Nebenrealitäten

In „Mein weißer Fuchs“erzählt Katharina Bendixen von stiller Einsamkeit

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Siehst du die Ähnlichkeit?“ fragt die Mutter ihre Tochter, als der Nachbarsjunge zu Besuch kommt. Er sehe ihr sehr ähnlich, obwohl er ein Junge sei, dass hat die Mutter schon erwähnt, noch bevor der neu eingezogene Junge klingelt. Die namenslose Ich-Erzählerin sieht aber nur, dass der Junge ein Wolf ist und möchte auf keinen Fall mit ihm spielen. Dass wird wohl metaphorische gemeint sein, denkt man sich als Leser und stellt sich einen linkisch dreinschauenden Jungen in abgewetzten Kleidern vor; mit struppigen Haaren und gelblich verfärbten Zähnen – ein hungriger Blick. Jahre später möchte Jan, der derzeitige Freund, die Protagonistin unbedingt seiner Exfreundin vorstellen – sie sei ihr so ähnlich. Und wieder der Schock: „Auch im Zwielicht sehe ich die dunklen Haare auf ihren Armen, die Krallen an ihren Fingern und die Reißzähne in ihrem Mund.“ Eindeutig ein Wolf und die metaphorische Deutung fällt bei diesen körperlichen Details schon schwerer. „So siehst du mich?“, fragt die Protagonistin Jan empört, „Wie eine Wölfin?“ Wovor sie so lange fliehen wollte, was sie nicht wahrhaben wollte, dass sie selber eine Wölfin ist, kann sie erst akzeptieren, als sie schwanger wird. Das Kind ‒ natürlich ein Wolf. Schon bei der Geburt erfahren wir unmissverständlich, dass das feuchte Fell des kleinen Wolfes viel weicher sei als Menschenhaut.

Die Frage, wie jemand Mensch und Wolf gleichzeitig sein kann, stellt sich eigentlich gar nicht – es ist nicht so entscheidend. Hier ist mehr eingeflochten als die symbolische Bedeutungsebene literarischer Texte. Bendixen gelingt es auch dort, wo ihre Erzählungen keine fantastischen Elemente enthalten (und das ist der größere Teil), eine eigenständige Realität aufzubauen, in der die Gesetzte ihre Protagonistinnen gelten, wo deren Wahrnehmung ‒ durchgängig mit der gleichen distanzierten Ruhe erzählt – bestimmend ist. Im Märchen ist das Wunderbare ähnlich selbstverständlich ‒ auch dort ist der böse Wolf gleichzeitig ein Mensch und sein Erscheinen niemals wunderbar, sondern ganz natürlich. So sind hier eben die Menschen Wölfe, und auch wenn es etwas Besonderes ist, stört sich niemand daran, außer die Protagonistin selbst. Dann entdeckt sie aber den schützenden Wert ihrer Reißzähne. Und diese Reißzähne führen in das thematische Zentrum der elf Erzählungen, die Katharina Bendixen in ihrer Sammlung präsentiert. Elf, das ist bei Kleist übrigens die Zahl des Teufels, des Auseinanderfallens, der Uneindeutigkeit. Hierin Kleist ein wenig ähnlich berichten die Erzählungen von der zerbrechlichen Einrichtung der Welt und den verzweifelten Versuchen, Schutz in ihr zu finden ‒ Geborgenheit.

Die Einsamkeit, hilflos ausgeliefert zu sein, an die Unkontrollierbarkeit der Welt, durchzieht alle Erzählungen, und nicht jede der oftmals namenlosen Protagonistinnen hat Reißzähne, sich zu wehren. Bendixen erzählt sparsam und stets aus der Ich-Perspektive; die einzelnen Figuren werden durch diesen immer gleichen Ton einerseits ein wenig profillos, andererseits überblenden sie sich auch, was sich zu einer Haltung gegenüber dem Leben verdichtet. Familie spielt in diesen Erzählungen häufig eine Rolle, Brüder, die sich sorgen, aber mit denen man doch nicht sprechen kann, Eltern, die einen missverstehen, aber wichtig bleiben ‒ und fast immer wird lange und einsam telefoniert. Vielleicht ist niemand so einsam wie ein Mensch, der alleine in seiner Wohnung sitzen muss und gegen die Verzweiflung lange Telefonate führt. Der erste Eindruck, dass es sich hier hauptsächlich um Außenseiterfiguren handelt, relativiert sich. Jeder, so scheinen die Texte dezent zu flüstern, ist auf seine Weise ein Außenseiter, der sich den Anforderungen der Welt stellen muss.

Aber jede der Erzählungen ist auch durchwoben von zarten Möglichkeiten des Glücks. Sei es ein nasser, aber warmer, neugeborener Wolf auf dem eigenen Bauch, ein Kind, mit dem man sich an dessen Geburtstag lautlos verstecken kann, oder ein eigenartiger, nackter Hund, der viele an einen Chinchilla erinnert und dessen Hässlichkeit nur für die Protagonistin tröstlich ist. Manchmal ist es nur die Anwesenheit eines Jungen, der täglich an der Tür klingelt und ein Schild, beschriftet in einer fremden Sprache, vor den Spion hält. In dieser dystopischen Geschichte ist das Schlimmste für die Protagonistin vielleicht nicht, dass ihre Stadt von Feinden erobert wird, dass in den Straßen Menschen erschossen werden und dass sie alle Möglichkeiten versäumt hat, Widerstand zu leisten; vielleicht ist das Schlimmste, dass es den Jungen, der täglich klingelt, womöglich gar nicht gibt. Dass sie ganz alleine ist, alleine in einer abweisenden, kalten, grausamen Welt.

Bendixens Geschichten bieten nur kurze Einblicke in ein Leben, in manchmal alltägliche, manchmal gewaltige, aber für die Welt der Protagonistinnen immer existentielle Probleme. Konflikte und Lösungen werden zumeist nur angedeutet. Im wiederholten etwas monotonen Format der Geschichten über Frauen, die man stets zwischen dreißig und vierzig schätzt, wenn sie nicht aus ihrer Kindheit berichten, liegt vielleicht eine Schwäche dieser souverän erzählten Geschichten. Zugleich aber muss man sich auf diese Wiederholungsstruktur bewusst einlassen, präsentiert sich hier der fortwährend anders ausgestaltete Versuch der über die äußerlichen Unterschiede immer gleichen Figur, in der Welt heimisch zu werden. In diesem bisweilen verzweifelten Streben, im Scheitern und in den Momenten des Glücks kann man sein eigenes Verlangen erkennen, einen Ort zu finden in einer Welt, in der es keinen vorherbestimmten Platz für uns gibt. Damit sind Katharina Bendixen Erzählungen gelungen, die sehr nah an der emotionalen Grundproblematik unserer Gegenwart zu verorten sind.

Titelbild

Katharina Bendixen: Mein weißer Fuchs. Erzählungen.
Poetenladen, Leipzig 2019.
107 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783940691972

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