Requiem für die Mutter

Annie Ernaux‘ „Eine Frau“ erscheint in neuer Übersetzung

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 7. April 1986 verstarb die Mutter von Annie Ernaux. Sie war seit zwei Jahren dement. Deshalb glaubte die Autorin, dass es so besser sei für alle, wenngleich sie sich auch eingestehen musste: „Jetzt war wirklich alles vorbei.“ Der Vater war schon 12 Jahre zuvor verstorben. Ihm widmete Ernaux 1982/83 ihr Buch Der Platz. Vier Jahre später erinnert sie sich im Mutterbuch an ihn als denjenigen, mit dem sie Spass gehabt habe. Mit der Mutter dagegen „unterhielt ich mich. Sie war die dominante Figur, das Gesetz“. Das ist Grund genug, alle Widerstände zu überwinden und auch über sie zu schreiben. Eine Frau forscht dem Leben jener Frau nach, die Ernaux am nächsten war, mit der sie Kämpfe austrug, die sie zeitweise bei sich aufnahm und am Ende pflegte.

Wie schon im Vaterbuch gelingt ihr abermals, das Leben eines Menschen ebenso präzise wie nüchtern festzuhalten. Die Ähnlichkeit mit Der Platz liegt in der Form. In Eine Frau heißt es: „Dies ist keine Biographie und natürlich kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung.“ Es bleibt frappierend mitzulesen, wie Annie Ernaux auf dem intensiv beackerten Feld des Biografischen eine einzigartige „neutrale“ Schreibweise gefunden und geprägt hat.

Für Ernaux ist die Mutter „die einzige Frau, die mir ernsthaft etwas bedeutet hat“ – ein Idol und ein Widerpart für die eigenen Hoffnungen. Sie war stets darauf bedacht, die Form zu wahren, „standesgemäß“ aufzutreten. Wie ihr Ehemann in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hegte sie ehrgeizigere Lebensträume als dieser. Sie wollte unbedingt dem Arbeitermilieu ihrer Kindheit entkommen. Mit dem Kolonialwarenladen, den sie übernahmen und führten, erfüllte sich ein erster Teil dieses Traums vom sozialen Aufstieg. Dazu sollte ein Kind kommen, „nur ein einziges Kind, damit es glücklicher ist“, schreibt Ernaux. Doch dieses erste Kind starb 1938 an Diphtherie. Anfang 1940 erwartete die Mutter wieder ein Kind, auf das sie ihre Erwartungen projizierten: die spätere Autorin.

Dann folgt der Satz: „Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch zur Welt zu bringen.“ Was wie eine seltsame Verkehrung klingt, trifft den Kern dieses Buches. Annie Ernaux erzählt mit ihrer „Écriture comme un couteau“, ihrer Schreibweise mit dem Skalpell, jene Geschichte der Mutter, die die Autorin gar nicht kennen kann. Das heißt, sie will jene Jahre und jenes Milieu „zu fassen bekommen“, welche das Leben der Mutter vor ihrer eigenen Geburt 1940 geprägt hatte. Viel wurde zu Hause darüber nicht geredet. So macht Annie Ernaux ihre Beobachtungen an kleinen Dingen fest. Beispielsweise an der „ambition“ ihrer Mutter, welche im Dialekt der Normandie „auch ‚Trennungsschmerz‘“ bedeutet, wenn sich beispielsweise ein Kind von der Familie entfernt, um nach Höherem zu streben. Diese Ambition wird auch ihre Tochter an sich selbst gewahr. Sie hat die Töchterschule besucht, danach studiert und auf diesen Etappen das kleinbürgerliche Milieu ihrer Eltern hinter sich gelassen.

Im Vaterbuch und hier in diesem Mutterbuch sucht sie nochmals Anschluss daran. Die Mutter hatte es der Tochter nicht leicht gemacht, sich aus ihrem Dunstkreis zu befreien. Ernaux hält fest: „Ich versuche, die Wut, die überschwängliche Liebe und die Vorwürfe meiner Mutter nicht nur als individuelle Charakterzüge zu betrachten, sondern sie in ihrer Lebensgeschichte und ihrer gesellschaftlichen Stellung zu verorten.“ Die Strenge war ein Schutz davor, nur ja nicht zurückzufallen. Aller Härten zum Trotz hat die Mutter das Leben offenkundig aber auch genießen können. „Sie war allen gegenüber großzügig, sie gab lieber, als dass sie nahm.“

Eine Frau ist wie Der Platz ein dünnes Buch, in dem jeder Satz trägt. Die beiden Requiems ergänzen sich und fügen sich geschmeidig in die Lücken, die der später verfasste Bericht Die Jahre sorgsam aussparen wird. Die Erinnerung an die Mutter schließt für die Tochter einen Kreis, sie beschreibt hier auch ihren eigenen Weg nach Hause zu sich selbst.

Titelbild

Annie Ernaux: Eine Frau.
Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
90 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225127

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