„Nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens“

Zum 95. Geburtstag von Friederike Mayröcker

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Die große österreichische Dichterin Friederike Mayröcker feiert am 20. Dezember 2019 ihren 95. Geburtstag. Ihr hohes Alter hält sie nicht vom Schreiben ab. Nach wie vor veröffentlicht sie Bücher, die höchsten literarischen Ansprüchen genügen.

Ihn ihrem letzten Buch mit dem Titel Pathos und Schwalbe (2018) geht es, wie in vielen ihrer Bücher, um Vögel und Blumen. Beide sind Zeichen des Lebens und der Hoffnung und überwinden mit ihrer Luftigkeit und Leichtigkeit und ihrer Buntheit die enge Schreibwelt der Autorin, ihr „Geviert“, in das sie sich „vergräbt“, wenn sie arbeitet. Mayröcker gelingen wunderbare Blumenbilder: „ich habe beobachtet wie die Blumen um die Ecke guckten aus dem Fenstergärtchen um die Ecke guckten ich meine sie beugten sich vor und guckten um die Ecke dasz ich sie sehen konnte also ihre Köpfe irrten umher“. Wenn sie von den glücklichen Kindheitstagen spricht, redet sie von der „Jugendwiese mit Hundsveilchen“ oder den „umschmusenden“ Heckenrosen, „Mama’s Lieblingsblumen“. Und immer wieder werden Vögel und Blumen in der Erinnerung mit Liebe gleichgesetzt: „Waldvögelchen ohnegleichen, damals gingen wir Hand in Hand und im Stadtpark blühte der Flieder.“ Den Freund und Geliebten von einst, Ernst Jandl, der 2000 verstarb, verbindet sie in der Erinnerung mit Zeilen wie „Tupfen und Tulpen die auf deinen Nacken tätowierten Blütenzweige schienen beseelt“.

Ihre Dichtung kennt aber auch die andere Seite des Lebens: die Mühen des Alters, das Alleinsein, die Angst vor dem Tod und vor allem den Schmerz um den Tod des Geliebten. Ihre wunderbaren Liebesgedichte erinnern mit berührenden Sätzen an Ernst Jandl.

Ihr Geburtstag soll Anlass sein, drei ihrer vielen Texte vorzustellen.

was brauchst du

Das Gedicht was brauchst du aus dem Jahr 1995 hat Friederike Mayröcker häufig öffentlich vorgetragen. Es ist wohl eines ihrer Lieblingsgedichte und in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für ihr Werk.

was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie grosz wie klein das Leben als Mensch
wie grosz wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie grosz wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

Dieses einfache Gedicht, das in seiner Sprachhaltung und Intensität einem Gebet ähnelt, zählt auf, was der Mensch „braucht“: mehr als alles andere wohl die Erkenntnis, dass das Leben „grosz“ und „klein“, also nicht ohne weiteres greifbar oder bestimmbar ist und dass es darauf ankommt, das zu erkennen, was wirklich zählt. Es ist ein Text darüber, dass zu einem Leben gehört, unterscheiden zu können und sich zu bescheiden. Es geht nicht um falsche Bescheidenheit. Gemeint ist eine Selbst-Bescheidung, die eine neue Perspektive auf das Innere des Menschen und die Größe der Welt um ihn herum ermöglicht.

Es ist auch ein Gedicht über die Existenz einer Dichterin. Die Verhaltensweisen und Wahrnehmungen, aus denen die dichterische Kraft erwächst, werden am Ende aufgezählt. Es sind kontemplative Eigenschaften, die so alltäglich sind, dass sie leicht übersehen und vernachlässigt werden, aus denen aber eine große Energie erwachsen kann und die deshalb offensichtlich für das Gelingen von Sprachwerken wichtig sind. Diese werden auch bestimmt durch das Wissen und die Erfahrung der Dichterin, dass ihr Werk Dimensionen hat – in Ausdrücken wie „Gestirne“ oder „Himmel“ werden sie angedeutet –, die den Alltag weit übersteigen. Nicht zufällig endet der Text mit dem Wort „Himmel“. Es deutet eine religiöse Seite dichterischen Schreibens an.

Friederike Mayröcker geht an mehreren Stellen ihres Werkes sowie in Interviews auf diesen religiösen Bedeutungsbereich ein. In dem Text Gott beispielsweise spricht sie über ihre religiöse Haltung, ohne allerdings Einzelheiten mitzuteilen. „Ich glaube sehr fest an den Heiligen Geist“, sagt sie und wiederholt damit Sätze, die sie so ähnlich manchmal in Gesprächen mit Journalisten äußert und die auch Ernst Jandl über sie gesagt hat. In dem Zusammenhang betont sie aber: „das ist mein Geheimnis“, und blockt damit weitere Nachfragen ab.

Mayröcker verknüpft ihr Schreiben mit einer Dimension, die über die Wirklichkeit, die sie vorfindet, hinausgeht. In Ausdrücken wie „Gottessen“ oder „Fittichen“ oder „Manna / Himmelsbrot“ und ähnlichen Sprachbildern ihrer Texte wird diese „überirdische“ Seite des Schreibens beschworen. Eindringlich stellt sie das in den folgenden Sätzen aus den Magischen Blättern VI (2007) dar; das Wort „Himmelssprache“ wird dreimal wiederholt:

ich fiebere leicht in den Himmel, so rumoren 1 bißchen, sage ich zu ihr, in dieser Himmelssprache, sage ich, so hingaloppieren, hineingaloppieren in diese Himmelssprache, süße Himmelssprache, sage ich zu ihr, mehr verlange ich gar nicht mehr in dieser meiner mir verbleibenden Zeit

Schreiben ist Teil ihres Lebens. Beide bilden eine Einheit. Der berühmte Satz aus Cahier (2014) „nicht nur das Geschriebene auch die Existenz musz poetisch sein“ erhält von dem Gedicht was brauchst du, vor allem von dessen Schlusszeilen her noch einmal eine besondere Bedeutung: Schreiben als künstlerische Tätigkeit wird wie selbstverständlich eingerahmt von Wörtern, die alltägliche Beschäftigungen ausdrücken.

zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

Dichten braucht, wenn man diesen Zeilen folgt, die Genialität, aber auch die einfachen Verrichtungen und Tagesabläufe. Leben geht in Dichtung über und Dichtung ist mit dem Leben eng verbunden.

Alpensprache Rohrmoos

Das Gedicht entstand 2003. In dem Dorf Rohrmoos in der Schladminger Alpenregion verbrachten Mayröcker und Jandl, vor allem in den 80er Jahren, Sommer für Sommer ihren Urlaub. In dem Gedicht ist dieser biografische Umstand nebensächlich. Rohrmoos – es gibt mehrere Gedichte, die das Motiv aufgreifen – wird zu einem Bild der Nähe und Vertrautheit zweier Liebender und gleichzeitig zu einem Ort tiefer Trauer, weil er wegen seiner außergewöhnlichen Atmosphäre den Liebenden die Endlichkeit und Begrenztheit ihrer Liebe eindrücklicher als jeder andere Ort bewusst macht. Ihre Liebe lässt sie ihr nahendes Lebensende als schmerzlich erleben. – Alpensprache Rohrmoos ist ein Liebesgedicht voller Innigkeit und gleichzeitig voller Trauer. Die überraschende Zeitform der Gegenwart in „setzen“ in der Schlusszeile gibt dem Gedicht eine über den Moment des Erinnerns hinausgehende Bedeutung:

damals im Gebirge August waren die Abende kühl aber
unsere Seelen brannten zählten nachts die Sterne am Himmel erkannten
den Groszen und Kleinen Wagen Kassiopeia und Venus schliefen
einander in Armen haltend am Morgen die bloszen
Füsze im Tau gebadet flügelschlagende
Wälder. Manchmal ins Städtchen hinunter um Honig zu holen Stifte
Papier und Wein zirpende Andacht. Wir
setzen uns mit Tränen nieder denn unser Leben war zu kurz

Jahre später schreibt Mayröcker am Ende ihres Buches ich bin in der Anstalt (2010) ähnlich resignative Sätze über die Flüchtigkeit des Lebens:

ich bin die geprügelte Seele eines Hundes, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei und das Ende der Reise sei nahe.

Die Einsicht in den tragischen Zusammenhang zwischen der Schönheit des Lebens und seiner Endlichkeit durchdringt Mayröckers Dichtung und ist die Ursache für die melancholische Grundstimmung ihres dichterischen Werks. Über allem liegt die Melancholie eines Erinnerns von Glück, einer Sehnsucht nach Glück, nur noch selten das Erlebnis von Glück. Es ist die Melancholie des Abschieds, des Wissens um die eigene Vergänglichkeit, um die Vergeblichkeit, Leben festhalten zu können.

Mayröckers Dichten ist deshalb auch ein Schreiben gegen den Tod, der Versuch, mit Hilfe der Sprache dem Tod das entgegenzusetzen, was ihn vielleicht bannen, auf jeden Fall überdauern kann, nämlich Sprachkunst. Die vielen Namen und Bilder für den Tod lesen sich manchmal wie Beschwörungsformeln; als wollte die Dichterin dem Tod mit Sprachmagie zu Leibe rücken, sich von ihm befreien, ihn stellen und für immer bannen. So heißt es in dem Gedicht für Ernst Jandl (18.3.1990):

der Tod sage ich
diese vertrackte Haarnadelkurve eine Frivolität eine Verdammung sage ich

Und in brütt (1998) nennt sie den Tod den „Jenseitsvogel“, der seine Füße auf ihren „gebeugten Rücken“ setzt. Sie hadert mit ihm und scheut nicht vor wilden Beschimpfungen zurück:

ich küsse den Tod : ich hasse den Tod, ich verpasse ihm den TODESKUSS, es ist 1 Unrecht 1 Frevel 1 Skandal, daß es den Tod gibt.

Ein paar Zeilen später schreibt sie:

voller Wut und Verwilderung bin ich, angesichts dieser Ausweglosigkeit des eigenen Todes […]

Daß wir uns, daß wir einander, du und ich […] einmal alle verlassen (aufgeben) müssen, ist wohl der ärgste Mißgriff, der schlimmste Hohn, der grimmigste Fehler in der sogenannten Schöpfungsgeschichte.

In Requiem für Ernst Jandl (2001) bedenkt sie den Tod ebenfalls mit Schimpf und Schmäh:

jammervoll ist der Tod, erbärmlich ist der Tod, viele Schmählichkeiten sind der Tod, 1 Zerbrecher und Verstörer ist der Tod.

Und einmal schreibt sie darüber in einer fast frivolen Weise, in der die Verzweiflung über das unausweichliche Ende scharf zum Ausdruck kommt:

Dort hinten hinter mir da hockt die grosze Angst: Schmachtlocke Tod (dieses Jäckchen nämlich des Vogel Greif)

Mit jeder Veröffentlichung in den letzten Jahren wird diese Auseinandersetzung mit dem „Jenseitsvogel“ aggressiver und verzweifelter. Mayröckers Unverständnis für die Endlichkeit des Menschen schlägt sich zuweilen in bizarren Formulierungen sowohl in ihren Texten wie auch in Interviews nieder. So sagt sie 2008 in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau auf die Frage, ob sie sich je mit dem Tod versöhnen könne:

Nein, nein. Der Tod ist ekelhaft. Er ist ein Eklat, ein Skandalon, eine Frivolität, eine Schmach, eine Verdammung und eine Herabsetzung des menschlichen Lebens. Und der große Stachel des Todes ist, dass man nicht weiß, wohin es geht.

In fleurs (2016) häuft sich die Formulierung „weh mir“ als ein Ausdruck der Klage über den Tod:

Weh mir bin zerrütteterer Mensch, weh mir, man behandelt mich wie ein Kind, weh mir die Todesnähe.

Klagen und Weinen bleiben die hilflosen Reaktionen ob dieser „Verdammung“, deren sich die Schreiberin durch den frühen Verlust geliebter Menschen und wegen ihres Alters schmerzlich bewusst wird.

Es ist eine monströse Vorstellung, sich vom Schreiben verabschieden zu müssen. Das Tod-sein bedeutet eine Abnabelung von dem, was man an Intimität mit sich selbst gehabt hat.

Aber die Dichterin Mayröcker überwindet ihre fundamentale Hilflosigkeit im Angesicht des Todes, ein Stück wenigstens, durch das Schreiben selbst. Ihre Dichtung der letzten Jahrzehnte ist ein Auflehnen gegen das Ende des Lebens. Es ist der Versuch, dem Tod in der Dichtung etwas Dauerhaftes, etwas, das nicht „stirbt“, entgegenzusetzen. Und es ist gleichzeitig der verzweifelte Versuch, im Schreiben die verrinnende Zeit „aufzuhalten“, die Vergänglichkeit zu „überwinden“. – Natürlich weiß Mayröcker, dass ihre eigene Vergänglichkeit durch Kunst, und sei sie noch so vollkommen, nicht wirklich überwunden werden kann. Aber da sie in ihrem Werk aufgeht, ist Schreiben mehr als nur eine „Flucht“ aus dem Wissen um das Sterben. In ihrem Schreiben verwirklicht sie auf absurd-magische Weise ihr „Überdauern“.

DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE

Das Gedicht entstand am 4. 6. 2000, wenige Tage vor Ernst Jandls Tod:

DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE

an dieser hinschmelzenden Erde an diesem Baldachin eines
Junihimmels dessen Bläue in Wellen gebauscht und mit tiefen
Schwalben: ich meine trunken und zuweilen verborgen, scheinen
sich zu verbergen in irgend Buchten und Malven Holunderbäumen:
wilden Monstranzen .. die Luft ist wie damals, ja, die Luft
wie damals in D., die Zirren nein Zirben die Wolfsmilchstauden
VON ANBEGINN: alle Schmerzen aller Wahn schon Ewigkeiten vorher
seit Ewigkeiten erlitten, die lilies Magnolienfelder, von oben
von irgendwoher ich glaube aus verhülltem Gezweig diese
einzelne Stimme mich durchdringt: mein unsichtbarer
Liebster in dieser Baumkrone ach jubiliert! diese Lust diese
Süsze ich KLEBE an dieser Flammen Erpressung an diesem
Licht an diesem Himmel, sage ich, etwas Hawai oder möchte
in BURGUNDISCHEN GÄRTEN über Maszliebchen Erde..was!
Flitzerei / plötzlicher Engel, habe diesmal versäumt
die ersten Schwalben zu sichten in ihrer Inbrunst nicht wahr,
diese Luftbeute, Wollust der Augen, ach ich KLEBE an diesem
Leben an diesem LEBENDGEDICHT.

Dass im letzten Wort des Textes „Leben“ und „Gedicht“ verbunden werden, ist ein dichterisches Versprechen: Leben und Poesie sind eins, durchdringen und vermengen sich. Seit ihren schriftstellerischen Anfängen in den späten 1930er Jahren hat Mayröcker das auf einzigartige Weise vorgelebt und daraus ungeahnte Kräfte und Impulse für ihre dichterische Arbeit gewonnen. Ihre Freude am Leben und am Schreiben wurzelt in dieser unauflöslichen Verbindung. – Mit dem Satzzeichen Punkt schließt Mayröcker nur wenige Texte ab. Der Punkt hinter der Schlusszeile in diesem Gedicht bedeutet mehr als nur ein Satzende. Er steht als Ausrufezeichen und betont das Schlusswort in Großbuchstaben; er besiegelt das Bündnis Leben und Poesie.

Was kann man einer 95jährigen Schriftstellerin zu ihrem Geburtstag wünschen? Am besten das, was sie sich selbst am Ende ihres GedichtsVersilbung, -silberung eines Morgens während im Nebenraum John Dowlands Verbalisieren des Himmels (2009) ersehnt:

nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens nur nicht enden ich
habe ja erst angefangen zu schauen zu sprechen zu schreiben zu weinen
und hinter den Jalousien das mich scheuchende Licht des Morgens, oh
sprieszendes Blut und Blüte des Leibes, „Privatisierung der Litera-
tur“ (JD), Wahnwitz der Heiligkeit dieses Lebens das ich ans Herz
(drücke), das mir so teuer – wahrlich dieser mich umarmende Hori-
zont Gabe meiner Bekenntnisse während wehende Veilchen