechanismus solcher Abläufe durchbricht. In der Vereinsamung, in der sich die aus der Gesellschaft verstoßene Frau nach der Scheidung befindet, ist er fast der einzige, der ihr helfend und beratend zur Seite steht – eine Persönlichkeit von menschlichem Format! Denn als er erkennt, welchen Verlauf die Krankheit nehmen wird, setzt er sich über alle gesellschaftlichen Rücksichten hinweg und schreibt den Brief, der zu den bewegendsten Briefen Fontanes gehört, obwohl wir es natürlich mit einem fiktiven Text zu tun haben, keinem ,,wirklichen“, und er schreibt ihn ganz richtig an Effis Mutter, die gemeint hatte, die Tochter wegen des Vorgefallenen nicht mehr in ihr Haus aufnehmen zu können. Die gesellschaftliche Konvention wird gewahrt; dennoch reicht dieser Brief in Ton und Inhalt über alles bloß Gesellschaftliche weit hinaus, wenn es heißt: ,,Verzeihen Sie einem alten Manne dies Sicheinmischen in Dinge, die jenseits seines ärztlichen Berufes liegen. Und doch auch wieder nicht, denn es ist schließlich auch der Arzt, der hier spricht und seiner Pflicht nach, verzeihen Sie dieses Wort, Forderungen stellt […]. Ich habe so viel vom Leben gesehen […], aber nichts mehr in diesem Sinne. Mit der Bitte, mich Ihrem Herrn Gemahl empfehlen zu wollen, in vorzüglicher Ergebenheit Dr. Rummschüttel.“[31] Daß Effi nunmehr wieder in ihr Elternhaus zurückkehren kann, geht auf diesen Brief zurück. In einem der wenigen Beiträge über die medizinischen Aspekte des Romans aus ärztlicher Sicht (von Fritz Trautmann) wird diese Gestalt des alten Rummschüttel gebührend gewürdigt[32], und der Verfasser des Beitrags zitiert in diesem Zusammenhang einen der großen Internisten in der Geschichte der Medizin, Ludolf von Krehl, dem es darauf angekommen sei, daß der Arzt mit dem Kranken gemeinsam lebt. In der Figur Doktor Rummschüttels sei ein Arzt dargestellt, der solchen Erwartungen entspricht.[33]

Diesen Ausführungen ist gewiß nicht zu widersprechen. Sie sind allenfalls zu ergänzen – um erzählerische Feinheiten, die im Werk Fontanes bekanntlich nichts Seltenes sind.[34] In der erzählten Ehegeschichte wird der nicht unsympathische, aber doch auch etwas leichtfertige Major von Crampas ein Damenmann genannt. Effi selbst bezeichnet ihn in einem Brief an die Mutter als einen solchen: ,,Er, Crampas, soll nämlich ein Mann vieler Verhältnisse sein, ein Damenmann[…]“.[35] Das ist zweifellos ein merkwürdiges Wort, eine Art contradictio in adiecto. In unseren Wörterbüchern wird es nicht aufgeführt. Nur das Wort Damenmannschaft wird verzeichnet mit der Erklärung: „die Sportmannschaft, die aus Mädchen und Frauen besteht“.[36] Dasselbe Wort „Damenmann“ wird in unserem Roman ein zweites Mal gebraucht, nunmehr mit Beziehung auf den Geheimrat Rummschüttel. Frau von Briest, die vor vielen Jahren einmal von ihm behandelt worden war, verwendet es im Gespräch mit der krank spielenden Tochter: „damals war er nah an Fünfzig und hatte schönes graues Haar, ganz kraus. Er war ein Damenmann, aber in den richtigen Grenzen. Ärzte, die das vergessen, gehen unter, und es kann auch nicht anders sein […].“[37] Effi nimmt dieses Wort im Brief an Innstetten auf, indem sie es ein wenig verändert: ,,er gilt ärztlich nicht für ersten Ranges, ,Damendoktor‘ sagen seine Gegner und Neider. Aber dieses Wort umschließt doch auch ein Lob; es kann eben nicht jeder mit uns umgehen“.[38] Und in der Tat kann es kaum zweifelhaft sein, auf welche Art von Damenmännern es in einer Gesellschaft wie dieser ankommt: auf solche eben, die mit Frauen umgehen können, wie die schlichte und anspruchslose Wendung Effis lautet.

Eine zweite Ergänzung betrifft nicht diese prachtvolle Arztgestalt, sondern einen „Heilkundigen“ besonderer Art, den letzten in der Reihe der Therapeuten, die sich der kranken jungen Frau annehmen. Es ist der alte Friesacker Doktor Wiesike, wie es im Text heißt.[39] Fontane hat ihn, wie er es häufig tut, seinem Bekanntenkreis entlehnt. Carl Ferdinand Wiesike, dem er in dem Wanderungsbuch ,,Fünf Schlösser“ auf freundliche Art ein Denkmal gesetzt hat, gehörte zu jenen Freunden Fontanes, die im Jahre 1873 an den Schopenhauer-Abenden teilgenommen hatten. Er lebte zurückgezogen auf seinem Schloß, wo Fontane ihn später besuchte, und hatte in seinem Alter vornehmlich zwei Leidenschaften, wie uns in den ,,Wanderungen“ berichtet wird: die Philosophie Schopenhauers und die Homöopathie Hahnemanns, in die er sich eingearbeitet hatte. Er wurde ein ausübender Adept dieser Lehre, ohne ein Arzt von Studium und Ausbildung her zu sein: „Die Kunde davon drang in alle Kreise, namentlich zu den Armen (denn alles war unentgeltlich) und Haus Wiesike wurde nunmehr ein Wallfahrtsort für die Kranken und Gebrechlichen des Havellandes, die zu vielen Hunderten kamen und auf Flur und Treppenstufen und, als ihrer immer mehr wurden, auch wohl im Freien lagernd, die Hilfe des Wunderdoktors anriefen.“[40] Der letzte behandelnde Arzt in diesem Roman, der ein Jünger Hahnemanns ist, erinnert uns an den ersten, den wir in Kessin kennengelernt haben: „den guten alten Doktor Hannemann, der natürlich ein Däne ist und lange in Island war […].“[41] Die Namensähnlichkeit zwischen diesem und dem Begründer der Homöopathie fällt auf, erst recht die Sympathie des Erzählers mit beiden. Dennoch ist damit eine dezidierte Wissenschaftskritik als Kritik an der wissenschaftlichen Medizin des 19. Jahrhunderts nicht verbunden. Aber um ein gelegentliches Wegsehen vom Tugendpfad der Schulmedizin handelt es sich gewiß; um eine von Humor begleitete Skepsis, die irgendwelche Spannungen nicht vermuten läßt.

Natürlich sind die Gestalten nicht aus dem Kontext der erzählten Handlung herauszulösen, in dem ihnen bestimmte Funktionen zugedacht sind. Das gilt gleichermaßen für die Krankheitsbilder, wo immer es sie gibt. Sie können im Aufbau des Ganzen von durchaus untergeordneter Bedeutung sein. In solchen Fällen gehen sie uns kaum etwas an. Sie sind dann nur Mittel zum Zweck, der darin beruht, die Handlung voranzubringen. In der späten Erzählung „Die Poggenpuhls“ hat der nicht unvermögende Onkel der Familie bei einer Feier zum Sedanstag eine Krankheit mit nach Hause gebracht. Der Leser wird kaum für sie interessiert. Am Ende des 12. Kapitels teilt der herbeigerufene Arzt die zutreffende Diagnose mit; es handelt sich um Typhus. Aber schon zu Eingang des nächsten Kapitels hören wir, daß er gestorben ist: „Die Befürchtungen erfüllten sich schnell […] und den siebenten Tag nach Beginn der Krankheit traf ein Brief bei der Mama ein, der dahin lautete: „Heute Mittag ist Onkel Eberhard gestorben […]‘.“[42] Selbst in der Erzählung ,,Mathilde Möhring“, in der die Krankheit des Ehemannes das Geschehen maßgeblich bestimmt, dient sie vorwiegend dazu, den unaufhaltsamen Aufstieg der emsigen Lehrerin zu motivieren, die natürlich ein weit besseres Examen besteht, als es dem armen Hugo Großmann zu bestehen vergönnt war. Dagegen interessieren uns Krankheitsbilder vor allem dort, wo an ihnen etwas gezeigt werden soll, wo sie mehr sind als Mittel in der Ökonomie des Erzählablaufs; und gezeigt werden kann etwas am Verlauf einer Krankheit. Eine solche Verlaufsart ist die Krankheit als Krise mit dem Umschlag in die Genesung. Storms ,,Viola tricolor“ ist ein solcher Text, und der Wendepunkt der Novelle ist hier mit dem Wendepunkt der Krankheit identisch. Zugleich sind damit vielfach Lösungen seelischer Konflikte oder Reifungen im Stil des Entwicklungsromans verbunden. In Fontanes erzählter Welt gibt es einen solchen Umschlag im ersten Roman „Vor dem Sturm“. „Gerettet“ sagt der Arzt in Storms Novelle; „Genesen“ heißt es in Fontanes Roman mit Beziehung auf eine solche Krise des Helden, Lewins von Vitzewitz; und hier wie dort sind es Ärzte, die das erlösende Wort jeweils aussprechen. Auch in ,,L’Adultera“ gibt es einen solchen Umschlag, der die Wendung vom tragischen Roman zum glücklichen Ende vorbereitet. Er ist deutlich psychologisch motiviert. Melanie van der Straaten gerät nach der Flucht aus ihrer Welt in eine tiefe seelische Krise. Sie fällt, wie es heißt, in ihre frühere Melancholie zurück. Über Wochen befindet sie sich in einem apathischen Zustand, und einen Tag lang habe der Zeiger nicht gewußt, wohin er sich zu stellen habe, ob auf Leben oder Tod – bis sich die todmatte Frau eines Abends mit den Worten aufrichtet: „Nun weiß ich, daß ich leben werde“; und schon im Eingang des nächsten Kapitels heißt es: „Und ihre Hoffnung hatte sie nicht betrogen. Sie genas […]“.[43]

Dennoch kommt es erzählerisch weit mehr auf die Krankheiten an, die zum Tode führen, und auf die Art, wie sie erzählt werden, Sie weiten sich in Romanen wie „Effi Briest“, ,,Stine“, aber auch gegen Ende des ,,Stechlin“ in bemerkenswerter Weise aus. Auf Verfall und Niedergang, wie in den ,,Buddenbrooks“, legt Fontane im allgemeinen wenig Wert. Autoren wie Storm oder Raabe muten in diesem Punkt ihren Lesern sehr viel mehr zu, als es Fontane tut. Raabe zum Beispiel mit dem Bild des an seinen Rollstuhl gefesselten Hauseigentümers Hartleben: „Weißt du, Junge, Herr Assessor Krumhardt sollte ich sagen, weißt du, ein Vergnügen ist es nicht, so als ein Sack voll Elend, schlechtem Appetit und nächtlicher Wehklage und Schlaflosigkeit sich um sein zerstückelt Anwesen rollen zu lassen; aber so ist der Mensch: solange er Luft schnappen kann, gibt er den Atem nicht gern auf.“[44] Auf verwandte Art schildert Storm den vom Schlaganfall gezeichneten Hans Kirch. Dennoch endet auch diese Erzählung gewissermaßen im Zeichen des sanften Gesetzes: „Neben ihm kniend, sanft und unbeweglich, hielt sie das weiße Haupt an ihre Brust gebettet, denn Hans Kirch war eingeschlafen. – Das Abendrot legte sich über das Meer, ein leichter Wind hatte sich erhoben, und drunten rauschten die Wellen lauter an den Strand.“[45] Ähnlich versöhnend geht es in Fontanes Erzählungen zu. Mit dem Glas in der Hand tritt der junge Haldern (in ,,Stine“) noch einmal vor das Fenster, und dem poetischen Realismus gemäß kann es heißen: „Der Mond, eine schwache Sichel war aufgegangen und schüttete sein Licht über den Fluß und weit jenseits desselben über Feld und Wald.“[46] Auch die Darstellung der Krankheit in ,,Effi Briest“ folgt diesem Stilprinzip. Erschöpft setzt sich die Kranke eines Abends ans offene Fenster, um die kühle Nachtluft einzuatmen, als sei alles auf Einklang mit der Natur gestimmt: „Die Sterne flimmerten, und im Parke regte sich kein Blatt. Aber je länger sie hinaushorchte, je deutlicher hörte sie wieder, daß es wie ein feines Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein Gefühl der Befreiung überkam sie.“[47] Aber schon im nächsten Abschnitt – „Es war einen Monat später“ – ist von der weißen Marmorplatte ihres Grabes die Rede. Sterben, wie Arthur Schnitzler eine kurz zuvor veröffentlichte Erzählung überschrieben hatte, wird ausgespart. Alle diese Realisten tragen viel Beunruhigendes in die bürgerliche Welt hinein. Aber das hindert sie nicht, an Romanschlüssen festzuhalten, die man allesamt mit „Tod und Verklärung“ überschreiben könnte, wie es zu Beginn des Jahrhunderts in Goethes „Wahlverwandtschaften“ schon geschehen war: ,,So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.“[48]

Um so erstaunlicher ist im Hinblick auf solche Stileigenschaften eine Todesart anzusehen, mit der wir es im erzählerischen Werk Fontanes wiederholt zu tun haben. Es geht um den Freitod, mit dem immerhin fünf von siebzehn abgeschlossenen Erzählungen enden: „Schach von Wuthenow“, ,,Stinet“, ,,Graf Petöfy“, ,,Cécile“ und ,,Unwiederbringlich“. Die Zahl solcher Erzählschlüsse läßt vermuten, daß sich Fontane nicht gescheut hat, es mit der Macht von Vorurteilen aufzunehmen; und an Vorurteilen hat es in der Einstellung zum Selbstmord, wie selbstverständlich gesagt wurde, nicht gefehlt. Hier dachte und urteilte man vielfach streng und ohne Nachsicht. Über Krankheitsverläufe, die dem frei gewählten Tod vorausgehen können, wußte man noch wenig Bescheid. In einer Tagebuchnotiz aus der Mitte der neunziger Jahre spricht sich Theodor Herzl, der Verfasser der epochemachenden Schrift „Der Judenstaat“, mit Entschiedenheit dafür aus, Selbstmörder für schuldig zu erklären und nur bei Nacht zu beerdigen.[49] Tiefe Betroffenheit über Einstellungen wie diese bezeugt sich in einem Brief der jungen Gräfin Franziska zu Reventlow, die vor hundertundzehn Jahren in Husum geboren wurde. Sie berichtet ihrem Freund von einem Schüler, der sich erschossen hat, und schreibt: „Die Art und Weise, wie dieser Fall von meiner Familie betrachtet und besprochen wird, macht mir die Haut schaudern […]. Es kam mir alles so roh und beschränkt vor, und der Selbstmord dieses Kindes wie eine befreiende Tat.“[50] Nicht auf Verurteilungen, sondern auf Verstehen käme es in vielen Fällen an, besonders dort, wo Krankheit hineinwirkt. Ein solches Verstehen hat Fontane mit den Mitteln seiner Erzählkunst in der Novelle „Schach von Wuthenow“ dargestellt.[51] Dieser preußische Offizier eines traditionsreichen Regiments ist kein Held im überlieferten Sinn. Seine Schwächen sind offenkundig. Doch ist er andererseits nicht nur ein Schuldiger, sondern wenigstens zum Teil ein Opfer der Gesellschaft, die so hart über ihn urteilt. Daher trifft das Dictum seines Gegenspielers nur zur Hälfte zu, während Victoire, die am unmittelbarsten Betroffene, jenes Verstehen übt, auf das es Fontane ankommt. Aber als Folge eines Krankheitsverlaufs ist dieser Freitod nicht zu interpretieren. Der Tod, den der junge Graf Haldern durch eine Überdosis Schlafpulver herbeiführt, ist es weit mehr. Vor allem aber sind die Todesfälle in „Cécile“ und ,,Unwiederbringlich“ von den Krankengeschichten beider Frauen nicht zu trennen. Diese Todesarten vor allem machen es nötig, über die Krankheitsarten zu sprechen, gleichviel ob sie mit dem selbstgewählten Tod enden oder nicht. Wir werden uns hüten, einen Katalog ihres Vorkommens zu erstellen. Doch gibt es Krankheiten, die ,,literarischer“ sind als andere, und vornehmlich um diese muß es gehen.

Einer Krankheit, die der Vergangenheit angehört, kommt eine weltliterarische Bedeutung zu. Das Entstehen einer angesehenen Kunstform, der Novelle, ist damit verknüpft, wenn es zutrifft, daß Boccaccio seine anregenden Geschichten mit der Absicht erzählt hat, eben damit die Furcht vor der im Lande wütenden Pest vergessen zu machen. Eine Erinnerung an den schwarzen Tod enthält Theodor Storms Novelle „Ein Fest auf Haderslevhuus“. Sie hat hier kaum mehr als eine episodische Bedeutung, während sie in einem bedeutenden Text der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts zum zentralen Thema gemacht wurde: in Alessandro Manzonis Roman ,,I promessi sposi“. In beiden Fällen handelt es sich um historische Erzählungen. Eine ansteckende Krankheit, die sich zu einer Epidemie auswächst, wird literarisch genutzt. In anderer Weise hat es Raabe in seiner Erzählung „Unruhige Gäste“ getan – hier handelt es sich um Typhus, der zahlreiche Menschen dahinrafft. Aber als die literarisch bedeutendste Krankheit in der deutschen Literatur seit der Romantik ist sicher die Lungentuberkulose anzusehen, wenn wir vorerst von dem weiten Feld der Gemütskrankheiten noch absehen. Die ihr eigentümliche Geistigkeit und Sensibilität, die sie trotz des oft furchtbaren Krankheitsbildes entwickeln kann, macht sie vor anderen interessant, und daß ihr bei Novalis eine so zentrale Bedeutung zukommt, im Leben wie im Werk, sei angemerkt. Anfang der sechziger Jahre macht sie ein Dichter zum Thema einer Erzählung, dem man eine solche Thematik am wenigsten zugetraut hätte. Wir sprechen von Paul Heyse und seiner erzählten Krankheitsgeschichte ,,Unheilbar“, die den Leser schon aufgrund dieses Titels wenig hoffen läßt. Mit ihr wird der Zyklus der Meraner Novellen eröffnet, und Meran in Südtirol ist auch der Schauplatz der Handlung. Dorthin hat sich eine junge Frau begeben, die sich im Tagebuch, das sie führt, auf den Tod vorbereitet. Denn sie weiß durchaus, wie es mit ihr steht, und ist dem Arzt noch obendrein dankbar, der ihr die Wahrheit nicht verschwiegen hat. Aber im Fortgang der Handlung wird der Titel der Erzählung gründlich widerlegt. Die Kranke findet nicht nur in ihre Gesundheit zurück; sie findet noch überdies ihren Lebensgefährten, so daß einem guten und glücklichen Ende nichts mehr im Wege steht. Es spricht vieles dafür, daß sich Schnitzlers berühmte Novelle „Sterben“ auf diese Erzählung Heyses bezieht, aber im Sinne einer Gegenbildlichkeit, wie wir hinzufügen wollen. Auch diese Novelle spielt zu großen Teilen in Meran und auch hier hat ein Arzt dem Kranken die Wahrheit mitgeteilt. Aber anders als Heyse macht der Arzt Arthur Schnitzlers mit der Unheilbarkeit seines Falles ernst; und zumal an einem Text wie diesem wird die Eigenart moderner Literatur erkennbar. Mit Thomas Manns „Zauberberg“ ist einige Jahrzehnte später der Gipfel in der Literaturgeschichte dieser Krankheit erreicht. Daß aber Fontane mit einem seiner großen Romane in diese Geschichte einzubeziehen ist, ist zu zeigen.

Zu den an Lungentuberkulose erkrankten Figuren seiner Romanwelt gehört, deutlich ausgesprochen, Hugo Großmann in der Erzählung ,,Mathilde Möhring“. Mit einer Lungenentzündung hat die rasch zum Tode führende Krankheit begonnen, später stellt sich ein Schüttelfrost ein, „und ehe noch der Arzt es feststellen, konnte, war es klar, daß ein Rückfall da war. Er nahm in rapidem Verlauf die Form einer rapide fortschreitenden Schwindsucht an, und am zweiten Ostertag abends starb er […].“[52] Dies teilt uns nicht ein Arzt mit, sondern der Erzähler selbst. Auch im Fall des jungen Haldern scheint es sich um dieselbe Krankheit, als Folge einer vor Jahren erlittenen Verwundung, zu handeln. Mehrere Symptome, die auch in ,,Effi Briest“ erwähnt werden, deuten darauf hin. Aber vor allem im Falle Effi Briests hat man an eine Lungentuberkulose zu denken. Eine Disposition zu Phtisis, wie der fachliche Ausdruck lautet, stellt der alte Rummschüttel fest; und als Erzähler seines Romans hat Fontane alles getan, diese Disposition aufs sorgfältigste zu motivieren. Noch ehe die Ehebruchgeschichte sie belastet, wird beiläufig von ihr gesagt: „Sie sah reizend aus, ganz blaß.“ Später teilt sie Innstetten mit, daß sie der gute Doktor für bleichsüchtig halte. Auf der Suche nach einer geeigneten Wohnung in Berlin bietet sich eine solche in der Keithstraße an. Doch handelt es sich um eine Neubauwohnung, vor der die Mutter warnt, denn sie sei zu feucht: „Es wird nicht gehen, liebe Effi‘, sagte Frau von Briest, schon einfach Gesundheitsrücksichten werden es verbieten‘.“[53] Aber da die Zeit drängt, fällt die Entscheidung am Ende doch zugunsten der feuchten Neubauwohnung. Nach der Trennung von ihrem Mann besucht sie wiederholt: der alte Rummschüttel; denn sie kränkelt mehr und mehr. Zwar läßt das Hüsteln nach der Rückkehr ins Elternhaus vorübergehend nach, aber dem neuen Arzt in Hohen-Cremmen – Doktor Wiesike – gefällt der Zustand seiner Patientin in keiner Weise. Er nimmt Anstoß an roten Flecken, am Glanz in den Augen und am ständigen Fiebern. Zu solchen somatischen Befunden gesellt sich das Psychische von Anfang an. Effi beginnt, schwermütig zu werden, heißt es. Rummschüttel ist von der Hektik ihres Verhaltens beunruhigt, er nimmt Zeichen eines Nervenleidens wahr und meint später, daß die Nerven sie auszuzehren beginnen. Physisches und Psychisches scheinen gleichermaßen an der sehr genau motivierten Krankengeschichte beteiligt zu sein. Solche Vermutungen werden ärztlicherseits in dem schon genannten Beitrag über die Krankheit der Effi Briest ausdrücklich bestätigt, wenn es heißt: ,,Eigene Schuld und Kränkung durch andere wirken zusammen, um der Tuberkulose die Entwicklung zu erleichtern, um aus der ,Disposition zur Phtisis‘ eine wirkliche Phtisis zu machen.“[54]

Was aber ist mit solchen Einsichten gewonnen? Literarische Werke, in denen von Krankheiten gehandelt wird, werden ja nicht geschrieben, damit der Leser Diagnosen errät; und wenn die heutige Medizin vor einem zu starren und statischen Umgang mit Begriffen der Diagnose warnt, so kann es um so weniger als Aufgabe der Literaturwissenschaft angesehen werden, ,,medizinischer“ zu sein als jene. In keinem Fall kann eine solche Ermittlung der Zielpunkt sein, auf den die Interpretation eines literarischen Textes gerichtet ist. Aber einiges zum Vorteil des sprachlichen Kunstwerks ist mit einer solchen Verdeutlichung nun doch erreicht. Der Leser wird nicht im Unklaren gelassen hinsichtlich dessen, was hier geschieht; es wird ihm nicht einfach zu glauben zugemutet, hier sterbe eine junge Frau an gebrochenem Herzen, wie man es zumal im trivialen Schrifttum lesen kann. Man stirbt an etwas Derartigem nicht so rasch; und so realistisch denkt man am Ende des 19. Jahrhunderts schon, daß man nur Krankheitsfälle erzählen kann, die der Wirklichkeit entsprechen. Disposition zu Lungentuberkulose ist ein solcher Fall. Es ist diejenige Krankheit, deren Verlauf in erhöhtem Maß von psychischen Belastungen beeinflußt wird. Gewiß nicht zufällig ist der schon mehrfach genannte Beitrag in einer Zeitschrift für psychosomatische Medizin erschienen, die es seit den fünfziger Jahren gibt. Dieser Begriff ist jüngeren Datums. Zwar wird er gelegentlich schon in der Zeit Goethes (von J. Chr. Heinroth) gebraucht. Aber erst seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gilt er in der medizinischen Wissenschaft als eingeführt. Victor von Weizsäcker dürfte in Heidelberg einer der ersten gewesen sein, der einen solchen Lehrstuhl (für psychosomatische Medizin) erhielt. Die Dichter aber müssen an solchen Verbindungen in besonderer Weise interessiert sein. Sie am wenigsten können sich mit dem isolierten Krankheitsfall begnügen. Sie müssen am Einzelfall das Allgemeine sichtbar machen, müssen verbinden und verknüpfen: das somatisch Kranke mit der Psyche und die Psyche mit der sozialen Umwelt. In unserem Fall soll deutlich werden, daß Effi Briest in einem ganz konkreten Sinn leidet, daß sie zugleich an der Gesellschaft leidet und daß es zwischen dieser, der Schuldfrage und ihrer Krankheit jene Zusammenhänge gibt, die das multifaktorielle Geschehen ausmachen, wie eine Wendung der heutigen Medizin lautet. Ein Dichter des vergangenen Jahrhunderts nimmt voraus, was heutigem Denken entgegenkommt. So gesehen, nähern sich Literatur von gestern und Medizin von heute in eigentümlicher Weise an – eine Feststellung, die uns um beider Bereiche willen nur recht sein kann, wenn sie zutrifft.

Sieht man sich von der dargestellten Psychosomatik in „Effi Briest“ auf Soziales verwiesen, auf die Gesellschaft, in der ein Mensch lebt und an der er gegebenenfalls leidet, so nun erst recht hinsichtlich jener Erscheinungen, die als ein zumeist unbestimmtes Krankheitsgeschehen aus der Romanwelt Fontanes am wenigsten wegzudenken sind. Es sind dies Verstimmungen und Verstörungen, die als organische Befunde nicht nachweisbar sind und dem weiten Feld der Gemütskrankheiten zugerechnet werden. Schwere Fälle, für die sich die moderne Literatur seit dem Expressionismus nachhaltig interessiert, bezieht Fontane kaum je in seine Erzählungen ein. In diesem Punkt geht Raabe mit Figuren wie Ludchen Bock in ,,Altershausen“ oder dem skurrilen, von Verfolgungswahn heimgesuchten Wunnigel in der gleichnamigen Erzählung weiter als die meisten seiner Zeitgenossen. Fontane bevorzugt als Erzähler jene Krankheitsbilder, die noch durchaus im Grenzbereich zwischen dem Kranken und Gesunden sich entwickeln, in denen es auf Darstellung von Übergängen ankommt. Eine gelegentliche Äußerung im Anschluß an Ibsens „Die Frau vom Meere“ (1889) ist hier für seine Denkweise bezeichnend. Es geht um das Bühnenrecht nervöser Frauen, für das er sich nachdrücklich verwendet. In diesem Zusammenhang heißt es: ,,Und weil sie da sind, diese nervösen Frauen, zu Hunderten und Tausenden unter uns leben, so haben sie durch ihre Existenz auch Bühnenrecht erworben. Oder will man ihnen gegenüber von ,Krankheit‘ sprechen? Was heißt krank? Wer ist gesund? Und wenn krank, nun so bin ich fürs Kranke.“[55] Diesen Bemerkungen geht eine Kritik am Inhalt des Stückes voraus, die Aufmerksamkeit verdient. Es geht um die Ängste dieser Frau; denn Ellida, führt Fontane aus, sei krank aus Sehnsucht und Furcht. Also müsse es darauf ankommen, sie zu heilen, und eben in diesem Pinkt wird Ibsen kritisiert. Der eine Pharmazeut belehrt den anderen über psychiatrische Heilverfahren, als hätte man es nicht mit einem literarischen Text zu tun, sondern mit dem Bericht über einen klinischen Fall. Fontane beruft sich auf einen in diesem Gebiete Erfolgreichen: keinen Geringeren als den Berliner Dr. Koreff. Er war ein enger Freund des Dichters E. T. A. Hoffmann und hatte zu Beginn des Jahrhunderts in Paris eine Tochter des Herzogs von Hamilton von ihren Angstvisionen kuriert. Fontane beschreibt die Angstvisionen dieser Kranken und anschließend die Art der Kur, die angewandt wurde. Er beschreibt alles innerhalb dieser Theaterkritik, um die es sich handelt: „Die junge Herzogstochter war wie vollkommene Ellida und hatte Visionen wie diese. Doch waren die der Herzogstochter höher gegriffen. Es waren Schreckgestalten aus den Propheten oder aus der Apokalypse, die die schöne Lady verfolgten, Drachen, geflügelte Ringeltiere, vielleicht auch Satan in Person.“ Und nun die Kur: „Die schöne Herzogstochter wurde in ein hohes gotisches, ganz dunkles Gemach gebettet; da lag sie tagelang apathisch, ohne Speis‘ und Trank, bis der Visionstag erschien. Auf den war gewartet. Kaum war Satan als Ringeltier da, das schöne Fräulein ängstigend und quälend, als sich die gewölbte Decke auftat. Musik erscholl, ein Lichtstrahl fiel ein, und in dem Lichtstrahl senkte sich von oben her der Erzengel Michael hernieder […] und durchbohrte langsam den Ringelwurmsatan, der am Bette der schönen Herzogstochter lag. Diese stand auf und war genesen.“[56] Schon vor Freud scheint man im 19. Jahrhundert mancherlei von dem verstanden zu haben, was dieser dann entdeckte.

Es ist denkbar, daß Fontane hinsichtlich solcher Probleme von Ibsen wieder holt Anregungen erhalten hat. Aber nicht wenig brachte er auf diesem Gebiet von Hause aus mit, womit ein Zweifaches gemeint ist: zum ersten die eigene Tochter und deren psychische Labilität, wie es ihre Briefe an die Eltern bezeugen; und zum zweiten die eigene Autobiographik in einem ganz konkreten Sinn. An die schwere Nervenkrise des Jahres 1892 ist in diesem Zusammenhang zu erinnern. Seine Frau handelt darüber in einem Brief an den jüngsten Sohn: ,,Es ist nicht zu beschreiben, wie schwer es ist mit dem armen Kranken zu leben, die Tage sowohl wie die Nächte. Wir erwarten den Arzt, der immer dringender von einer Nervenheilanstalt spricht. Papa, der erst damit einverstanden war, zeigt jetzt ein rechtes Grauen, sodaß ich nur in äußerster Noth meine Einwilligung; dazu geben würde […]. Diesen klaren verständigen Mann so zu sehen, ist herzzerreißend.“[57]

Dem in Berlin herbeigerufenen Arzt war bewußt, daß hier mit Medikamenten nicht viel zu erreichen sei; und da er vermutete, daß der Depression eine Krise seines Erzählens zugrunde liegen könnte, riet er ihm, die eigenen Lebenserinnerungen aufzuzeichnen: ,,Fangen Sie gleich morgen mit der Kindheit an“, soll er gesagt haben. Und in der Tat: Was kann einem Schreibenden in solcher Lage Heilsameres verordnet werden als eben das Schreiben. Schon im  April 1893, kaum ein Jahr später, lag das herrliche Buch „Meine Kinderjahre“ abgeschlossen vor. In einer Tagebuchnotiz aus demselben Jahr bestätige Fontane, daß die verordnete Therapie die richtige war; er habe sich an diesem Buch wieder gesund geschrieben, so lautet seine Notiz.[58] Im eigenen Vorwort werden Gedanken ausgesprochen, wie man sie später in den Schriften Sigmund Freuds finden kann. Ein verstorbener Freund habe jungen Damen seiner Bekanntschaft den Rat gegeben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen: ,,in diesem ersten Lebensjahr stecke der ganze Mensch“.

Dennoch hat Fontane seine eigenen Erfahrungen auf dem Gebiete psychischen Krankseins, wo immer es sie gibt, ausschließlich auf die Frauen seiner Romanwelt übertragen – nicht um sie dadurch von sich und seinen Lesern zu entfernen. Im Gegenteil! Was er ihnen in dieser Hinsicht mitgibt, ist fast stets auszeichnend gemeint. Wie es denn vornehmlich Frauengestalten sind, mit denen er sich als Erzähler verbündet – von einer so kritisch gesehenen Gründerzeitnatur wie Jenny Treibel natürlich abgesehen. Aber den anderen – und das sind die meisten – ist er zugewandt und zugetan. Was er denkt, läßt er sie denken. Es handelt sich um Übereinstimmungen, die im Personenensemble der Männer sich allenfalls im Falle des Herrn von Briest oder des Henn von Stechlin wiederholen. Aber so ganz ohne Abstriche sind selbst diese beiden Noblen nicht zu verstehen. Dagegen nun Melanie van der Straaten, Cécile von St. Arnaud, Victoire von Carayon, Lene Nimptsch und weithin auch Christine Holk! Sie alle, mit Ausnahme von Lene Nimptsch, sind Gezeichnete innerhalb dieses Grenzgebiets; und paradoxerweise werden sie eben dadurch ausgezeichnet, daß sie es sind, wie es ein Brief aus den Jahren 1894/95 erläutert: ,,Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Wert, fühle mich nur dadurch angezogen und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knax weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen.“[59] Die Reihe dieser Frauengestalten beginnt mit der zweiten Frau des Heidereiters Baltzer Bocholt in ,,Ellernklipp“. Fontane habe an ihr Gefallen gefunden und habe in ihr nach eigener Aussage „ein vornehm-bleichsüchtiges-languissantes Menschenkind und den halb rätselhaften Zauber eines solchen schildern wollen“.[60] Melanie, die Frau des Kommerzienrates van der Straaten, findet zwar in einer zweiten Ehe ihr Glück. Aber ehe es dahin kommt, wird sie, wie schon erwähnt, von Depressionen heimgesucht. Eine von Krankheit gezeichnete Frau ist auch die Arbeiterin Stine Rehbein. Sie wird dem Leser als ,,Typus einer germanischen, wenn auch freilich etwas angekränkelten Blondine“ vorgestellt[61]; und von Krankheit heimgesucht ist erst recht der junge Graf Haldern, der sich für sie interessiert: „Ich bin krank und ohne Sinn für das, was die Glücklichen und Gesunden ihre Zerstreuung nennen. Eine lange Geschichte […]“[62]; und läßt sie wissen, daß sich Charme und Schwermut nicht ausschließen müssen.[63] Von der schönen Gräfin Christine Holk in ,,Unwiederbringlich“ wird ausdrücklich gesagt, daß sie krank im Gemüt sei. Ihr Schwernehmen der Dinge hat offensichtlich in einer Schwermut ihren Grund, die sich mehr und mehr in Verschweigen, Verdrängen und in Sprachlosigkeit äußert. Wenn sie sich die Verse Waiblingers zu Herzen nimmt – ,,Wer haßt, ist zu bedauern / Und mehr noch fast, wer liebt“ –, so ahnen wir schon, daß wir sie auf sie selbst beziehen sollen. Ihr psychisches Kranksein, mit einem Reichtum an Nuancen dargestellt, motiviert auch ihren Tod, obwohl – oder weil sie sich einem allzu strengen Pietismus verschrieben hatte. Die nervösen Störungen in der Krankengeschichte Effi Briests haben wir geschildert. Von den Motiven der Angst, die Ibsen in seinem Drama „Die Frau vom Meere“ zur Sprache bringt, war schon die Rede. Aber auch Fontane bringt sie wiederholt zur Sprache, und ehe noch Sören Kierkegaard in Deutschland Schule macht – um 1900 und um 1910 –, bezeugt der Verfasser der „Effi Briest“ eine Kenntnis dieser Phänomene, die erstaunt. Zuerst von einer Sängerin (der Tripelli) beiläufig angekündigt – „überhaupt, man ist links und rechts umlauert, hinten und vorn. Sie werden das noch kennen lernen“[64] –, macht sie selbst nur allzu bald Bekanntschaft mit ihr: ,,Angst, Todesangst und die ewige Furcht […]. Ja, Angst quält mich […]“, heißt es in einem ihrer zahlreichen Selbstgespräche.[65] So auch im Roman ,,Cécile“, in dem gleichfalls, wie in ,,Unwiederbringlich“, Gemütsverstimmungen das ihre zum freiwillig gewählten Tod beitragen. Noch ist es hier der Seelsorger, nicht der naturwissenschaftlich ausgebildete Nervenarzt, bei dem sie Hilfe sucht; „und vor allem, beten Sie mir das Grauen fort, das auf meiner Seele liegt. Sie sind ein Diener Gottes, und Ihr Gebet muß Erhörung finden.“[66]

„Krankheitsberichte sind immer langweilig, und die liebsten Menschen hören bloß zu, weil es nicht anders geht“, sagt gelegentlich Frau von Briest.[67] Aber ganz so ernst sollten wir ihre Rede nicht nehmen. Denn um Krankengeschichten handelt es sich im Falle ihrer Tochter ebenso wie im Falle Céciles; und von Langeweile kann in beiden „Geschichten“ nicht die Rede sein. Doch ist es nur mit Einschränkung berechtigt, beide Ehe- und Krankengeschichten zusammenzubringen; denn Unterschiede in der Darstellung beider Fälle sind nicht zu übersehen. In ,,Cécile“ handelt es sich vorwiegend um ein psychisches Kranksein, um Kränklichkeiten, die sich diagnostischer Begriffe entziehen. Man weiß nicht recht, woran man mit dieser Frau ist. Daher die unbestimmten Wendungen, die den Leser nur undeutlich ins Bild setzen über das, was da wohl vorliegen könnte. Das Ungewisse findet seinen Ausdruck in dem, was bloß so scheint. „Die Dame scheint krank“, wird gesagt. „Daß sie nervenkrank ist, ist augenscheinlich“, teilt der sie verehrende Gordon seiner Schwester mit. Aber um ganz und gar sichere Auskünfte kann es sich nicht handeln, wenn gesagt wird, daß sich Cécile nach Art aller Gemütskranken verhalte. Daß der Erzähler nicht mehr weiß als seine Personen, hängt offensichtlich mit dem Krankheitsgeschehen zusammen. Erst mit der Zeit hellt sich auf, was alles hier zusammenwirkt. Erst allmählich zeichnet sich ein Krankheitsbild deutlicher ab. Wenn die kränkelnde Frau über ihren Ehemann ungehalten ist, der gegenüber anderen über ihr Kranksein spricht, so ist sie vor allem ungehalten über das bloß Gesellschaftliche seines vermeintlich rücksichtsvollen Verhaltens. In Wirklichkeit ist er derjenige, der über sie und ihre Krankheit verfügt. Es geht in dieser Ehe um Herrschaftsverhältnisse weit mehr als wirklich um Liebe: „Und wenn es Liebe wäre“, sagt eine Person der Erzählung über den besitzenden Ehemann, ,,wenn wir’s so nennen wollen, nun so liebt er sie, weil sie sein ist, aus Rechthaberei, Dünkel und Eigensinn, und weil er den Stolz hat, eine schöne Frau zu besitzen.“[68] Der Akzent liegt unverkennbar auf dem Verbum, auf dem Besitz; und die es angeht, ist sich ihrer untergeordneten Stellung deutlich bewußt: ,,Cécile gab in guter Laune die Versicherung, lange genug verheiratet zu sein, um auch in kleinen Dingen Gehorsam und Unterordnung zu kennen“[69]; auf geistreiche Art sagt sie dasselbe nur in anderen Worten: „Die Männer sitzen ohnehin auf dem hohen Pferd […].“[70]

Das geflügelte Wort von den Männern, die Geschichte machen, paßt gut in dieses Bild; und zweifellos haben die ausgedehnten Gespräche der Historiker über Gegenstände der Geschichte und der Geschichtswissenschaft vornehmlich diesen Sinn: Sie sollen verdeutlichen, daß die Frau im Geschichtsdenken eigentlich nur als Leidende in Frage kommt. Von der Krankheitsgeschichte der schönen, aber von Schwermut gekennzeichneten Frau hat man sich, wie es scheint, weit entfernt. In Wirklichkeit sind Krankengeschichte und Sozialgeschichte auf eine durchdachte Art miteinander verknüpft: Die untergeordnete Stellung der Frau in der Gesellschaft einerseits und ihre Krankheitsgeschichte zum anderen stehen nicht beziehungslos zueinander, sondern ergeben denjenigen Zusammenhang des Psychischen mit dem Sozialen, auf den es Fontane abermals ankommt. In unserem Fall freilich handelt es sich um einen Zusammenhang mit tödlichem Ausgang, der dadurch herbeigeführt werden kann, daß die Beteiligten von ihren Konflikten wenig wissen und noch weniger zur Sprache bringen. Von dem jungen Gordon hatte sich die junge Frau eine Aussprache erhofft. Aber er wird am Ende nicht nur ein Opfer entsetzlicher Vorurteile, sondern läßt sich selbst auf seine Weise von Vorurteilen leiten. Man muß es der Ironie der Dinge zuschreiben, wenn er den psychischen Zustand Céciles zum Teil versteht, aber zum anderen Teil auf eine verhängnisvolle Art verkennt: ,,Aber Frauen wie Cécile“, schreibt er an seine Schwester, „vergegenständlichen sich nichts und haben gar nicht den Drang, sich innerlich von irgendwas zu befreien, auch nicht von dem, was sie quält. Im Gegenteil, sie brüten darüber und überladen sich mit Gefühl, bis dann mit einem Male der Funken überspringt.“[71] Was schließlich auch geschieht! Die Stellung der Frau in einer sich wandelnden Zeit, der Beruf und Bildung weithin vorenthalten werden und über die, wie im vorliegenden Fall, Mutter und Ehemann gleichermaßen verfügen, hat Fontane am Beispiel dieser Krankengeschichte in den weitesten sozialgeschichtlichen Bezügen erfaßt. Eine briefliche Äußerung der Gräfin Reventlow, um sie hier noch einmal zu zitieren, trifft aufs genaueste den Sachverhalt, um den es geht: ,,[…] von jungen Mädchen findet man’s entsetzlich, wenn sie ein Selbst sein wollen, sie dürfen überhaupt nichts sein, im besten Fall ein brauchbares Haustier, von tausend lächerlichen Vorurteilen eingeengt. Die geistige Ausbildung wird vollständig vernachlässigt, schändlich ist’s, daß man in ihrer Erziehung und Lebensweise immer versucht, ihre Sinnlichkeit zu reizen, um sie zu verheiraten, ,damit sie ihren Beruf erfüllen‘ – und vollständig im Haushalt und dergleichen versumpfen […].“[72]

In der Darstellung solcher und verwandter Frauenschicksale, in denen Sozialpsychologie und Sozialgeschichte aufeinander verweisen, befindet sich Fontane als ein Schriftsteller des poetischen oder des bürgerlichen Realismus auf dem Wege zur Moderne hin. Die Krankheitsbilder seiner erzählten Welt, die sich der frühe Realismus im Stil Julian Schmidts und Gustav Freytags verbeten hätte, zeigen es. Die Darstellung von Gestalten, die ,,einen Knax weghaben“, das Verliebtsein des Erzählers in ihre Schwächen und Sünden, wird zum Stilprinzip, zum Programm, nur im Gegensinn des programmatischen Realismus und der sogenannten Gründerzeit; und beide Epochen, wenn man sie als solche behelfsweise einmal bezeichnen darf, sind ja aufs engste miteinander verwandt. Fontanes Vorliebe für die Schwächen und Sünden seiner Gestalten gilt fraglos seinen Frauengestalten, wie es der angeführte Brief unmißverständlich zum Ausdruck bringt. Auch hier nimmt er vorweg und weist er voraus. Die Krankheitsbilder seiner kränkelnden und nervösen Frauen zeigen ihn deutlich an der Schwelle zur modernen Literatur. Aber Denkweisen im Sinne der Tradition wirken nach, sofern solche von Sympathie begleiteten Schwächen und Sünden dem schwachen Geschlecht zuerkannt werden. In Hinsicht auf die männlichen Helden aber ergibt sich ein anderes Bild.

Ihre Schwächen sind zumeist die Schwächen halber Helden, wie Schach von Wuthenow, Botho von Rienäcker in ,,Irrungen, Wirrungen“ oder gar der junge Leopold Treibel, der Frau Kommerzienrätin Sohn. Selbst dort, wo sie, wie Hugo Großmann in ,,Mathilde Möhring“ oder Graf Haldern in ,,Stine“, von Krankheit gezeichnet sind, die sie entschuldigen sollte, gewinnen sie unsere Sympathie doch nur zum Teil; denn so recht läßt der Erzähler – sagen wir Fontane – ihre Schwächlichkeit und Kränklichkeit nicht gelten. Aus der Perspektive des Erzählers werden sie im Gegenteil ironisiert; und es ist die allzu lebenstüchtig geratene Witwe Pittelkow, die solche Herabstufungen – doch wohl in Übereinstimmung mit dem Erzähler – vornimmt: „Un mit dem jungen Grafen is nich viel los. Er is man schwächlich, un die Schwächlichen sind immer so un richten mehr Schaden an als die Dollen.“[73] Sie auch ist es, die hinsichtlich des unglücklichen Grafen das letzte Wort behält: ,,Jett, er war so weit ganz und eigentlich ein anständiger Mensch, un nich so wie der Olle, der ans Ganze schuld is; warum hat er‘n mitgebracht? Aber viel los war nich mit ihm; er war doch man miesig.“[74] Die Witwe Pittelkow urteilt hier ebenso lieblos wie die Familie der Halderns, nachdem der junge Graf aufgrund einer Verwundung aus seiner Bahn – sprich: Laufbahn – geworfen wurde, so daß man zu der Auffassung gelangt, es sei nicht mehr viel los mit ihm. Mit der Einschätzung Hugo Großmanns verhält es sich kaum anders. Hier ist es die Mutter der emsigen Mathilde, die sich ähnlich einschränkend äußert: Er sah so stark aus mit seinem Vollbart, aber er war nur schwach auf der Brust […][75]; und man hat den Eindruck, so ganz im Widerspruch zur ,,Einstellung“ des Erzählers steht diese abschließende Beurteilung doch wohl nicht.

Melancholie, Schwermut, Depression scheinen für Männer nicht in Frage zu kommen. Es gibt bei Fontane, sehe ich es richtig, kaum je die Erfolglosen, Gestrandeten und Gescheiterten männlichen Geschlechts, denen wir aus der Perspektive des Erzählers dieselbe Sympathie zuwenden wie den sympathisch schwachen Frauen von der Art Céciles. Die literarische Reihe dieser typischen Figuren männlichen Geschlechts dagegen, denen unsere Sympathie gehört, hat Grillparzer mit seiner Erzählung „Der arme Spielmann“ eingeleitet. Auch Heinz Kirch ist hier zu nennen; denn ein Gestrandeter ist auch er. Erziehung, Reichtum und Gründerzeit haben nicht wenig zu seinem Scheitern beigetragen; denn dieses Meisterwerk Theodor Storms ist gewiß nicht auf die Darstellung zeitloser Generationskonflikte zu reduzieren. Weit mehr geht es um Entfremdungen; innerhalb einer Familie aufgrund wachsenden Reichtums, der die Identifikation des heimkehrenden Sohnes erschwert. Die Zeitkritik über den vermeintlich zeitlosen Konflikt hinaus ist eindrucksvoll. Das gilt erst recht von derjenigen Gestalt, die in dieser Reihe am wenigsten fehlen darf: von Velten Andres in Raabes ,,Akten des Vogelsangs“. Der bewegende Versuch des aktenkundigen Juristen zu begreifen, was da geschieht, wenn in nächster Nachbarschaft der hochbegabte Freund am Leben scheitert, diese mit großer Kunst dargestellte Dichtung der Erfolglosigkeit ist in der Epoche des späten Realismus ganz ohne Vergleich. Daß Helden dieser Art im Werk Fontanes weithin fehlen, wird kein Zufall sein; und man muß ein solches Fehlen auch nicht schon als Versagen beanstanden. Das Werk ist nicht am anderen zu messen, und erst gemeinsam bilden Fontane, Raabe und Storm das herrliche Dreigestirn in der Erzählkunst des späten Realismus. Jeder auf seine Art, aber doch auch gemeinsam, suchen sie Entwicklungen entgegenzuwirken, die in dem Begriff Gründerzeit enthalten sind. Man sollte ihn schon deshalb nicht als einen Epochenbegriff der Literaturgeschichte verwenden, weil die bedeutendsten Autoren ihre Werke gegen den Geist oder Ungeist der Zeit gedichtet haben. Als Schriftsteller sind sie in solcher Zeitkritik keineswegs rückwärts gewandt, sondern höchst modern im Erspüren seelischer Vorgänge gefährdeter Naturen. Auf eine beispielhafte Art gehen Zeitkritik und moderne Sensibilität in Storms Novelle „Auf dem Staatshof“ zusammen. Eine der Zeit und dem Weltlauf nicht mehr recht gewachsene Frauengestalt steht im Mittelpunkt. Die Erzählung endet mit Sätzen, die anzuführen sind, weil sie zu unserem Thema gehören: „Der jetzige Besitzer des Staatshofes ist Claus Peters. Er hatte die alte Hauberg niederreißen lassen und ein modernes Wohnhaus an die Stelle gesetzt. Die Wirtschaftsgebäude liegen getrennt daneben. – Er hat recht gehabt, es geht ihm wohl; er liefert die größten Mastochsen zum Transport nach England, in seinen Zimmern stehen die kostbarsten Möbel, und er und seine Juliane glänzen von Gesundheit und Wohlbehagen. Ich aber bin niemals wieder dort gewesen.“[76] Die Ironie ist unüberhörbar.

In mehrfacher Hinsicht stehen diese späten Realisten der Moderne näher als die Naturalisten mit ihrer noch vielfach ungebrochenen Fortschrittsgläubigkeit. Sie alle haben jene Phänomene schon vorausgespürt, die man später offiziell als Decadence, Degeneration oder zu gut deutsch: als Entartung diffamieren wird.[77] Solche Phänomene der Decadence hat man zumal in der Erzählkunst Fontanes wahrgenommen. Nirgends so offenkundig wie in der Gestalt des jungen Haldern, wenn er der Fabrikarbeiterin Stine Rehbein die Vorzüge einer solchen Decadence zu erläutern sucht: „Ja, Fräulein Stine, das Kranksein, das eigentlich von Jugend auf mein Lebenslauf war, es hat auch seine Vorteile; man kriegt allerlei Nerven in seinen zehn Fingerspitzen und fühlt es den Menschen und Verhältnissen ab, ob sie glücklich sind oder nicht. Und mitunter sogar den Räumen, darin die Menschen wohnen.“[78] Aber auch C.F. Meyer, Storm oder Raabe, wie schon ausgeführt, weisen in der Darstellung solcher Decadenzphänomene auf die beginnende Moderne voraus. Es hat daher durchaus seine Richtigkeit, daß ein Schriftsteller wie Thomas Mann fast bekenntnishaft ausgesprochen hat, was er Autoren wie Storm und Fontane verdankt; der späte Raabe ist ihm leider entgangen, von dem man damals noch zu wenig wußte; und wie diese ist er seinerseits auf Krankheit, Verfall und Decadence nicht um ihrer selbst willen gerichtet. Aber das Gegenteil solcher Phänomene ist immer weniger der Lobpreis des Gesunden und Starken um jeden Preis, jener deutschen Tüchtigkeit, wie sie um die Jahrhundertwende vom programmatischen Realismus und am Ende des Jahrhunderts von einem rigiden Sozialdarwinismus propagiert wurden. Der einzuschlagende Weg führt nicht vorbei, sondern hindurch. Krankheit, Verfall und Decadence sind Mittel, verfeinerte Erkenntnis zu gewinnen, damit im Durchgang neues und gesundes Leben wieder möglich wird. An Rechtfertigungen dargestellten Verfalls fehlt es am wenigsten im Werk Thomas Manns, und nicht einmal in den ,,Betrachtungen eines Unpolitischen“, in denen man sie am wenigsten vermuten sollte, fehlen sie: „Was habe ich im Grunde gemein mit diesem strotzenden Volk, dessen ungeheure Tüchtigkeit heute den Schrecken und die Bewunderung derer bildet, die sich zusammentaten, um es zugrunde zu richten? Chronist und Erläuterer der Decadence, Liebhaber des Pathologischen und des Todes, ein Aesthet mit der Tendenz zum Abgrund: wie käme ich dazu, mich mit Deutschland zu identifizieren […]?“, wird hier gefragt. Die Antwort ist in einem vorausgegangenen Kapitel desselben Buches zu finden: ,,Denn das Häßliche, die Krankheit, der Verfall, das ist das Ethische, und nie habe ich mich im Wortsinn als ,Aestheten‘, sondern immer nur als Moralisten gefühlt.“[79] Oder mit einem Wort Robert Musils, um eine weitere Rechtfertigung anzufügen: „Und auch die Kunst sucht Wissen; sie stellt das Unanständige und Kranke durch seine Beziehungen zum Anständigen und Gesunden dar, das heißt nichts anderes als: sie erweitert ihr Wissen vom Anständigen und Gesunden.“[80]

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist übernommen aus Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Hg. von Thomas Anz. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2018 (online; erscheint gedruckt 2020). Vorlage für die erneute Veröffentlichung dort ist Walter Müller-Seidel: „Das Klassische nenne ich das Gesunde …“ Krankheitsbilder in Fontanes erzählter Welt. In: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 31 (1982), S. 9-27.

Anmerkungen

[1] So z.B. Walther Gerlach in seiner Darstellung innerhalb der Propyläen Weltgeschichte, 9. Bd., Berlin 1960, S. 471: „Die Fortentwicklung der klassischen Physik“.

[2] Im Sinne Gerlachs, S. 472: ,,Daß die klassische Physik auch im sogenannten Atomzeitalter nicht einfach beiseite geschoben werden kann, verdeutlicht am besten die Überlegung, daß sie und nur sie die Grundlage aller Technik ist.“

[3] Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt 1967 (deutsche Ausgabe der 1962 unter dem Titel „The Structure of Scientific Revolutions“ erschienenen Originalausgabe).

[4] Hierzu Hans Robert Jauß: Schlegels und Schillers Replik auf die ,,Querelles des Anciens et des Modernes“, in: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970, S. 67-106.

[5] Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche (GA), Bd. XXIV, S. 332.

[6] GA IX/630.

[7] Ebda, S. 630/1.

[8] Hierzu u. a. Hannsjoachim W. Koch: Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken. München 1973; ferner: Biologismus im 19.Jahrhundert. Hg. von G. Mann. Stuttgart 1973.

[9] Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Frankfurt 1974,S. 53.

[10] Hierzu vor allem Helmuth Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland 1848-1860. Tübingen 1972.

[11] Die Grenzboten, Jg. W2(1850), S. 490.

[12] Ebda, Jg. VIII (1849), S. 340.

[13] Ebda, Jg. X/1 (1851), S. 337.

[14] Zitiert von H. Widhammer (Realismus, S. 83).

[15] Die Grenzboten, Jg. XV/1 (1856), S. 79.

[16] Ebda, Jg. X/1 (1851), S. 128.

[17] So noch 1901 in der Zeitschrift „Die Zeit‘‘ (Jg. XIX, S. 169), in welcher der Arzt Paul Justus Möbius wie folgt urteilt: ,,In der That gehört sowohl die Poesie Hölderlins wie die Lenaus zur ,Lazarettpoesie‘ und das ewige Gejammer wird auf die Dauer ganz unerträglich.“

[18] Die Belege bei H. Widhammer, S. 57, mit aufschlußreichen Belegen aus den ,,Grenzboten“ wie den ,,Preußischen Jahrbüchern‘‘.

[19] Wilhelm Scherer: Friedrich Hölderlin, in: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oestreich. Berlin 1874, S. 353.

[20] Sämtl. Werke, hg. von K. Hoppe. Braunschweig 1952. Bd. VII, S. 406; zitiert von H. Widhammer, S. 13 des oben genannten Buches.

[21] Jg.42/3 (1883), S. 320, zitiert von Hugo Aust in dessen Buch ,,Theodor Fontane: ,Verklärung‘. Eine Untersuchung zum Ideengehalt seiner Werke“. Bonn 1974, dort S. 127.

[22] H. Widhammer, S. 83: ,,Weil die Romantik exzentrisch ist, gilt sie auch für krankhaft, abnorm, und gerade in diesem Punkt versteigt sich die programmatische Romantikkritik in ein oft unerträgliches Biedermeiertum, in eine Gesundmeierei.“

[23] Vgl. Herman Meyer: Der Sonderling in der deutschen Dichtung. München 1963.

[24] Bezeichnend schon der Eingang: ,,Er war ein weitberühmter Arzt und Doctor der freyen Künste, sonst auch ein eugenspieliger Herr und Ehrenmann. Alles dieses ist er auf der sehr alten und sehr berühmten Hochschule zu Prag geworden…“ (Studien. Hist.-kritische Gesamtausgabe, hg. von H. Bergner und U. Dittmann. Stuttgart 1979, S. 11).

[25] Vgl. Odo Marquard: über einige Beziehungen zwischen Aesthetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, in: Literatur und Gesellschaft. Vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert. Festgabe f. Benno von Wiese. Bonn 1963, S. 44.

[26] „Vor dem Sturm“, 4.Bd. 1.Kap. (Sämtl. Romane … Abteilung I. Carl Hanser Verlag 2. Aufl. 1971, S. 497).

[27] Sämtl. Werke. 19. Bd. S. 220.

[28] Wohl nur als ein erster Aufriß zu einem durchaus vielschichtigen Thema ist der Beitrag von Heinz Otto Burger aufzufassen: Arzt und Kranker in der schönen deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, hg. von W. Artelt und W. Rüegg. Stuttgart 1967, S. 89-106.

[29] 23. Kap. (Abt. I/200).

[30] 25. Kap. (IV/223).

[31] 34. Kap. (IV276).

[32] Fritz Trautmann: Von dem Akt und der Krankheit der Effi Briest, in: Zs. f. psychosom. Medizin, 7. Jg. 1960/61, S. 65-68.

[33] Ludolf von Krehl: Die Behandlung innerer Krankheiten. Berlin 1933; zitiert in dem oben angeführten Aufsatz S. 67.

[34] Auf einen 1982 im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft erscheinenden Aufsatz Karl S. Guthke über Fontanes Finessen sei aufmerksam gemacht.

[35] 13. Kap. (IV/105).

[36] Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim 1976. Bd. II, S. 478.

[37] 23. Kap. (IV/199).

[38] 23. Kap. (IV/202).

[39] 35. Kap. (IV/282).

[40] Wanderungen durch die Mark Brandenburg (III/129).Vgl. über Wiesike und die Schopenhauer-Abende: Hans Heinrich Reuter: Fontane. München 1968, S. 648 ff.

[41] 6. Kap. (IV/47).

[42] 13. Kap. (IV/539).

[43] 17. Kap. (II/110).

[44] Sämtl. Wk. 19. Bd. S. 331.

[45] Theodor Storm. Sämtl. Wk. hg. von A. Köster. Leipzig 1924. Bd. VI, S. 124.

[46] 15. Kap. (II/559).

[47] 36. Kap. (IV/294).

[48] GA IX/275.

[49] Tagebücher 1895-1904. Berlin 1922. Bd. I.

[50] Briefe der Gräfin Franziska zu Reventlow. Hg. von Else Reventlow. München 1929, S. 45.

[51] Zum Verstehen bei Fontane vgl. die Ausführungen zum ,,Schach von Wuthenow“ in dem oben genannten Buch von Hugo Aust.

[52] 15. Kap. (IV/664).

[53] 23. Kap. (IV/196).

[54] F. Trautmann: Von dem Arzt … S. 66/67.

[55] Aufsätze Bd. II. Theaterkritiken 1969, S. 805.

[56] Ebda, S. 795/96.

[57] Zitiert in dem Beitrag von Joachim Schobeß: Fontanes Apothekerlaufbahn und ihr Einfluß auf sein literarisches Schaffen, in: Die Pharmazie, 13. Jg. (1958), S. 588/89; der Brief ist datiert vom 21. Juli 1892.

[58] Zitiert von Chr. Coler in der Einleitung zu seiner Ausgabe ,,Meine Kinderjahre“. Leipzig 1955, S. VII.

[59] An Colmar Grünhagen vom 10. Okt. 1895; hier zitiert nach: Dichter über ihre Dichtungen. Theodor Fontane. Hg. von Richard Brinkmann. München 1973. Bd. II, S. 357.

[60] An Alfred Friedmann vom 19.2.1882 (Dichter über Dichtungen II/288).

[61] 2. Kap. (II/483).

[62] 8. Kap. (II/509).

[63] „Sehen Sie, Sie haben ein so gutes Gesicht, ein bißchen schwermütig, aber das tut nichts, das gibt einen Charme mehr […]“ (II/530).

[64] 11. Kap. (IV/94).

[65] 24. Kap. (IV/219).

[66] 18. Kap. (II/260).

[67] 23. Kap. (IV/190)

[68] 21. Kap. (II/277).

[69] 5. Kap. (II/156).

[70] 15. Kap. (II/235).

[71] 17. Kap. (II/247).

[72] Franziska Gräfin zu Reventlow: Gesammelte Werke. Hg. und eingeleitet von E. Reventlow. München 1925, S. 11.

[73] 10. Kap. (II/520).

[74] 16. Kap. (II/565). In der Aufwertung der Pittelkow, die sich auf Aussagen Fontanes berufen kann – vgl. den Beitrag Eberhard Friedrichs in den Fontane-Blättern 1974 – und der Herabstufung des Grafen liegt in ungeklärter Widerspruch der erzählerischen Perspektivik. Denn der junge Haldern verdient diese Herabstufung keineswegs. Er ist eine Art Kriegsopfer geworden, den die Familie fallen läßt, weil sich deren Weltbild des starken und tüchtigen Menschentums mit einem solchen Zustand der Kränklichkeit nicht verträgt. Und wie man über diese doch nicht unehrenhafte Kränklichkeit denkt, bekommt der junge Haldern von seinem Onkel unmißverständlich zu hören: „Daß du mich beerbst, versteht sich von selbst, ich wünsche dir jedes erdenkliche Glück. Aber eines, wenn es eins ist, wünsch ich dir nicht. Ein Mann wie du heiratet nicht. Das bist du drei Parten schuldig: dir, deiner Nachkommenschaft (die bei kränklichen Leuten wie du nie ausbleibt) und drittens der Dame, die du gewählt“ (II/535). Diese Widersprüchlichkeit in der Anlage, dieses Zurückweichen vor dem, was eine solche Krankheitsgeschichte wie diese womöglich bedeuten könnte, hat Dietrich Bode in seinem Nachwort zur Ausgabe in Reclams Universalbibliothek (1970) ausgezeichnet durchleuchtet.

[75] 17. Kap. (IV/674).

[76] Sämtl. Wk. II/35.

[77] Hierzu Max Nordau: Entartung. Berlin 1893. 2 Bd.

[78] 8. Kap. (II/509).

[79] Ges. Wk. Prankfurt 1960. Bd. XII. S. 153: S. 106/107.

[80] Ges. Wk. Hg. Von A. Frisé. Hamburg 1978. Bd. VIII, S.980.