Füchse im Widerstreit

Der peruanische Autor José María Arguedas erzählt in „Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten“ von Mythen und Wirklichkeiten

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie liest man einen unvollendeten Roman, der vieles in einem ist? Es ist der Versuch des berühmten Autors José María Arguedas, vor allem mit Tagebuchaufzeichnungen, ein weiteres Buch zu schaffen, um sich vom Selbstmord abzuhalten, wie er schon im ersten Satz festhält: „Im April 1966, vor gut zwei Jahren also, habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen“ und wenig später: „Schreibend gegen den Tod anzukämpfen ist kein Unglück“. Der Roman beinhaltet aber auch eine Abrechnung mit den berühmten Kollegen der 1960er Jahre, der Zeit also als der Boom der neuen Erzählprosa den Kontinent im Sturm eroberte und Arguedas mit Julio Cortázar eine polemische Auseinandersetzung führte. Nämlich um die Bedeutung der auf indigenen Wurzeln gründenden Literatur, also der seiner Meinung nach ‚autochthonen‘ Werke, die er den europäischen und ‚weltläufigen‘ Texten wie Cortázars Rayuela gegenüberstellte. ‚Provinz‘ versus ‚Stadt‘ also.

Hinreißend sind seine Beschreibungen von Flora und Fauna:

„Der Flug der Huayronqo [Hummel] ist seltsam, eine Mischung aus Fliege und Kolibri. Wie ein Helikopter und ein Kolibri und ein Turmfalke kann sie in der Luft schweben. Sie hat einen riesigen Leib, der fast so sehr schimmert wie der eines Kolibris […] und sie ist fast so wendig wie er, führt äußerst ruckhafte Manöver aus. Dabei ist sie ein Insekt! […] In zwanzig Metern Höhe wirkt ihr vom eigentümlichen Flattern der transparenten Flügel in der Luft gehaltene Körper, als wäre er so weit weg, dass sich das Auge sehr anstrengen muss, um ihn zu sehen, um die eindringliche Bedeutung seiner hängenden, oft gelb gesprenkelten Beinchen und seines schildkrötengleichen Körpers in unser Leben aufzunehmen.“

Schließlich bietet er eine Analyse der Transformation seines Heimatlandes Peru von einer ruralen zu einer urbanen Gesellschaft, die zu enormen Migrationsströmen aus den Anden an die Küste führte, wo eine rapide Industrialisierung begann. Der Fuchs von oben – die Sierra. Der Fuchs von unten – die Küste.

Der Leser empfindet vermutlich eine große Ratlosigkeit angesichts dieses Romans, während die Bedeutung seines Autors unumstritten ist. Mario Vargas Llosa hat seinem älteren Kollegen eine große Studie (350 Seiten) gewidmet, Die archaische Utopie. Dort heißt es über dieses Werk:

„Ein Buch wie dieses ist unvereinbar mit der Theorie, dass die Kritik auf den Autor verzichten muss. In diesem Fall sind das Leben, und vor allem der Tod desjenigen, der schreibt, von essentieller Bedeutung, um den Wert des Romans wirklich zu schätzen […]. Der Leichnam des Autors füllt retrospektiv die weißen Flecken in der Geschichte, gibt der Unvernunft die Vernunft zurück und macht aus dieser Fiktion – denn auch das ist sie – ein erschütterndes Dokument.“

Ein Dokument auch darüber, wie andine Mythen an Kraft verlieren, wenn die Bewohner an die Küste kommen, um in der dank der Fischmehlindustrie schnell wachsenden Stadt Chimbote eine neue Existenz aufzubauen. Arguedas, der die Mythen der Indigenen dank seiner Kenntnis des Quechua – er selbst wuchs in einem Andendorf auf – gut kannte und ins Spanische übersetzte, der sich in allen seinen Texten als Anthropologe, Lyriker und Erzähler mit diesem Kosmos obsessiv beschäftigte und immer versuchte, Brücken für ein besseres Verständnis zu bauen (in Lima waren Indigene nur billige Arbeitskräfte und Dienstpersonal) – er zerbrach an diesen Widersprüchen.

Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten ist zum einen ein gescheiterter Roman, was der Autor selbst mehrmals betont, zum anderen aber ein beeindruckendes Stück Literatur, das noch einmal einen genaueren Blick auf Leben und Werk von Jose María Arguedas ermöglicht, das seine umfassende Kenntnis der andinen Welt und seine lyrischen Stärken aufzeigt. Aber: „Ich habe gegen den Tod gekämpft oder glaube, gegen den Tod gekämpft zu haben, Auge in Auge, als ich diese stockende, klageerfüllte Geschichte schrieb. Ich hatte nur wenige und schwache Verbündete; die Verbündeten des Todes haben gesiegt“.

Damit liegen auf Deutsch die wichtigsten Titel des Autors vor: Erzählungen wie Diamanten und Kieselsteine (Bibliothek Suhrkamp, Nachwort Mario Vargas Llosa), vergriffene Romane wie Fiesta des Blutes oder Trink mein Blut, trink meine Tränen (Originaltitel: Todas las sangres, d.h. „Alle Arten Blut“), vor allem aber sein Hauptwerk Die tiefen Flüsse (Wagenbach Taschenbuch). Jetzt, da die Indigenen in Peru, Ekuador und Bolivien um ihre traditionellen Rechte und um mehr Anerkennung kämpfen, erhalten die Werke von Arguedas wieder größere Aufmerksamkeit, enthalten sie doch viele Schlüssel zu dieser uns weitgehend unbekannten Welt der Quechua-Kosmogonie.  

Ein immenses Lob verdient zudem Matthias Strobel. Die Übertragung dieses sperrigen Romans mit seinen vielen Brüchen, den Selbstzweifeln, Indigenismen, sozialen Anklagen und lyrischen Passagen war eine riesige Herausforderung: Der Übersetzer hat sie meisterhaft bewältigt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

José María Arguedas: Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten. Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019.
315 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133168

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