Sehen, wenn die anderen schlafen

Rétif de la Bretonne durchwandert „Die Nächte von Paris“ und landet in der Revolution

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rétif de la Bretonne war ein junger Mann von sechzehn Jahren, als er, der Provinzler, in die große Stadt zieht. Sofort empfindet er darüber ein großes Glück; er sei dort sein eigener Herr geworden, meint er. „Stadtluft macht frei“. Auch liebt er die Enge, wo sich an jeder Ecke, in jedem Winkel die unerwarteten Leidenschaften entflammen gerade für ihn, der sich selbst als „leicht erregbar“ schildert. „Ich liebe die Nacht“, so beschreibt er seine Entdeckung, „in ihr fühl ich mich freier als am Tag. Alles gehört mir während der Nacht.“ Ein Doppelleben zwischen Nacht und Tag begann, unterbrochen von nur wenigen Stunden Schlaf, das er am Ende über zwanzig Jahre führen sollte. Kaum ein anderer Schriftsteller ist dem Volk näher als er, da sich Rétif vorzugsweise für den Alltag, für den öffentlichen Raum interessiert. „Unter all unseren Literaten bin ich vielleicht der Einzige, der das Volk kennt, denn ich mische mich ständig unter die Leute. Ich will das Volk schildern, ich will der Posten sein, der über die geordneten Verhältnisse wacht.“ Aber er macht sich keine Illusionen, er erkennt überall das Regime der Dummheit, dem die Stimme der Vernunft verdächtig erscheint und die es darum am liebsten in Gewahrsam nimmt.

Die französische Revolution hat aus König Ludwig XVI. den Bürger Capet gemacht. Dieser Bürger stand zuerst vor Gericht, dann vor der Guillotine, wo man ihm den Kopf abschlug – eine Ungeheuerlichkeit. Welche mentale Verunsicherung bei den Zeitgenossen damit einherging, welchen kulturellen Bruch der Umsturz mit sich brachte, wird eher beiläufig erklärt, vermischt mit einem ungläubigen Staunen und mit unverhohlener Angst darüber, wie der Bruch überhaupt beschrieben werden könnte, um ihn einerseits zu rechtfertigen, wozu sich der Erzähler genötigt sieht, und um andererseits selbst für die Tugendwächter während der berüchtigten Schreckensherrschaft unverdächtig zu bleiben. Ludwig XVI. sei auch nur ein Mensch gewesen, werden „Möchtegern-Philosophen“ zitiert. „Erschüttert ging ich nach Hause. Aber so erging es allen. Ja, die Bestürzung war allgemein.“ Denn selbst wenn jener auch nur ein Mensch war, so stand er „in einer Beziehung zu jedem einzelnen Franzosen“, denn er sei der Punkt gewesen, „in dem vierundzwanzig Millionen Menschen miteinander verknüpft waren! Deshalb war die Bestürzung so allgemein.“

Wir kennen das sonst als ein Problem von Schriftstellern in Diktaturen: Was darf wie gesagt werden, wo verläuft die Grenze des Noch-Sagbaren? Wir spüren in vielen Formulierungen etwas wie argumentative Akrobatik, mit der versucht wird, es der Revolution sozusagen recht zu machen, ohne die eigene Überzeugung völlig zu verraten und vor allem ohne Gefahr zu laufen, darüber im wahrsten Sinne des Wortes den eigenen Kopf zu verlieren, was 1793 rasch geschehen konnte. Besonders deutlich wird das in den Passagen, die von den „September-Massakern“ des Jahres 1792 handeln, als in den Gefängnissen wahllos und bestialisch gemordet wird. Der Erzähler will hier ganz „Geschichtsschreiber“ bleiben, unparteilich berichten, um einige Seiten später dann doch zu werten, da die eidverweigernden Priester zu Recht starben, wie er nun verlautbart. „Unrechtmäßig war nur die Art ihrer Bestrafung“, um freilich dann doch anzufügen, „nichts entschuldigt ihre Mörder, die mit ihren Massakern alle Gesetze des Zusammenlebens der Menschen über den Haufen warfen.“

Die Aufzeichnungen aus dem Paris des ausgehenden 18. Jahrhunderts sind also mindestens aus zweierlei Gründen spannend und unbedingt lesenswert: Sie sind zum einen das, was wir einen Zeitzeugenbericht nennen, der nicht von einem Akteur, sondern von einem nachgerade berufsmäßigen und ebenso passionierten Zuschauer geschrieben wurden, vorzugsweise aus der Alltagsperspektive. Zum anderen vermitteln die Berichte die radikale Verunsicherung im Erzähler selbst, denn das Leben ist insgesamt unberechenbar geworden, weshalb er ständig auf der Hut sein muss. Vom Schreiben ging offensichtlich eine Lebensgefahr aus, und sie wurde auf diese Weise zu einem Drahtseilakt mit permanenter Absturzgefahr – aber keineswegs aus literarisch-ästhetischen Gründen, sondern aus rein existentiellen. Genau das spüren Leser heute noch mit einer gewissen Irritation.

Nicolas Edme Rétif (auch Restif) de la Bretonne wurde 1734 in dem Dorf Sacy bei Auxerre geboren, das sich etwa 170 km südöstlich von Paris in der Region Bourgogne-Franche-Comté befindet. Der Sohn eines wohlhabenden Bauern wurde von Beruf Drucker und hegte schon früh literarische Ambitionen. Doch erst 1767 veröffentlicht er schließlich mit La Famille vertueuse seinen ersten Roman. Von da ab entwickelt sich Rétif zu einem höchst produktiven und erfolgreichen Schriftsteller des Ancien Régime, der schließlich mit seiner gewaltig anwachsenden Sammlung nächtlicher Episoden aus einer der damals größten Städte ein eigenwilliges Projekt verfolgte, den Nuits de Paris. Sechzehn Bände wurden es am Ende mit knapp 4000 Druckseiten im Duodez-Format, das ungefähr unserem heutigen Taschenbuchformat entspricht. Erschienen sind sie zwischen 1788 und 1794.

Der Übersetzer und Herausgeber Reinhard Kaiser, der selbst auf eine lange schriftstellerische Karriere zurückblickt, hat daraus gut zehn Prozent ausgewählt, um auf jetzt 400 Druckseiten (plus einer instruktiven Einleitung, Anmerkungen, ausführlicher Zeittafel, Literaturhinweisen und eines editorischen Berichts) die oft bizarren Erlebnisse und kuriosen Begegnungen im nächtlichen Paris für den heutigen Leser aufzubereiten. Mit den Schilderungen verbinden sich recht persönliche Bekenntnisse des Autors. Er ist nie bloß nüchterner Chronist oder Faktensammler, obschon von Episode zu Episode ein wahres Kuriositätenkabinett entsteht, angefüllt mit Schilderungen befremdlicher Lebensgewohnheiten und unglaublicher Existenzen. Man mag das fast schon als Soziologie avant la lettre bezeichnen. Natürlich hatte Rétif einen spezifischen Blick für all die nächtliche Exotik und die Absonderlichkeiten seiner Zeit, wenn er sie genüsslich vor uns ausbreitet, manchmal im Ton der Entrüstung, mal mit Rührung und ein andermal im Ton der Belehrung. Denn Rétif ist als „Feldforscher“ des nächtlichen Stadtbiotops immer auch ein Moralist und auf diese Weise ein Kritiker seiner Zeit, weshalb er sie einmal ein „verdorbenes Zeitalter“ nennt mit all der Unvernunft und dem Irrsinn darin. Kein Wunder, wenn er sein Werk im Gegenzug als „nützlich“, „philosophisch“ und „fesselnd“ anpreist.

Und weil Rétifs Blick als Schriftsteller nicht nur nach außen ging, um seine Umwelt zu erfassen, sondern ebenso intensiv nach innen und so zu einer Selbstbespiegelung führte, hat er sich selbst noch ein literarisches Denkmal in sechs Bänden gesetzt mit dem bekenntnishaften Monsieur Nicolas ou Le coeur humain dévoilé. Auch daraus hat Reinhard Kaiser eine von ihm übersetzte Auswahl herausgegeben, erschienen 2017 ebenfalls bei Galiani (dt. Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz).

Im literarischen Ton der Nächte von Paris gibt es erkennbar ein Vorher und Nachher mit dem Revolutionsjahr 1789 als Scheidepunkt. Gefährlich waren die Nächte stets auf vielfältige Weise, doch nach 1789 fallen mit der gewohnten und bis dahin funktionierenden Ordnung auch alle gesellschaftlichen Schranken. Das ist die klare Botschaft: Die Gewalt wird epidemisch und hemmungslos exzessiv, weshalb der Berichterstatter immer wieder seine eigene Angst thematisiert, die er vorher so gut wie nicht kannte. Die Gewalt wird epidemisch, wir lesen es immer wieder. Am Palais Royal begegnet er wie üblich debattierenden Menschen, die sich in den Tagen zuvor noch ganz vernünftig mit Anträgen befassten, jetzt aber „nur noch vom Umbringen, Erhängen und Enthaupten“ sprachen. „Die Hinrichtungen waren in Paris alltäglicher als der Regen im Winter; alles stürzte; alles zitterte.“ Und sein Resümee: „Die Revolution war gut: nicht gut waren aber jene, die sie machten.“

Titelbild

Rétif de la Bretonne: Die Nächte von Paris.
Ausgewählt, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Reinhard Kaiser.
Galiani Verlag, Berlin 2019.
522 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711829

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