Über die Tragik des Alltäglichen

Carl Nixons Erzählband „Fish ’n‘ Chip Shop Song“ erzählt unaufgeregt und gerade deshalb eindringlich, wie vermeintliche Kleinigkeiten unser Leben prägen

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Tod von Maurice Harbidge ist im Geschehen der kleinen Stadt ein Gesprächsthema für wenige Tage, ein Anlass, das Schicksal der Mutter zu bedauern, sich über die Einsamkeit und damit Gefährlichkeit der Landstraßen in den Bergen auszutauschen, oder um sich auf der Beerdigung zu versammeln, bevor in den Alltag zurückgekehrt wird. So ist es jedenfalls für die Erwachsenen und deren Umgang mit den Sensationen des Alltags, die für kurze Zeit eine Gänsehaut auszulösen vermögen.

Für die Kinder und Jugendlichen ist es jedoch ganz anders. Im Verlauf dieser ersten Erzählung in Carl Nixons Band Fish ’n Chip Shop Song wird deutlich, dass Maurice in deren Welt eine überraschend wichtige Rolle spielte. Seine große Bedeutung verdankte Maurice King Tut, einem Ara, seinem ständigen Begleiter, mehr noch, seinem Gefährten, den der junge Mann vor vielen Jahren von seinem früh verstorbenen Vater bekommen hatte. Seinetwegen war Maurice „einer der berühmtesten Leute“ der Stadt, sprachen die Kinder ihn an, kamen sie in den Laden von Maurice‘ Mutter. Beider Verschwinden bedeutet einen großen Verlust, während in der Welt der Erwachsenen nach Maurice‘ Unfalltod niemand mehr nach diesem ständigen Begleiter fragt. Niemand nimmt sich dessen Trauer an, bis der Ich-Erzähler schließlich den Vogel durch Zufall wiederentdeckt und damit erstmals das ganze Ausmaß möglicher Trauer zu sehen bekommt, das ein Lebewesen wohl durchleiden kann. Aus Mitgefühl über das Schicksal des Papageis dreht der Erzähler ihm wie selbstverständlich den Hals um. Im Tod kann das Tier dann seine Rolle als Gefährte und leuchtendes Beiwerk wieder einnehmen, begraben bei Maurice, eine Feder als Zeichen seiner Anwesenheit in die Erde gesteckt.

Carl Nixon erweist sich bereits in dieser ersten Erzählung (King Tuts letzte Feder) als Meister der kleinen Details. Diese Details beeinflussen unaufdringlich und vermeintlich unbedeutend das Leben und leiten Stimmungen, die so unterschwellig den Alltag begleiten, dass ihre Bedeutung meist nur am Rand wahrgenommen wird. Es sind Momente, die für einen Augenblick innehalten lassen, ohne ein Zuviel an Bedeutung zu erlangen. Wir merken auf und schütteln dann den entstandenen Eindruck, der mehr ein Gefühl denn eine konkrete Wahrnehmung ist, wieder ab, um im Alltag weiterzugehen. Für Leser*innen ist spürbar, dass, und auch, warum, nach der unvermeidbar erscheinenden Zusammenführung der beiden toten Gefährten der Nebel von den Bergen hinabsteigen und die Stadt umhüllen kann. Auch die Einsamkeit der neuseeländischen Landschaft wird imText greifbar.

Diesen Stil behält Nixon in allen Texten des Erzählbandes bei. Ohne ein Wort zu viel zaubert er Bilder vor das Auge der Lesenden, die klar Situation und jeweilige Stimmung wiedergeben, als stehe man neben den Protagonisten. Unaufgeregte Szenen des Alltags behalten ihre Normalität und bewahren dennoch die Bedeutung, die sie im Leben der Betroffenen haben, beispielsweise wenn Ron in Die Schlacht um Kreta auf Drängen seiner Tochter Margaret nach Kreta fliegt, um noch einmal zu sehen, wo er als Soldat im Zweiten Weltkrieg war. Ron ist alt und versucht, seine Selbstständigkeit zu bewahren, indem er seine Gebrechen vor Margaret versteckt. Margaret ihrerseits steckt in einer unglücklichen Ehe fest und möchte der Vergangenheit ihres Vaters vielleicht deshalb so viel Gewicht geben – die Schlacht um Kreta findet jedenfalls offenbar an überraschend anderer Stelle statt.

Ähnlich kunstvoll ist auch in Seines Auges Apfel das Spiel mit Titel und Bedeutung. Hier nimmt ein Mann vorübergehend eine schwangere Frau bei sich auf. Ihr bald zur Welt kommender Sohn wird zum Mittelpunkt seines Lebens, bis beide nach Jahren zusammen mit dem Vater des Kindes ebenso plötzlich wieder verschwinden. Was bleibt, ist ein abendliches Ritual, ein Spiel, das an den Jungen erinnert und nach außen hin als Einziges auf die unschließbare Lücke hindeutet, die sein Weggehen gerissen hat. Und auch in Das Badefloß, in dem ein junger Vater am Tod seines kleinen Sohnes zu zerbrechen droht, geht es weniger um diesen Unfall an sich, als um die Bedeutung von Erinnerungen und im Alltag Gewachsenem, die Einfluss auf den Umgang mit dem Unglück nehmen.

Unaufgeregtheit ist ein bedeutendes Merkmal der Erzählungen, in Die Verführung, Träume von einem Vorstadtsöldner und vor allem in Fish ’n‘ Chip Shop Song zeigt Nixon aber, dass er durchaus auch andere Sprachrhythmen beherrscht: hier sind die Unruhe der wartenden Frau, die Unsicherheit des Alters und die Geschäftigkeit der Mittagszeit deutlich spürbar. Dennoch gehen die leisen Töne, die Enttäuschung wie auch die Hoffnung, die die schnelllebigen Begegnungen in diesen Texten begleiten, nicht verloren. Kim Lüftner, Martina Schmid und Sophie Sumburane ist es eindrucksvoll gelungen, diese Feinheiten in der Übersetzung nicht untergehen zu lassen.

In seinem Erzählband spielt der Autor mit der Frage, was eigentlich wichtig ist im Leben, was verloren gehen kann, was Verlust im Einzelnen bedeutet, und was am Ende (einer Erfahrung, einer Episode oder auch eines Lebens) noch von Bedeutung ist. Fish ’n Chip Shop Song ist ein unbedingt zu empfehlendes Buch, jede Erzählung für sich bietet sowohl sprachlich wie auch inhaltlich einen Lesegenuss, der noch eine Zeit lang nachhallt.

Titelbild

Carl Nixon: Fish ‘n‘ Chip Shop Song. Storys.
Übersetzt aus dem Englischen von Kim Lüftner, Martina Schmid und Sophie Sumburane.
CulturBooks, Hamburg 2019.
248 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783959881074

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