Die „Hexe Einsamkeit“ war ihm eine vertraute Gefährtin gewesen
Gunnar Decker hat zum 150. Geburtstag Ernst Barlachs am 2. Januar 2020 die erste große Biographie über ihn vorgelegt
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie „menschliche Situation in ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde“ hat Ernst Barlach als das beherrschende Thema in seinem künstlerischen und literarischen Schaffen bezeichnet. So wie er selbst sein „wahres Wesen in einer dunklen, unbewussten Tiefe“ suchte, waren für ihn auch alle seine Gestalten „nichts anderes als zum Sprechen und Handeln geborene Stücke dieses unbekannten Dunkels […], sehnsüchtige Mittelstücke zwischen einem Woher und Wohin“. Ihm ging es um das Aufspüren und Sichtbarmachen elementarster menschlicher Befindlichkeiten. Seinen Gebeugten und Bedrückten, Leidenden, Sorgenden, Verzweifelten, von Entsetzen Heimgesuchten, Außer-Sich-Geratenen, mit ihren Traumvisionen Kämpfenden, Wegsuchenden, Liebenden, Widerstand Leistenden, leidenschaftlich Handelnden stehen Gestalten gegenüber, die aus aller erdhaft düsteren Gebundenheit gelöst erscheinen, schweigend Verharrende, selbstvergessen Lauschende, Staunende, Hoffende, im Universum Forschende, Lesende, Meditierende, Singende, Musik Empfangende. Hinter der Augenfälligkeit der äußeren Erscheinungen wollte er das Verborgene, hinter der Maske der Wirklichkeit die andere Wahrheit, hinter dem äußerlich Aufgeprägten, Fremden das Eigene, nur dieser Gestalt Eigentümliche, Identische entdecken. Wirkliches und Unwirkliches, Spürbares und Nicht-Spürbares sollten auf unterschiedliche Weise ineinander verwirkt, Unsichtbares sichtbar gemacht werden.
Doch über die Beschaffenheit dieses “Ich“ war sich Barlach höchst ungewiss: „Ob überhaupt irgendwo ein Ich ist, das weiß, was los ist? Was der ganze materiell-geistig-seelische Gärungsprozess bedeutet?“ Er selbst hat immer wieder von seiner eigenen Zerrissenheit, seinem inneren Zwiespalt gesprochen. Orientierungslosigkeit, Ohnmacht, Entfremdung und Angst standen einem übersteigerten Selbst- und Sendungsbewusstsein gegenüber. Gefühl und Wille, Vitalität oder Melancholie – ein Riss ging mitten durch seine Künstlerexistenz. In zahlreichen Zeugnissen ist von diesem verunsicherten, rätselhaften „Ich“ die Rede: „Das Phänomen Mensch ist auf quälende Art von jeher als unheimliches Rätselwesen vor mir aufgestiegen“. Barlach hatte jedoch Nietzsches dionysischen Pessimismus verinnerlicht, so dass er diesen Zustand als Schicksal hinnahm und „den Zwiespalt als Essenz des Lebens bejahte“. Als Vitalist anerkannte er Leid und Unglück, weil es ein Glücksempfinden erst ermöglichte. „Die Zwie- und Tausendspältigkeit ist das Ziel, das die große Einheit schafft […]. Glück ist nicht ohne Not, Erlösung nicht ohne Sünde. Die ewige Harmonie braucht ewige Dissonanz.“
Sein Leben lang war Barlach die „Hexe Einsamkeit“ eine vertraute Gefährtin gewesen, er mochte sie lieber „als hundert andere mit fetter, feister Behäbigkeit“. Denn sie ließ ihn ganz „ich selbst“ sein, auch wenn er dieses Ich als „ein dunkles Wunder“ empfand und schließlich als „etwas Fremdes, aber doch Verwandtes“ anerkannte.
Nun hatte man ja erwartet, dass einer der ausgewiesenen Barlach-Spezialisten, etwa Elmar Jansen, die erste große Barlach-Biographie schreiben würde. Aber jetzt ist sie von einem in der Barlach-Forschung völlig Unbekannten vorgelegt worden, der in jahrelanger intensiver Arbeit eine wirkliche Meisterleistung vollbracht hat. Allerdings hat deren Autor Gunnar Decker durch seine Biographien zu Hermann Hesse, Gottfried Benn, Franz Fühmann, Georg Trakl und Franz von Assisi längst einen Namen und wurde 2016 auch mit dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste ausgezeichnet.
Das biographische Feld ist bei Barlach sehr gut bestellt. Barlach hat sein Leben selbst erzählt, zumindest bis 1909/10, als er in das mecklenburgische Güstrow übersiedelte. Er hat Tagebuch geführt, das Russische Tagebuch wird zu einem Dokument der Wende, das Güstrower Tagebuch beschreibt seine Wandlungen zwischen dem Kriegsausbruch 1914 und November 1917 – da bricht es ab –, vom Kriegsbefürworter zum Skeptiker und Gegner des Völkermordens. Fast täglich hat er Briefe gewechselt, gut 2200 Briefe sind bis heute bekannt – und nun liegt auch seine mehrbändige Briefausgabe vor –, vor allem mit seinem Vetter Karl Barlach, dem Verleger-Freund Reinhard Pieper oder dem Feuilletonisten Friedrich Düsel, der auch die letzten Worte am Grabe Barlachs sprach. Friedrich Schult hat seine Gespräche mit Barlach notiert, andere wie Karl Barlach, Tilla Durieux oder Paul Schurek haben ihre Erinnerungen an den Künstler hinterlassen. Die einzelnen Lebensstationen Barlachs sind gut ausgeleuchtet, über ihn als Bildhauer, Zeichner, Grafiker, Dramatiker und Erzähler ist vielfach geschrieben worden. Das Bild Barlachs scheint festgefügt – und ist doch rätselhaft geblieben: Barlach, der Expressionist, der Mystiker, ein Protagonist der Moderne und dennoch ein eigensinniger Einzelgänger, einer, für den die Grenze zwischen Hier und Damals, Diesseits und Jenseits, Himmel und Erde, Leben und Tod nicht zu existieren scheint.
Der Schwebende – diesen Untertitel trägt die Biographie Deckers, und dabei denkt man vornehmlich an den „Schwebenden Engel“ im Dom zu Güstrow, der die Gesichtszüge von Käthe Kollwitz trägt. Aber das Motiv des Schwebens zieht sich durch das ganze Werk Barlachs. In dem Doppelrelief Die Vision aus dem Jahre 1912 klingt zum ersten Mal dieses für ihn dann so charakteristische Motiv auf, der traumhafte Wille zum Schweben, die Loslösung des Schweren von der Erde. Barlach selbst hat es als „Befreiung aus der Dumpfheit und Enge“ gedeutet, „also lauter Dinge, die abnormes, gesteigertes Dasein andeuten“. Er stellt seine Figuren in den Zwiespalt zwischen Himmel und Erde. Diese schwebende Gestalt ist ein Vorbote des Güstrower Domengels, hier aber weniger starr, milder und wärmer, nicht den Tod kündend, sondern das Leben. Groß und gelassen schwebt sie dahin, in gebauschtem Gewand, mit fliegenden Haaren und klar geformtem Antlitz, mächtig die Schlafende beschattend. Zwei Sphären begegnen sich, wollen eins werden, aber gelangen nur so weit zueinander, dass eine geheimnisvoll elementare Spannung entsteht. Zwischen beiden liegen zwar Welten, aber beide werden doch als Teile eines Ganzen, als Einheit von Irrealem und Realem, von Himmel und Erde verstanden. Das Schwebemotiv zeigt die Figuren jeweils in einer Grenzsituation menschlichen Seins und Bewusstseins.
1906 hatte Barlach in Russland das große Erlebnis, das ihn zu sich selbst finden ließ. In der Grenzenlosigkeit der Landschaft konnte sich das Menschliche, verkörpert vor allem in den Bauern- und Bettler-Figuren, jenen alltäglichen Sinnbildern für die unvollkommene menschliche Kreatur, nur behaupten als „kristallisierte festgeformte Gestaltung“. In den russischen Steppenbewohnern fand er das Urbild des Menschlichen – nicht nur das naturalistische Abbild einer in sich ruhenden Leiblichkeit –, die menschliche Figur im Raum, ausgesetzt den Natur- und Schicksalsgewalten, gegen die sie sich zu behaupten hat. Mensch und Landschaft hat er in einer symbolhaften Einheit gesehen. Die Russische Bettlerin mit Schale und der Blinde Bettler (beide 1907) erzeugen jetzt jene Magie, schreibt Decker, die fortan Barlachs Figuren ausmacht. Aber auch das Persönliche im Leben Barlachs wird von ihm herausgearbeitet. Dem Kampf Barlachs um den Sohn Klaus widmet er ebenso viel Aufmerksamkeit wie dessen Beziehung zu dem Galeristen Paul Cassirer, den Begegnungen Barlachs mit Theodor Däubler, die Bekanntschaft mit Friedrich Schult, in dessen Frau sich Barlach verliebt, wodurch er für lange Zeit einen Freund verliert. Über seine Beziehung zu Marga Böhmer, die 1925 in sein Leben tritt, schweigt Barlach. Erst der von Inge Tessenow 2012 herausgegebene Briefwechsel hat Auskünfte dazu gegeben. Die ihm eifrig angebotenen Dienste ihres Mannes Bernhard A. Böhmer, der „ein Dandy und Geschäftsmann skrupelloser Art“ ist, so Decker, kann Barlach bald nicht mehr missen; er wird zu seinem ungeliebten Manager.
Ausführlich geht Decker auf die Stücke Barlachs und deren Aufführungsgeschichte ein, er erzählt die Geschichte der Aufträge, der Denk- und Mahnmale Barlachs, während er sich bei dessen Plastiken, Grafiken und Zeichnungen zurückhält. Unter Barlachs fünf Ehrenmalen des Ersten Weltkrieges erregte das Magdeburger Totenmal von 1929 den stärksten Anstoß, weil es den Krieg unmittelbar als Leiden, als Trauer und Mahnung charakterisiert. Barlach berichtet Hugo Sieker im Januar 1933 von dem Gefühl, auf einem Vulkan zu sitzen, während das Radio Wut, Hass und Mord propagiere, man ins Ausland flüchte und er glaube, dass der NS-Terror länger dauern würde, als er abwarten könne. Die Ehrenmale in Magdeburg und Kiel (Der Geistkämpfer) werden 1934 und 1937 abgebaut, 1938 wird auch der Schwebende Engel im Güstrower Dom abgehängt. Güstrow ist Barlach immer fremder geworden, längst nicht mehr die Zuflucht vor der Welt, die er einst hier suchte.
Barlach und der Nationalsozialismus – hier bringt Decker neue Aspekte ein. Barlach will sich weder von den Nationalsozialisten instrumentalisieren lassen noch seine vielleicht letzten Gönner unter den neuen Machthabern vor den Kopf stoßen. Denn Goebbels hat sich als zwischenzeitlicher Sympathisant der „nordischen Moderne“ erwiesen, der zunächst auch Barlach zu akzeptieren schien. Dann aber war Goebbels auf die Seite von Alfred Rosenberg und Hitler gewechselt, die von „entarteter Kunst“ sprachen. Warum hat Barlach den Aufruf der Kulturschaffenden von 1934, diese unterwürfige Ergebenheitsadresse an Hitler, unterschrieben? Decker stellt Fragen, äußert Vermutungen, hütet sich vor definitiven Feststellungen. Aber trägt Barlachs Kritik an den Machthabern und den Menschen, „die einen Anstreicher anbeten“, so an R. Pieper vom 21. Mai 1936, nicht deutliche Züge der persönlichen Enttäuschung und Verbitterung? Sie dürfte kaum politisch motiviert gewesen sein. Barlach hat sich selbst als politischen Dilettanten bezeichnet (Brief an W. Katz vom 15. September 1934). In dem Hamburger Fabrikanten Hermann F. Reemtsma findet Barlach einen neuen Förderer, doch die von ihm initiierte Ausgabe der Zeichnungen (1935) wird beschlagnahmt. Aber der Fries der Lauschenden (1930/35), jene acht schlanken Figuren, rhythmisch zusammengehalten zu einer Gemeinschaft – sie lauschen nach außen und in sich hinein –, kann Reemtsma übergeben werden. Dann entlädt sich jenes Gewitter der kulturellen Säuberung des NS-Staates, das 1937 auch für Barlach zum „schlimmsten Jahr“ werden lässt: Hunderte seiner Werke werden beschlagnahmt, Barlach in die Schandausstellung „Entartete Kunst“ aufgenommen. Ihm wird Ausstellungsverbot erteilt. Postkontrollen und Hausdurchsuchungen runden das Bild des nun als Emigrant im eigenen Land Lebenden ab („Ich erfahre somit eine Ausgestoßenheit, die der Preisgabe an Vernichtung gleichkommt“), der im folgenden Jahr verstirbt. Im Zentrum seines letzten literarischen Werkes, dem 1936/37 entstandenen Romanfragment Der gestohlene Mond, steht – wie in seinen späten Plastiken – die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Barlach ist noch nicht begraben, da beginnt bereits der Kampf um sein künstlerisches Erbe. Mit dem Schlussteil „Das Nachleben Barlachs“ hat Decker noch einmal ein wichtiges Kapitel zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte geschrieben.
Der Barlach-Biograph Gunnar Decker hat den langen Atem eines Erzählers, der Querbezüge herstellt, ausschweift, dann sich wieder fängt, Geschichten erzählt, wunderbar zu plaudern versteht, dann wieder durch seine treffenden Bemerkungen, seinen analytischen Verstand und sicheres Urteil auffällt. Man liest seine Biographie wie einen spannenden Erlebnisbericht. Es ist dies eine Publikation, in der der Leser seine eigenen Entdeckungen machen kann, ohne dass er sich durch die Auffassungen des Autors in irgendeiner Weise festgelegt fühlen muss. Selbst dem mit dem Werk Barlachs Vertrauten eröffnen sich überraschende Bezugsfelder und Zusammenhänge in der Lebensgeschichte Barlachs, der Thematik und Motivik seiner Werke, im Ausdruckswillen und in der geistigen Grundhaltung dieses einzigartigen Künstlers.
|
||