Doppelte Verneinungen

Kai Weyands wunderbar nachdenklich-poetischer Roman „Die Entdeckung der Fliehkraft“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem letzten Roman Applaus für Bronikowski stand er 2015 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Mit Die Entdeckung der Fliehkraft legt der Freiburger Autor Kai Weyand (Jahrgang 1968) nach insgesamt zwei Erzählbänden seinen dritten Roman vor – und was für einen: Leise, nachdenklich, an manchen Stellen komisch und mit skurrilen Pointen, zugleich aber auch poetisch, lakonisch und voller Sprachmusik.

Karl Löffelhans, Mit- oder Enddreißiger, Deutschlehrer im Gefängnis, hat eigentlich alles, um zufrieden mit seiner Frau Lydia, einer halbtags arbeitenden Physiotherapeutin, und dem gemeinsamen fünfjährigen Sohn Linus, einem „Wunschkind“, zu leben. Und doch scheint sein Leben seit einiger Zeit unmerklich aus der Balance gerutscht zu sein. Karl spürt zunehmend „eine verlassene Behaglichkeit“, wie schon auf der ersten Seite des Romans deutlich wird: „Früher hatte er nach dem Aufwachen zuerst nach Lydia geschaut.“ Jetzt checkt Karl zuerst die Uhrzeit auf dem Smartphone, bevor er zu seiner Frau schaut, die meist ohnehin schon längst aufgestanden ist: „Und es war nicht so, dass ihm nicht klar war, dass das, was einmal nach hinten gerutscht, in seinem Rutschen kaum noch aufzuhalten war. Was einmal Zweites geworden, wurde irgendwann Drittes und dann Viertes, und ab da war es dann im Grunde egal.“

Offenbar scheint sich mit der Geburt des Sohnes Linus das Leben von Lydia und Karl grundlegend geändert zu haben. Denn Lydia, die Karl bis dato vor allem wegen ihres „unerschütterlichen Glauben(s) an das Leben“, wegen „ihrer grenzenlosen Zuversicht, dass sich immer alles zum Guten wenden würde“, fasziniert, kommt offenbar die Leichtigkeit des Seins abhanden:

Aber Linus war nicht alleine auf die Welt gekommen. Er hatte jemanden im Schlepptau, von dem anfänglich niemand wusste, dass er mitgekommen war. Erst nach und nach machte er sich bemerkbar. Karl fand schon seinen Namen blöd: Er hieß Ernst, und blöderweise war er es auch noch. Der ernste Ernst. Der Ernst schaffte es, dass Karl und Lydia das Leben fortan mit anderen Augen betrachteten. Beide gingen sie unterschiedlich mit dem Ernst um.

Und so pendelt Karl zwischen Knast, der „Heimat (ist) für viele Begriffe, die aus der Balance geraten“ sind, dem Pflegeheim seines kranken Vaters Karl-Friedrich und der Familie, wobei manchmal ebenso unmerklich das eine zum Spiegelbild des andern wird.

Karls Krisen – denn auch sein Verhältnis zum pflegebedürftigen Vater wird schwieriger – beschleunigen sich, als er aus einer Laune heraus seine Kontaktdaten im Smartphone durchblättert, und nicht seiner Frau eine Kurzmail schreibt, sondern Karoline Merlinger, die er im Jahr zuvor „bei einer Veranstaltung mehrerer Schulbuchverlage kennengelernt“ hatte. Karoline antwortet ebenso poetisch wie Karl und es entwickelt sich ein kurzer Liebes-Roman per E-Mail.

Neben Lydia, Karoline, dem kranken Vater Karl-Friedrich und dem kleinen Linus gibt es in Die Entdeckung der Fliehkraft vor allem noch den Nachbarsjungen Homer, der eine leichte Beeinträchtigung hat, und seine Mutter Simone Kircheisen, die ihr Leben einzig auf ihren Sohn ausgerichtet hat. Wie Lydia, Karoline und Karl befasst sich auch Homer genauer mit Sprache. Bei den täglichen Begegnungen mit Karl etwa stellt er Rätselfragen, die mit einem Toten enden. Etwa: Wie stirbt ein Metzger? Oder wie stirbt ein Kaminfeger?

Aber auch einige von Karls Schülern im Gefängnis achten genau auf Sprachbilder und auf Sprachräume, etwa wenn sie über die doppelte Verneinung, über Rilkes Gedicht Der Panther oder über philosophische Fragen diskutieren. „Es ist ja so“, sagte Karl,

im Alltag sprechen die meisten Menschen Pommes rot-weiß, so ein bisschen matschig und fettig. Wenn sie sich aufregen, legen sie sprachlich noch eine Currywurst dazu, dann wird die Tonlage schärfer, etwas feuriger, aber im Geschmack bleibt es doch sehr grob und nuancenarm. […] Es bleibt sprachliches Fastfood. Poesie dagegen wird mit sehr feiner Klinge geschnitten, da werden die Worte nicht wahllos aus dem Supermarktregal geräumt, der Garpunkt ist nichts, was Pi mal Daumen geschätzt wird […]. Bei einem Gedicht explodieren eure Geschmacksnerven, da versteckt sich nämlich ein Universum an bisher unbekannten Galaxien von Gerüchen und Geschmäckern, Aromen und Gewürzen hinter euren Zähnen.

Und ab und an lässt Karl nach Unterrichtsende die besten Antworten seiner Schüler als Papierflieger vom hohen Kirchturm segeln. Karls Leben gerät schließlich vollends aus der Bahn, als er eines Nachts in der Nachbarschaft an einem der vielen Kindertrampoline, die die Vorgärten bevölkern und die für ihn auch Sinnbild des eingesperrten Panthers in Rilkes Gedicht sind, die Seitenbefestigung durchtrennt. Die Folgen und das Ende des Romans seien an dieser Stelle nicht verraten.

Fazit: Es ist gewiss nicht so, dass dieser Roman über Beziehung, Freundschaft, Schuld und vor allem über die Imaginationsräume der Sprache nicht hervorragend wäre. Und es ist außerdem auch nicht so, dass er nicht voller subtil beobachteter Alltagsbilder und -szenen wäre. Und es ist vor allem nicht so, dass Die Entdeckung der Fliehkraft nicht der Alltags-Leichtigkeit nachspürt. Und schließlich ist es beileibe nicht so, dass dieses Fazit nicht auch für die fünf CDs der knapp sechs Stunden dauernden ungekürzten Lesung des Autors, untermalt und kontrapunktiert mit der Klaviermusik des jungen, 1998 in London geborenen Komponisten Tomasz Edwards gelten dürfte. Es ist vor allem so, dass Die Entdeckung der Fliehkraft ein gelungenes Kabinettstück über all das ist: über Beziehung, Freundschaft, Schuld und die Imaginationsräume der Sprache und damit über die kreativen Fliehkräfte der Gedanken.

Titelbild

Kai Weyand: Die Entdeckung der Fliehkraft. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
197 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835335776

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