Gegen die Zeit – Mit der Zeit
Christine Fenzls sensible Fotografien ostdeutscher Jugendlicher zeigen das Aufwachsen in Ostberlin als historisches und gleichermaßen zeitloses Phänomen
Von Simon Scharf
Der öffentliche Diskurs über die östlichen Bundesländer Deutschlands und die ehemalige DDR stand 2019 eigentlich im Zeichen gravierender Rückschritte: Nicht zuletzt medial durch entsprechende Titelgeschichten forciert fand erneut ein typologisierendes Gruppendenken Eingang in die Diskussion, in deren Zentrum „die Sachsen“ oder „die Ostdeutschen“ zur Zielscheibe verallgemeinernder Zuweisungen wurden – völlig ungeachtet ihrer Eigenschaften als Individuen jenseits einer Gruppenzugehörigkeit. Dass hier abermals alte und längst überwunden geglaubte Muster greifen konnten, die in vielerlei Kontexten strukturell diskriminierende Positionen gegenüber Andersartigkeit begünstigen, lässt sich bequem wieder einmal auf eine medial leicht erregbare Medienöffentlichkeit schieben, ist aber immer auch Resultat der Trägheit des Einzelnen, sich den Anderen als Individuum zugänglich zu machen, sich historisch zu informieren – insgesamt also selbstständig an Möglichkeiten der Empathie und Weiterbildung zu arbeiten. Die Grundlage für einen solchen Schritt liefert jetzt die Fotografin Christine Fenzl, die – höchstwahrscheinlich nicht unbedingt einverstanden mit der politischen Kontextualisierung ihrer Arbeit – auf sehr einfühlsame Art und Weise den Einzelnen refokussiert und auf der Basis ihres Verständnisses einer subjektiven Dokumentation jugendliche Lebensverhältnisse in der ehemaligen DDR ausleuchtet und darin Verständniswege ebnet.
Land in Sonne porträtiert dabei die städtische Landschaft des östlichen Berlins, die im Lichte der Plattenbauten nach außen hin schroff, kalt und konform wirkt, hinter der Fassade aber das heimisch Schützende und Würdevolle des Einzelnen zeigt. Landschaftsdarstellung meint dabei auch die Gegensätzlichkeit einer Natur, die zum einen funktionalisiert und ausgeklammert wird (um Wohnräume zu schaffen), die zum anderen vehement zurückkehrt, das Bebaute überwuchert und zum Refugium des Stadtbewohners avanciert. Bilder und Graffitis verweisen zudem auf die allgegenwärtige Sehnsucht nach Weite und Meer in Anbetracht von Enge und Bebauung. Vor diesem Hintergrund des Wohnens und Lebens widmet sich Fenzl aber hauptsächlich den Individuen, die – scharfgestellt vor weichgezeichneter Kulisse – zwischen Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit an ihren diversen Lebensentwürfen arbeiten und diese auch konkret „ins Bild“ setzen. Auffällig ist dabei die Rolle von Schrift und Botschaften in Form von T-Shirts, Tattoos und Graffitis bzw. Wandbemalungen im Innenraum: Der eigene und individuelle Lebenszugang wird so gewissermaßen nach außen gekehrt und sichtbar gemacht, das Geschehen und das (vielleicht auch biographisch und historisch) Geschehene wird nicht hingenommen, sondern kommentiert und gedeutet. Die Stadt wächst an zu einem widersprüchlichen Bild der Stimmen und Eindrücke, ist beschreibbare Folie von Text, Subtext und Gegentext. Verhandelt wird dabei immer der Bezug zur eigenen Geschichte: Fenzls Bilder führen durch ihre fast nostalgisch wirkende Aufbereitung (und ihr fotografisches „Stillstehen“ insgesamt) das historische Moment des im Heute biographisch weiterexistierenden Sozialismus fortwährend mit und diskutieren damit unterschwellig die Frage der Relevanz dieser spezifischen Geschichte für die Gegenwart der Jugendlichen.
Im Rekurs auf den Eingangsbefund führt Fenzl eine Art des Wirklichkeitszugangs ins Feld, der aus Sicht des Rezensenten mindestens zweierlei leistet und deshalb außerordentlich produktiv wird: Einerseits sensibilisieren ihre Porträts jugendlichen Lebens im Ostberlin der Gegenwart für das individuell Diverse der biographischen Reaktionen auf DDR-Geschichte und zeigen die Widersprüche und Vielfältigkeiten der Landschaften, womit in besonderer Weise jede verallgemeinernde und stereotypisierende Redeweise mit Blick auf ganze Gruppen dementiert ist. Andererseits – so ging es mir als unzulässig typisiertem „Westdeutschen“ bei der Lektüre – schafft die Fotografin einen Identifikationsraum, der – jenseits der geschichtlichen Besonderheiten und Bezüge – das Phänomen des Aufwachsens in all seinen Widrigkeiten in den Blick nimmt, unabhängig von der Folie des ostdeutschen Lebensraums; die gezeigten Persönlichkeiten sind also nicht gänzlich Andere, sondern haben etwas mit meiner Sozialisationsgeschichte und den Erinnerungen daran zu tun. Auch im ästhetischen Sinne stellt das Werk Fenzls damit eine unschätzbare Erweiterung vieler bestehender Beobachtungen zu diesem Themenkomplex dar und wartet sicherlich noch auf viele weitere Erklärungs- und Deutungsversuche.
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