Die Alten, die Klassik und die Ästhetik

Karl Philipp Moritz eröffnete neue Perspektiven auf die antike Mythologie – nachzulesen im vierten Band der „Sämtlichen Werke“

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die mythologischen Dichtungen müssen als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden: Als eine solche genommen, machen sie gleichsam eine Welt für sich aus, und sind aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben.“ Karl Philipp Moritz hatte in diesen ersten Sätzen seiner Götterlehre den Gesichtspunkt für die Darstellung der griechisch-römischen Mythologie gefunden. Ziel des Autors war es, die Phantasie am Wirken zu zeigen und sich nicht in Debatten über mögliche Bedeutungen, historische Hintergründe oder moralische Auseinandersetzungen über die „heidnische“ Kosmogonie zu verwickeln. Diese machten, wie es in der Ankündigung des Buches heißt, das Studium der antiken Mythologie trocken „und bringt der Jugend schon im Voraus einen Ekel vor den klassischen Dichtern der Alten bey, zu deren Verständniß es doch nützen soll.“

In dem am Ende des 18. Jahrhunderts reichen Markt der Beschäftigung mit den antiken Narrativen von Göttern, Titanen und götterähnlichen Menschen, als der Klassizismus seit Winckelmann sich ästhetisch auf die Rezeption der griechischen und römischen Epoche stützte, hatte sich Moritz durchgesetzt: Seine Götterlehre wurde ein publizistischer Erfolg, was sich in Übersetzungen, Raub- und Neuauflagen auch nach Moritz‘ Tod 1793 manifestierte.

Immerhin hatte Moritz‘ Buch mit  der ein Jahr zuvor erschienenen Kurzgefaßten Mythologie oder Lehre von den Fabelhaften Göttern, Halbgöttern und Helden des Alterthums (1790) des Professorenkollegen und Bekannten Karl Wilhelm Ramler eine starke Konkurrenz. Ramler hatte mit Blick auf die Verwendung der Kenntnisse über die antike Mythologie für Künstler und Dichter eine nach den Namen der Mythenträger angeordnete Darstellung der die jeweiligen Namen betreffenden Geschichten und Umstände gegeben. In Ramlers Vorrede wird die Mythologie ziemlich zerzaust, da sie nicht in das protestantisch-aufgeklärt-geschichtswissenschaftliche Denken seiner Zeit zu passen schien. Mythologie ist da eine sehr komplizierte (wegen der zahlreichen Veränderungen im Laufe der Zeiten) und nicht mehr in das „vernünftige Säkulum“ passende Sache, die aber eben Künstler und Dichter kennen sollten, um die vielfachen Reprisen antiker Mythen korrekt zu verarbeiten.

Eines der zahlreichen Beispiele der Wiederbelebung der antiken Formen stellte das gerade entstehende Brandenburger Tor in Berlin von Langhans und Schadow dar. Moritz hingegen hatte sich auf seiner Italienreise 1786 intensiv mit den antiken Überresten und ihrer ästhetischen Bedeutung beschäftigt und mehrere Aufsätze und Vorlesungen zu diesem Thema geschrieben. Bereits zur Michaelismesse 1790 erschien dann die Götterlehre (mit dem Erscheinungsjahr 1791!) neben dem vierten Band seines autobiographischen Romans Anton Reiser, in dem auch seine frühen Homer- und Horaz-Lektüren eine Rolle spielen, sowie zu Ostern 1791 eine umfangreiche Schrift über die römischen Riten und Feste (Anthusa oder Roms Alterthümer), die auch auf die Götterlehre ausstrahlte. Die Antike bestimmte die Arbeitskraft der letzten Jahre des in der aktuellen Werkausgabe allmählich erkennbar werdenden „unbekannten Klassikers“ Karl Philipp Moritz. Mit der Hinwendung zur poetischen Auffassung der Mythologie zeigte sich Moritz einmal mehr auch anschlussfähig für die junge Generation der Romantiker.

Moritz sieht die zeitgenössischen Probleme des Wahrheitsgehalts und des moralisch verdächtigten Heidentums durchaus, gibt ihnen aber die eingangs zitierte Wendung ins Ästhetisch-Poetische, die gegen das Allegorische und Moralische steht. Er formuliert in der Ankündigung den nützlichen „Gesichtspunkt“ seines Buches für die dichterische Gestaltung, inhaltlich geht es ihm um die Begründung der Erzählbarkeit der antiken Geschichten. Diese setzt er deutlich gegen einen rationalistisch-historischen Zugang, der bisher die Mythographien seiner Zeit bestimmt habe und versuche, die „Wahrheiten“ der Mythen herauszuarbeiten (Euhemerismus). Für Moritz „ein thörichtes Unternehmen“ wie auch das der Allegorisierung: „Die Göttergeschichte der Alten durch allerlei Ausdeutungen zu bloßen Allegorien umbilden zu wollen, ist ein eben so thörichtes Unternehmen, als wenn man diese Dichtungen durch allerlei gezwungene Erklärungen in lauter wahre Geschichten zu verwandeln sucht.“ Was nicht ausschließt, wie Herausgeber Martin Disselkamp zutreffend beobachtet, dass Moritz hin und wieder eben dies selbst tut, um nicht hinter den erreichten Stand der aufklärerischen Philosophie zurückzufallen. Schließlich erscheint das Buch in der Spannungslage jener Berliner Aufklärung (und zu Beginn der Französischen Revolution!), in der im gleichen Jahr wie Anthusa und die Götterlehre auch Kants Kritik der Urtheilskraft erschien, die Moritz bereits in dem Rom-Buch zitierte.

Die zeitgenössischen Rezensenten nahmen das auf seiner Italienreise 1786 in Austausch mit Goethe entwickelte und für Moritz‘ Ästhetik zentrale Theorem von der „Sprache der Phantasie“ mit Wohlwollen auf. In der neuen, opulent kommentierten Ausgabe im Rahmen der kritischen und kommentierten Sämtlichen Werke lässt sich dies etwa an der Rezension von Christian Gottlob Heyne in den Göttingischen gelehrten Anzeigen ablesen. Wirkung zeigte der Ansatz auch in den Vorlesungen von A.W. Schlegel.

Die mit einem ausführlichen und zahlreiche Quellen und Anspielungen aufzeigenden Stellenkommentar versehene Ausgabe der Götterlehre wird begleitet von drei weiteren, mit ihr in Zusammenhang stehenden Texten zur Mythologie aus dem Zeitraum um 1790/91: einer knappen Ankündigung der Götterlehre, einem mythologischen Almanach für Damen und dem postum erschienenen Beginn eines mythologischen Wörterbuchs für Schulen. In dem an eine weibliche Leserschaft adressierten Almanach ergänzt Moritz die knappe Darstellung der zwölf zentralen himmlischen Gestalten der römischen Götterwelt multimedial mit Homerischen Hymnen und Horazischen Oden, um eine Art „Liturgie der Alten“ zu markieren, was den Text anschaulich macht und auflockernd wirkt. Hier sind enge Bezüge zu Anthusa und natürlich zur Götterlehre zu bemerken. (In der Götterlehre sind vereinzelt Auszüge aus Gedichten Goethes und der Iphigenie eingestreut.) Zudem bezieht sich der Text auf neun Kupferstiche, wie auch die Götterlehre 65 Kupferstiche nach antiken Vorbildern enthält. (Anzumerken ist, dass diese Abbildungen in den Sämtlichen Werken nicht an den im Originaltext vorfindlichen Stellen reproduziert, sondern im Kommentarband zusammen mit den Titelblättern abgedruckt werden, was die Verfolgung der vom Autor intendierten Text-Bild-Relation nicht erleichtert.)

Ein Jahr nach Moritz‘ Tod 1793 gab dessen Kollege am Neuköllnschen Gymnasium, Valentin Heinrich Schmidt, ein von Moritz begonnenes alphabetisches Wörterbuch für Schüler heraus, dessen ersten 66 Einträge von Abas bis Apis den Pädagogen Moritz als Verfasser haben. Allerdings gibt das gedruckt vorgefundene Fragment mit zahlreichen Setzfehlern keinen Hinweis auf die Umstände seiner Entstehung. Die Absicht dieses Buches scheint es gewesen zu sein, den Schülern für die Lektüre der Klassiker die mythologischen Hintergründe in einer Lexikon-Form nach Namen geordnet zu bieten. So verwertete Moritz als früherer Lehrer und Pädagoge auf dem ihm naheliegenden Feld der Schulbücher noch einmal seine in Italien und durch intensive Arbeit in Mythografien gewonnenen Erkenntnisse.

Der Abschluss des vierten Bandes der Sämtlichen Werke mit den mythografischen Texten zeigt einen gewitzten Autor, der mit der Poetisierung der Mythologie einen weittragenden Ansatz im Übergang von Klassik und Romantik exponierte. Er fördert durch überaus kenntnis- und faktenreiche Kommentare die Verortung des neuen Klassikers Moritz in der zeitgenössischen Geisteswelt Berlins als einem weiteren Hot Spot der deutschen Klassik. Und macht nicht zuletzt interessierte LeserInnen schon gespannt auf die Edition der für Moritz‘ Ästhetik so entscheidenden Italien-Reise.

Titelbild

Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Bd. 4/2: Schriften zur Mythologie und Altertumskunde. Teil 2: Götterlehre und andere mythologische Schriften. 2 Teilbände.
Herausgegeben von Martin Disselkamp.
De Gruyter, Berlin 2018.
1160 Seiten , 299,00 EUR.
ISBN-13: 9783110540406

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