Schönheit und Humanität

In „Ästhetische Distanz“ stellt Wolfgang Riedel Perspektiven zu Literatur, Philosophie und Kunst vor

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Schiller studierte interessiert die Werke Immanuel Kants. Aber der maßgebliche Philosoph der deutschen Aufklärung konnte ihn nicht immer überzeugen. Schiller erwies sich als versierter, skeptischer Leser, der Kants Ausrichtung auf die Vernunft zwar nicht als obsessiv kennzeichnete, aber die Grenzen dieser Schwerpunktsetzung erkannte. Schiller also suchte nicht nach der Dominanz der Vernunft, wohl aber nach Möglichkeiten, die Humanität zu fördern. Der Würzburger Germanist Wolfgang Riedel, renommierter Schiller-Forscher, widmete sich in seiner Abschiedsvorlesung noch einmal, selbst beflügelt und seine Hörer wie Leser inspirierend, Klassikern und klassischen Themen seines eigenen akademischen Lebens.

Riedels Vortrag führt in die literarische und philosophische Weite, aber er vergisst auch nicht die Alltäglichkeit der Universität. Er erinnert knapp, dankbar und humorvoll an die Ämter, die er bekleiden durfte. Zügig nach den Dankadressen, die Weggefährten und Mitarbeitern gelten, teilt er mit, dass er dem Auftrag aus dem Schülerkreis folgen wolle. Er, der Schillerforscher, müsse zum Abschied über Schiller sprechen: „Also – wenden wir uns heute Schiller zu!“ Riedel tut das in historischer, aber auch gegenwartsbezogener Perspektive. Seine Reflexionen über das „Konzept der ästhetischen Distanz“ verfügen über Berührungspunkte mit der Aufklärungsphilosophie und führen auch hinein in die ästhetischen wie politischen Diskurse unserer Zeit.

Zunächst zeigt Riedel auf, dass die „rationalistisch geprägte Aufklärung“ einer Formung, ja einer Läuterung bedurft hatte. Stramme Vernunftorientierung, ja Verstandesfixierung genügte nicht. Friedrich Schiller erkannte, dass auch Affekte, Sinnes- und Gefühlsempfindungen denkend weder abgewiesen noch ausgeblendet werden dürften, sondern eingebettet werden müssten. Die „Erziehung des Herzens“ sei, mit Schiller, eine „Sache der Künste“:

Denn während alle Philosophie und Theorie immer nur den Kopf anspricht, erreichen die Künste … auch die subrationalen Schichten der menschlichen Psyche und könnten hier, so seine Hoffnung, zum Guten wirken, indem sie durch Zivilisierung der Triebe und Dämpfung der Affekte das menschliche Zusammenleben humaner, verträglicher, „schöner“ machen.

Der Kant-Leser Friedrich Schiller erkennt scharfsichtig die „Schwachstelle der kantischen Moralphilosophie“. Handelt der Mensch etwa souverän aus Pflicht wider jede oder ungeachtet aller Neigung? Schiller hält die „Idee der Herrschaft der Vernunft zwar für ein schönes Ideal, aber im realen Leben für eine Illusion“. Riedel zeigt, wie der Dichter und Dramatiker hier dem schottischen Philosophen David Hume folgt, der die „Affekt- und Triebnatur des Menschen“ berücksichtigt und nicht rationalistisch abweist: „Schon der Ansatz sei falsch, denn unser Handeln werde ja überwiegend gerade nicht durch Vernunft, sondern affektiv und subrational gesteuert, durch Lust/Unlust-Empfindungen.“

Schiller hoffte auf die Französische Revolution, auf die „natürliche Güte“, die sichtbar werden könne, erkannte aber, dass 1789 ein „Regime des Terrors und der entfesselten Gewalt“ entstanden war. Er denkt über das Schöne nach und wendet sich der „ästhetischen Anschauung“ und dem „ästhetischen Objektbezug“ zu, nun durchaus ähnlich wie Kant, aber weniger spröde formulierend. Riedel schreibt:

Ein schönes Objekt, ein schöner Mensch gefallen, aber sie lösen nicht zwingend massives Triebverlangen aus. … Solche Ausschaltung primärer Affektimpulse ist also evidentermaßen möglich! Das bringt ihn zu der Vermutung, dass das, was wir im elaborierten Kulturverhalten an den Tag legen, eigentlich schon initial, am Anfang des Zivilisationsprozesses stattgefunden haben muss, damit das Triebdiktat der Natur sich überhaupt lockern konnte.

Die Wirklichkeit der Schönheit, „interesseloses Wohlgefallen“ – Kants Begriff –, angesiedelt in der „kulturell hoch elaborierten Kunstsphäre“, überträgt Schiller an den Beginn der menschlichen Zivilisation: „Der Mensch wird Mensch durch Abständigkeit, als habituelles Distanzwesen.“ Diese Distanz ermögliche einen „Humanisierungssprung“. Der Mensch wolle nicht triebhaft besetzen und ergreifen, er staune und verwundere sich – und bewundere die Schönheit. Er möchte das Schöne nicht beherrschen, er lasse es einfach sein. Die „ästhetische Distanz“ mache zugleich den Betrachter, also das Ich, frei, und ebenso sein Gegenüber. Das Verhältnis bestehe, unter Menschen, in wechselseitiger Anerkennung, respektvoll gegenüber den „Schwächen und Empfindlichkeiten des Anderen“. Schiller versteht dies aber nicht als Arbeit gegen, sondern mit der Triebnatur des Menschen. Er überwindet nicht krampf- oder zwanghaft, verzichtet also auf erhabene Pflichtappelle. Er versucht nicht, Dimensionen des Menschen zu züchtigen und zu gängeln, sondern ästhetisch-ethisch zu formen und zu bilden.

Später, im 20. Jahrhundert, wird – bei Aby Warburg – von der „Affektbewältigungsarbeit der Kunst“ gesprochen. Heute aber sei uns der Gedanke, „Kunstproduktion und ästhetische Anschauung“ seien nützlich als „Kulturtechniken der Affektabschwächung“, fremd geworden. In der Gegenwart, so Riedel, verliere sich die „ästhetische Distanz“ mitunter, der „Empfindungshorizont“ trete in den Vordergrund. Wer in „phobischen Assoziationen“ befangen sei, der sei zu einer „freien Betrachtung“ von Kunst außerstande. So werde die „Resonanzerzeugung“ von Kunst zum Problem, wenngleich Leser wie Betrachter „eingeladen“ seien, die „Betrachtung des Schönen, die Zu-wendung zu ihm aus ästhetischer Distanz, zu teilen“.

Doch oft – wie Riedel auch aufzeigt – werde die Wahrnehmung von Kunst dadurch erschwert, dass die Betrachtenden von innen her okkupiert sind, von ihren eigenen Vorstellungen oder leitenden Ansichten, so dass sie, von Interessen besetzt, zu einem freien Wohlgefallen gar nicht imstande seien. So werde die „Sublimierungsleistung der Kunst“ als „elementare Zivilisationsleistung“ weder gesehen noch akzeptiert oder gewollt: „Lesen ist nicht passive Aufnahme, sondern eine Aktivität, und das Leserinteresse schreibt in ihr mit. Es kontrollieren zu lernen, um den Texten möglichst nahe zu kommen, macht daher einen Gutteil des Philologiestudiums aus (die Schule leistet es … nicht mehr). Denn im Extremfall, der aber nicht selten ist, überschreibt der Leseakt den Text oder schreibt ihn um.“

Riedel beschreibt den „Suprematismus der politischen Moral“, der die Wahrnehmung von Kunst beeinträchtige, verbunden mit dem „daseinserleichternden Gefühl, auf der richtigen Seite zu entstehen“. Die Omnipräsenz des Moralismus herrsche, das lasse sich zunehmend auch in den Künsten beobachten. Die eigene Gesinnung werde aber nicht kritisch reflektiert, die „ästhetische Distanz“ schrumpfe. Wolfgang Riedel hofft auf einen „Denkraum der Besonnenheit“. So könne Schönheit weiter oder wieder wahrgenommen werden. Wichtig sei, den „politisch-moralischen Druck in den Köpfen“ zu senken, so dass die „Distanzgewinne der ,freien Betrachtung‘ stärker zum Zuge kämen.“ Der „Distanzraum der Wissenschaften“ lebe vom „Postulat der sanktionsfreien Kontroverse“.

Wolfgang Riedel ermutigt in seiner anregenden, sehr lesens- und bedenkenswerten Abschiedsvorlesung über die „Ästhetische Distanz“ auch zu einer kritisch-reflektierten Distanz gegenüber politisch-moralistischen Invektiven und Imperativen, die den Diskurs beeinträchtigen können. Dieser schmale Band lädt zugleich dazu ein, Friedrich Schillers philosophische Werke neu zu lesen und sich dem Phänomen Schönheit, nicht nur in der Welt der Kunst, in dankbarer Freude zuzuwenden.

Titelbild

Wolfgang Riedel: Ästhetische Distanz. Auch über Sublimierungsverluste in den Literaturwissenschaften. Abschiedsvorlesung.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
73 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783826069574

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