Organhandel 4.0: Big Data, Social Media und die Frage nach der passenden Leber

Bernhard Kreutners neuer Krimi „Der Preis des Lebens“ widmet sich einem brisanten Thema und nährt diffuse Ängste auf intelligente Weise

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es mutet an wie das perfekte Verbrechen: Gedeckt von hochrangigen und hochgradig korrupten Offizieren international operierender Geheimdienste, gehen ein Transplantationsexperte und seine zugleich als Lockvogel wie Todesengel fungierende Kollegin auf die Suche nach perfekt passenden und nahezu abstoßungssicheren Organen für ihre ebenso einflussreichen wie solventen Auftraggeber. Bei ihrer Jagd nach der lebenserhaltenden Nadel im Heuhaufen bedienen sich die beiden der neuesten Informationstechnologie. Die intelligenten Algorithmen ihrer ungarischen IT-Spezialisten durchforsten nicht allein die gehackten Daten von Kliniken und Krankenkassen, sondern auch die Weiten der sozialen Netzwerke und alle Daten, die Menschen und ihre kleinen technischen Helferlein wie Smartphones und Wearables tagtäglich und unbekümmert mitteilen: sportliche Aktivitäten, Pulswerte, Schlaf, Lebensgewohnheiten, Süchte, Lüste, Räusche etc. Der ideale Treffer ist dabei nicht nur genetisch kompatibel, sondern darüber hinaus oft auf Reisen, familiär ungebunden und im Idealfall auch noch daran interessiert, sich beruflich zu verändern, was ebenfalls anhand von Daten im Netz erkannt werden kann.

Sobald die Zielperson mit der idealen Leber oder dem passenden Herzen am rechten Fleck feststeht und der Auftraggeber informiert und in die Schweizer Privatklinik beordert wurde, macht sich das Extraktionsteam an die Arbeit. Dr. Eva Vekete schlüpft in eine passende Rolle, zum Beispiel die der Headhunterin mit dem Angebot des neuen Top-Jobs, und nimmt Kontakt auf. Man verabredet sich an einem neutralen und geeigneten Ort, im Laufe des Gesprächs finden ein paar farblose Tropfen ihren Weg ins Glas und auf dem Parkplatz wartet der Krankentransporter mit passenden Papieren und Ex-Soldaten als Fahrer und Sicherung. Schon auf der Fahrt wird alles für die OP vorbereitet und das Organ termingerecht transplantiert. Die Leiche verschwindet im Betrieb großstädtischer Friedhöfe und Krematorien.

Natürlich ereignen sich auch in einem nahezu perfekten System ungeplante Zwischenfälle. Dem angetrunkenen Friedhofsarbeiter kippt ein Sarg von der Staplergabel, der seltsamerweise zwei statt nur eine Leiche enthält. Solche „Auferstehungen“ sind im Regelfall nicht fatal und werden rasch kaschiert. Dumm nur, wenn ein eigenwilliges Ermittlergespann tiefer gräbt und die richtigen Fragen stellt. Michael Lenhart und Sabine Preiss sind vom durchschnittlichen Polizeibeamten im höheren Dienst weiter entfernt als der Merkur von der Erde. Der smarte Major opfert seine Karriere seinen moralischen Prinzipien, zitiert Aristoteles beinahe so häufig wie die Autoren der Scholastik und die durchtrainierte Ex-Soldatin und Kunstschützin liefert das perfekte Pendant. Die beiden finden sich sympathisch und gefallen auch dem Leser. Dies trifft auf die meisten Figuren in Kreutners Krimi zu. Es sind, wie auch der Klappentext verspricht „echte Typen“.

Dies kann als Stärke des Buchs, aber auch als Schwäche gesehen werden, denn vieles wirkt etwas zu typisch. Man fühlt sich bei Lenhart ein wenig an den Helden von Simmels Es muss nicht immer Kaviar sein erinnert und auch die Handlung verläuft teilweise fast unglaublich reibungslos. Obwohl der Major strafversetzt wird, öffnen sich durch seine Charme-Offensive für den Empfangsdrachen in seiner neuen Wirkungsstätte plötzlich alle Türen. Die Ministerin deckt das Handeln der beiden, obwohl ihr Telefon Sturm klingelt und Diplomaten oder Dienste ihr mit Konsequenzen drohen. Was immer das Team begehrt, wird gewährt und so lassen Erfolge nicht auf sich warten.

Ungeachtet dieser teils zu glatten Wendungen und schier unglaublichen Kooperationen ist der Roman lesenswert und spannend. Auch, weil er zu denken gibt (und dies nicht nur aufgrund des Einbezugs antiker Weisheit). Die kreative Verbindung der Potentiale von Big Data mit der Thematik des Organraubs beschwört eine diffuse Bedrohung herauf, die mehr als plausibel ist: Geld, Todesangst, Skrupellosigkeit im Sinne von „lieber die als ich“ und eine schier unbegrenzte Datenflut gläserner Konsumenten von Gesundheitsdienstleistungen sorgen dafür. Man muss hierfür lange nicht alles genau wissen; das Denkbare erschreckt in ausreichendem Maße.

Angesichts der Thematik und ihrer durchaus überzeugenden Aufbereitung stellt sich die Frage, ob es nicht geradezu moralisch verwerflich ist, derlei Ängste zu schüren. Fakt ist, dass immer weniger Menschen bereit sind, im Falle ihres Ablebens ihre Organe und Gewebe zu spenden. Kranke auf den Wartelisten haben das Nachsehen. Sie sterben. Hierauf ließe sich erwidern, dass es bei der von Kreutner geschilderten Art der Organsuche und ihres Raubes letztlich völlig egal ist, ob man einen Spenderausweis hat oder nicht. Dies greift jedoch etwas zu kurz. Der bereitwillige Spender gibt in der Regel nicht nur post mortem sein Inneres preis, sondern spendet auch schon zu Lebzeiten Blut und andere Substanzen. Wer dies tut, bereichert auch den Datenpool zu seiner Gesundheit in nennenswerter Weise… Die Furcht vor den Algorithmen und jenen, die sie auswerten, bleibt.

Das Bild der in Panik vor einem Krankenwagen fliehenden Jutta Speidel im Thriller Fleisch von 1979 ist ein Sinnbild der Furcht vor ungewollter Organentnahme. Kreutners Gedankenspiel zu den Möglichkeiten von heute könnte eine ähnliche Wirkung entfalten. Die Empfehlung (nicht nur für die Furchtsamen) kann daher nur lauten: Lesen Sie den Roman, denn trotz der geschilderten Schwächen, die aus anderem Blickwinkel als Stärken gesehen werden können, ist Kreutners Krimi spannend und flüssig; und trinken Sie dazu ein Glas Wein – nein: besser zwei, wegen der Leberwerte. Posten Sie ein Bild des Weinglases, idealerweise neben dem gut gefüllten Aschenbecher und tracken Sie nicht mehr jede sportliche Aktivität. Man kann schließlich nie wissen…

Titelbild

Bernhard Kreutner: Der Preis des Lebens. Kriminalroman.
Benevento, Elsbethen 2019.
315 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783710900846

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch