Niederdeutscher Dichter, Kulturmanager und großer Realist

Anlässlich seines 200. Geburtstages wird Klaus Groth mit einer Neuauflage des Gedichtbandes „Quickborn“, einem aufwendig gestalteten „Jahrbuch“ sowie einem „Lesebuch“ geehrt

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klaus Groth (1819–1899) hat in einer Zeit, als Deutschland allmählich zusammenwuchs und das Hochdeutsche das große verbindende Element war, es vorgezogen, in der niederdeutschen Sprache zu produzieren. Er hatte Erfolg, er hat durch sein Dichten und seine theoretischen Schriften einen segensreichen Einfluss auf das Image des Niederdeutschen und auf seine Schreibkultur ausgeübt. Groth war für seine Publikationen ein deutschlandweit agierender Marktstratege, er hatte die Züge eines Kulturmanagers. Nein, das Niederdeutsche taugt nicht nur dazu, lustige Typen oder Hinterwäldler vorzuführen und, so Groths Worte, „eine gemeinsame Lachlust zu erregen“ – gelegentlich steht heute wieder das Niederdeutsche oder ‚Plattdeutsche‘ in diesem Ruf –, sondern man kann in dieser Sprache einfach alles sagen. Sie verfügt über verschiedene Register und ist zu feinen Nuancen fähig, auch grausamen. „Weest du, wat Krieg heet“, so beginnt Groths Gedicht De Welt, in dem dann „un Pęr un Minsch un Köpp un Arms un Säwels“ auftreten: „De armen Lüd! – wat hölpt? – se mussen raf [herab]“.

Um den Lyriker Groth zu würdigen, müsste man das Niederdeutsche vollständig beherrschen. Aber auch der, der nur ein halber Kenner ist (wie ich), bemerkt, wie kunstvoll Groths Beschreibungen sind. Etwa die Grotmoder (so ein Gedichttitel), „de Olsche“, ist „verbistert un verbas’t“, sie „hollt de Huspostill“, bis das lyrische Ich erschrocken merkt: „De Sünn schint doch so fründli / Un makt ęr Backen rot: / Du lewe Gott in Himmel – / De Olsche … de is dot!“ In Groths Ręgenleed gibt es die Verse „De Blöm, de hangt so slapri dal [schläfrig hinunter] , / De Böm, de röhrt de Blæd ni mal“. Virtuos werden Blumen (Blöm) und Bäume (Böm) parallelisiert. Groths große Sprachsensibilität zeigt sich in dem Gedicht Min Jehann, das vielfach vertont wurde: etwa bei der Verwendung der einsilbigen Verbform „seil“ (segelte) in der Zeile „An Hęben seil de stille Maan [Mond]“. Theodor Fontane hat in seinem Gedicht Toast auf Groth die Lyriker „Goethe, Mörike und Klaus Groth“ in einem Atemzug genannt. Ein Thema bei Groth ist der Einzelne in der Gesellschaft. „Jümmer mehr Minschen, de man nich kenn“, heißt es einmal. Das Mädchen der Ballade De Vullmacht von 1855, in seiner psychischen Not, „weent sik satt“. Diese Formulierung taucht später in Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter wieder auf: „Sie weint sich satt.“

Groth war gelernter Volksschullehrer und hat sich, angeregt von Akademikern unter seinen Freunden und gepusht von den reichen Talenten in ihm, autodidaktisch weitergebildet, so dass er ein ‚poeta doctus‘ wurde, durchaus im Sinne seines Zeitgenossen, des Dichters Paul Heyse, der Italianist war. Im Jahrbuch 2019 diskutiert Barbara Scheuermann sehr detailliert die Frage, inwieweit Groth ein ‚poeta doctus‘ und inwieweit er ein ‚poeta philologus‘ ist. Unabhängig davon ist zu betonen: Groth hat sich in Fremdsprachen, auch antike, eingearbeitet und ebenso in deutsche Dialekte, das Alemannische etwa. Er kannte die Zusammenhänge zwischen den romanischen Sprachen. Er hat sich mit Naturwissenschaften, Philosophie und Mathematik beschäftigt. In der Lebensskizze, die sich im Klaus-Groth-Lesebuch befindet, attestiert er sich „eine Wut zur Mathematik“. Selbstverständlich war er ein Kenner der gesamten deutschen Literatur. 1856 hat ihm die Uni Bonn den ‚Dr. h. c.‘ verliehen, später hielt er Vorlesungen in Kiel und bekam den Titel Professor. Einen Lehrstuhl allerdings hatte er nie. Er besaß den weiten historischen Blick: Ihn störte nicht, dass seine Heimatregion preußisch wurde, und 1895, zur Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals, schuf er ein Festgedicht. Er unternahm Reisen nach Wien, Budapest und an die Riviera. Groths lebenslange Hinneigung zum Niederdeutschen ging einher mit dem Erwerben eines immensen Weltwissens.

Die wichtigste der drei Neuerscheinungen ist die Neuedition des Quickborn (d. h. Lebendige Quelle), Groths erfolgreichstes Buch, das 1852 erstmals erschienen ist. Dankenswerterweise ist ein niederdeutsch-hochdeutsches Vokabelverzeichnis beigegeben, das über 900 Einträge hat und dabei, als sehr aufschlussreiche linguistische Querverweise, auch friesische, niederländische, dänische und andere Sprachproben aufführt. Dieses Verzeichnis geht auf den Germanisten Karl Müllenhoff zurück, der viel mit Groth zusammengearbeitet hat. Zu schätzen ist auch, dass hier die von Groth eingeführten Schreibweisen ę für ein sehr offenes e und æ für einen Laut zwischen ä und ö bewahrt wurden. Die Anmerkungen geben in vielen Fällen an, wann das betreffende Gedicht entstanden ist und in welchen der alten Auflagen es sich befand. „Schon in der 1. Auflage enthalten“, „erschienen in der 1. Auflage“, „zuerst in der 7. Auflage“, so und ähnlich lauten derartige Erläuterungen. Die 14. Auflage (1883) des Quickborn war die letzte von Groth selbst betreute.

Und doch ist diese Quickborn-Edition nicht nur zu loben. Auf welche der alten 14 Auflagen geht sie zurück? Ist die letzte von Groth besorgte Auflage die Grundlage? Oder versammelt die Edition alle Gedichte, die in mindestens einer der 14 Auflagen des Quickborn stehen? Die Erklärung im Vorwort, die Edition entspreche im Wesentlichen einer Fassung von 1956, also aus dem 20. Jahrhundert, gibt hierauf keine Antwort. Noch ein Kritikpunkt: In den Anmerkungen zu einigen Gedichten wird jeweils ein Motto genannt, das einst Groth dem Gedicht vorangestellt hat – bei Rumpelkamer, Unruh Hans, De Slacht bi Hemmingstęd und anderen. Warum verschiebt die Edition alle diese von Groth gewollten kleinen Einführungstexte ans Ende in die Anmerkungen? Gewiss, der interessierte Leser verlangt nicht unbedingt eine historisch-kritische Ausgabe des Quickborn, so erfreulich auch eine solche anlässlich Groths 200. Geburtstags gewesen wäre. Aber die genannten editorischen Eigenwilligkeiten und Ungenauigkeiten vermindern den Lesegenuss.

Das Jahrbuch 2019 der Klaus-Groth-Gesellschaft enthält Beiträge zu Groths Leben von Heiner Egge und Robert Langhanke sowie literaturwissenschaftliche Arbeiten, und zwar über die Emotionen im Quickborn von Birger Jürgens und über Groths Kontakt mit seinem italienischen Übersetzer von Stefano Apostolo. Außerdem die erwähnte Diskussion über den ‚poeta doctus’. Es berichtet ferner aus der aktuellen literarisch-niederdeutschen Szene, zu der u. a. ein Grundschullesebuch (sein Titel: Paul un Emma un ehr Frünnen, erschienen 2018) zählt. Ein Glanzpunkt dieses Jahrbuches ist die von Dieter Lohmeier vorgelegte und sehr sorgfältig kommentierte Korrespondenz zwischen Groth und dem seinerzeit berühmten Liedersänger Julius Stockhausen (1826–1906). Groth holte Stockhausen mehrfach für Konzerte nach Kiel. Diese Briefe sind ein wertvolles Zeugnis nicht nur des kulturellen Lebens im 19. Jahrhundert, sondern auch der tragenden Rolle, die Groth als Kulturmanager für die Stadt Kiel hatte. Zusammen mit dem Klaus-Groth-Lesebuch führt dieses Jahrbuch 2019 sehr gut in das Schaffen und das Leben Groths ein.

Das Klaus-Groth-Lesebuch wiederum ist klug zusammengestellt und bietet einen Querschnitt durch das dichterische und das Prosa-Werk. Die Hälfte des Bandes machen niederdeutsche Gedichte aus, darunter auch solche, die nicht im Quickborn stehen. Dazu treten Beispiele von Groths niederdeutscher Prosa, insbesondere die Kindererinnerung Min Jungsparadies von 1871, die in Tellingstedt spielt. Es ist jener Text, der einhundert Jahre später Arno Schmidt zu seiner Roman-Komödie Die Schule der Atheisten mit inspirieren sollte. Ferner werden einige hochdeutsche Gedichte Groths wiedergegeben, darunter das erwähnte Festgedicht für den neuen Kanal, sowie drei der Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch. Diese Briefe enthalten bedeutsame Stellungnahmen Groths über den Umgang mit der Sprache. Er tritt hier nicht nur für das Niederdeutsche ein, sondern wirbt auch für einen würdigen Gebrauch des Hochdeutschen. Dies sei, tadelt Groth, eine Sprache geworden mit „Millionen leerer Formeln, die man in der gebildeten hochdeutschen Gesellschaft allabendlich auswechselt“. Der Vorwurf könnte von heute stammen.

Vor allem aber rechtfertigt Groth in diesen Briefen sein Eintreten für das Niederdeutsche. Groth ist bescheiden; er weiß, dass ein Einzelner nicht der Bevölkerung eine Sprache vorschreiben kann („Luther hat keine Sprache geschaffen“, betont er). Mit seinem Dichten in der niederdeutschen Sprache will er, wie er sagt, „nicht erobern, aber erhalten“. Dieses Erhalten ist ihm wichtig, denn – er beruft sich ausdrücklich auf Wilhelm von Humboldt – „Sprache und Volksgeist sind eins und dasselbe“. Groths Lyrik mit ihrer Präzision und ihrer Neigung zum Alltäglichen steht in der Tradition des Realismus. Aber noch darüber hinaus zeigt sich Groth als Realist. Er würdigt das, was für ihn als das Erste da ist, nämlich die Sprache seines Lebensraumes. Sie ist sozusagen das Allerrealste für ihn, ihr gibt er sich hin, ihr gilt seine Kreativität. Er schreibt und dichtet in einer Sprache, die von den meisten Deutschen übersehen wird und die in einer Region die Muttersprache ist. Klaus Groth ist ein imposanter Vertreter des deutschen Realismus. Zu Recht spricht Robert Langhanke im Vorwort des Klaus-Groth-Lesebuches von der „Bewusstseinsschärfe“ in Groths Gedichten und nennt ihn zugleich den „schleswig-holsteinischsten Dichter“.

Ein Tipp noch! Wer sich mit der niederdeutschen Poesie vertraut machen will, der möge Groths Quickborn lesen.Wem das zu viel ist, der lese im Klaus-Groth-Lesebuch den Auszug aus dem Quickborn. Wem auch dies noch zu viel ist, der lese im Jahrbuch 2019 die neuen Gedichte von Peter Schütt und Heiko Thomsen (geb. 1939 bzw. 1967), die halb ironisch und wunderbar sprachspielerisch das Groth’sche Dichten fortsetzen.

Titelbild

Klaus Groth: Quickborn.
Mit Holzschnitten von Otto Speckter. Neu herausgegeben von Ulf Bichel.
Boyens Buchverlag, Heide 2019.
416 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783804208308

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Robert Langhanke (Hg.): Jahrbuch 2019. Band 61: Klaus Groth zum 200. Geburtstag. Herausgegeben im Auftrag der Klaus-Groth-Gesellschaft.
Boyens Buchverlag, Heide 2019.
239 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783804209831

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Robert Langhanke (Hg.): Klaus-Groth-Lesebuch.
Boyens Buchverlag, Heide 2019.
182 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783804215191

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