„Gott sich nähern …“

Eine hervorragende Synopse zur späteren Adaption des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘ stellt verschiedene Textkorpora des Werks Mechthilds von Magdeburg zusammen

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach der Annäherung von Menschen an das Göttliche respektive den personalisierten Gott der monotheistischen Religionen ist vermutlich so alt wie religiöses Empfinden überhaupt. Neben den ‚öffentlich‘ angelegten religiösen Kulthandlungen gab es immer wieder auch gewissermaßen innerweltliche Erfahrungen oder Wege, um dieses Ziel der Annäherung beziehungsweise als Vollendung die Vereinigung mit Gott, die unio mystica zu erreichen. Bemerkenswert ist nun, dass im mittelalterlichen deutschen Sprach- und Kulturraum sehr häufig Frauen diesen Weg zu gehen suchten und diese Anstrengungen und Erfahrungen auch schriftlich niederlegten oder auch niederlegen ließen. Da die entsprechenden Texte oft genug sehr emotional geprägt waren, wurde in der Forschung lange und oft etwas abschätzig von ‚Frauenmystik‘ gesprochen, um diesen Zweig mystischer Überlieferungen von den vermeintlich solideren Werken etwa des ‚mystischen Dreigestirns‘ Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse abzugrenzen; dies ist selbstverständlich nicht haltbar.

Hildegard von Bingen ist vermutlich die populärste dieser Mystikerinnen, wohl nicht zuletzt auch aufgrund des Umstandes, dass neben den religiösen Texten auch natur- und heilkundliche Schriften erhalten und überliefert sind. Trotz dieses überragenden Nimbus war Hildegard beileibe nicht die einzige bedeutende Mystikerin des deutschsprachigen Mittelalters. In dieser Epoche waren Mechthild von Magdeburg und ihre Texte ebenfalls von großer Strahlkraft, wie die vorliegende Publikation zu belegen vermag.

Im Unterschied zu den Überlieferungen Hildegards erscheinen mir die Texte Mechthilds weniger gut erschlossen, ein Defizit, das mit dem vorliegenden Buch ausgeglichen wird. Diese synoptische Edition der lateinischen Übersetzung des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds und ihre alemannische Rückübersetzung macht zwei Versionen eines der wichtigsten Texte der mittelalterlichen Mystik erstmals wissenschaftlich sowie – das sollte auch nicht unerwähnt bleiben – in sinnvoller Weise auch für einen breiteren Kreis von Interessierten überhaupt zugänglich. Dieses in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene Buch Mechthilds thematisiert in lyrischen, hymnischen und dramatischen Textpartien die Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott, berichtet von Visionserlebnissen und enthält Gebete sowie lehrhafte und reflektierende Abschnitte mit Bezug zur Zeitsituation. Und auch oder gerade weil gegenwärtig Religion zumindest in den westlichen Gesellschaften keine solch dominante Rolle mehr spielt, lohnt sich ein Blick in diese – zumindest zunächst einmal – so fremde Vorstellungswelt dieser bemerkenswerten Frau.

Neben einem allgemein theologischen Aspekt sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen sein, dass es gerade diese von ‚Gottesminne‘ bewegten herausragenden Frauen waren, die in gewissem Sinne als Avantgarde der Frauenemanzipation angesehen werden können. Darüber hinaus allerdings ist es wichtig zu bedenken, dass mit diesen verschriftlichten Bildern und Vorstellungen auch eine Emanzipation der Laikalen von der institutionalisierten Amtskirche einherging und dass sich hier überdies auch die Aufwertung der ‚Volkssprache‘ beobachten lässt.

Dies gilt allgemein, insbesondere aber für diesen Text Mechthilds. In der Forschung markiert das Werk den Beginn volkssprachlicher mystischer Literatur überhaupt. Die lateinische Übersetzung mit dem Titel Lux divinitatis entstand noch vor 1296/1298 und ordnet das Textmaterial ihrer Vorlage völlig neu. Die synoptisch abgedruckte alemannische Rückübersetzung Das liecht der gotheit entstand Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts aller Wahrscheinlichkeit nach in Basel. Eine detaillierte Einleitung, ein Parallelstellen-Apparat, Kapitelkonkordanzen sowie ausführliche Register dienen der weiterführenden Erschließung. Zudem bietet die vorliegende Edition eine umfassende Dokumentation aller primären und sekundären Rezeptionszeugen der lateinischen Übersetzung des Fließenden Lichts.

Grundsätzlich wird an diesen späten Textkorpora deutlich, in welchem Maße Mechthild auch lange nach ihrer Zeit Wirkung zu entfalten vermochte beziehungsweise wie hoch das Interesse an ihren Texten gewesen sein muss. Die vorliegende Edition weist die entsprechenden Texte aus und lässt einen adäquaten Blick auf die entsprechenden Rezeptionsrahmen zu. Entsprechend ausführlich ist die Einführung, die sowohl Textgeschichte als auch Überlieferungslage der deutschen und lateinischen Korpora vorstellt. Hierbei wird dem lateinischsprachigen Zweig ein besonderer Umfang zugemessen.

Der ‚eigentliche‘ Teil ist, nachdem zuvor die Anlageprinzipien der vorliegenden Edition dargelegt wurden, der Synopse des Lux divinitatis und des Liecht der Gotheit gewidmet. Es ist selbstverständlich nicht der bloße Text respektive die bloßen Texte, die wiedergegeben werden, sondern der editorische Apparat stellt eine wesentliche Bedingung für die wissenschaftliche Arbeit mit diesem Werk Mechthilds dar. So werden etwa in umfangreichen Fußnoten Textvarianten, Querverweise und weitere Elemente aufgelistet, die für eine intensive Arbeit mit den Texten unerlässlich sind beziehungsweise zur Arbeitsökonomie insofern beitragen, als Entsprechendes gewissermaßen sofort bei der Hand ist. Dies ist selbstverständlich von besonderer Bedeutung, stört andererseits aber auch nicht den Lesefluss, was dazu einlädt, längere Textabschnitte als Ganzes in den Blick zu nehmen.

Der umfangreiche Anhang weist mehrere Exzerpte des Lux divinitatis nach, so die Handschriften aus Basel, Berlin, Bern und Växjö. Daneben werden auch die Exzerpte aus der Vita S. Dominici des Dietrich von Apolda sowie Johannes Meyers Exzerpte im Liber de viris illustribus Ordinis Praedicatorum aufgeführt und jeweils textlich wiedergegeben. Dies gilt auch für allgemein spätere Reflexe auf das Werk in mittelalterlichen und neuzeitlichen Bibliothekskatalogen sowie den ebenfalls durch Auszüge belegten entsprechenden Niederschlag, den das Fließende Licht bei Agnes Blannbekin (Vita et revelationes) gefunden hat. Eine beachtenswerte Kapitelkonkordanz zu Fließendes Licht, Lux divinitatis und Liecht der gotheit schließt diesen Anhang dann ab. Das üppige Literaturverzeichnis, Register zu Handschriften, Personen, Orten und Wegen sowie – und das ist für eine weiter gehende Beschäftigung mit dem Text in meinen Augen unerlässlich – Bibelstellen runden diese gelungene Edition quasi mustergültig ab.

Die Edition besticht durch die erkennbare Sorgfalt, mit der das Herausgeberteam vorgegangen ist. Es ist allein schon dankenswert, diesen Mechthild-Text gerade auch in einer späteren Variante vorzulegen, der bereits angesprochene umfangreiche editorische Apparat und vor allen Dingen auch die angehängten Adaptionen beziehungsweise Exzerpte zum Lux divinitatis machen die Qualität aus. In Zeiten von Internet-Flatrate und ähnlich ‚Unabdingbarem‘ wirkt der Preis natürlich erst einmal einschüchternd. Allerdings ist bereits auch die rein herstellungstechnische Qualität – vom geistigen Aufwand ganz zu schweigen – so hoch, dass das Buch zum Discounterpreis eben nicht zu haben ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Ernst Hellgardt / Balázs J. Nemes / Elke Senne (Hg.): ‚Lux divinitatis‘ – ‚Das liecht der gotheit‘. Der lateinisch-frühneuhochdeutsche Überlieferungszweig des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘.
De Gruyter, Berlin 2019.
LXXXII, 547 Seiten , 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110176025

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