„Beobachten, Abtasten, Abklopfen, Abhören“ – bulgarisches Dorfidyll mit Ärztin

Evelina Jecker Lambreva schreibt in ihrem Roman „Entscheidung“ über den Sozialismus und die Wende in Bulgarien

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ideologische Konflikte spielen in der deutschsprachigen transkulturellen Gegenwartsliteratur aus rumänischen und bulgarischen Migrationskontexten – wie etwa bei Dimitré Dinev im Roman Engelszungen (2003) oder in Carmen-Francesca Bancius Romanen Das Lied der traurigen Mutter (2007) und Vaterflucht (2009) – eine besonders wichtige Rolle. Sowohl die Gesellschaft als auch ihre kleinste Einheit, die Familie, werden von ihnen beeinträchtigt.

Ähnlich verhält es sich mit Texten von Evelina Jecker Lambreva, die einige Jahre nach dem Niedergang des Sozialismus ihr Heimatland verlassen hat und seit 1996 als Psychiaterin in der Schweiz lebt. Nachdem sie bereits in Bulgarien einige kleinere Veröffentlichungen hatte, erschien 2014 mit Vaters Land ihr Debütroman in deutscher Sprache. War es dort die direkt nach der Wende in die Schweiz emigrierte Ärztin Inna K., die zur Beerdigung des autoritären Vaters zurück in ihre Vergangenheit gereist ist und sich an die vom politischen System und seinen Getreuen gefährdete, wunderbare, wilde Jugend erinnerte und neben dem staatlichen auch das familiäre Regime rekapitulierte, so beginnt  der dritte Roman der Autorin, Entscheidung, zwei Jahre vor der Wende mit der Ankunft der Ärztin Anja Assenova in Svescht, dem kleinen Provinzort, in dem sie ihr 3-jähriges Obligatorium absolviert.

Anja kommt wie ihr Freund, der immerhin in einer Poliklinik einer Kleinstadt untergekommen war, aus Varna, wo beide zusammen Medizin studiert hatten. „Sie kam sich verbannt vor, abserviert und ausgesetzt“, denn in Svescht gab es außer ihrer weniger als spärlich ausgestatteten medizinischen Dienststelle nur ein Kinderheim, eine Dorfschule und die nötigsten Einrichtungen. Selbst die Post kam nur zweimal in der Woche und wurde indiskret persönlich weitergegeben.

Die junge engagierte Ärztin merkt schnell, dass sie ihren Karrierewunsch, Frauenärztin zu werden, ja ihre gesamte medizinische Zukunft, mit diesen drei Jahren Stillstand abschreiben kann – und das alternativlos. Sie richtet sich in der kleinen Dienstwohnung so gut es geht ein, schließt Freundschaft mit der kleinen Maria, die unermüdlich auf die eigene Mutter wartet, und anderen Heimkindern, dem kleinen Kater Topsy und der jungen Lehrerin Dora, die ein ähnliches Schicksal als Pädagogin in Svescht ereilt hat. Ja, nach dem Studium gilt es zunächst, ihren Dienst an der Provinz abzuleisten. Allen Anfeindungen des Bürgermeisters und des staatstreuen Gemeindegenossen Nakov zum Trotz, arbeitet Anja sehr erfolgreich und fällt stets die medizinisch richtigen, möglichen Entscheidungen. Sie unterbreiten ihr das Angebot, auf Grund ihrer vorzüglichen Französischkenntnisse für die Staatssicherheit als Spitzel nach Paris zu gehen. Sie lehnt ab: Es anzunehmen, wäre ihr doch ein Verrat an sich selbst gewesen.

Langsam schnappt die junge Ärztin bei Besuchen in der Universitätsstadt Veliko Tarnovo mit Dora oder zu Hause in Varna bei Ihrem Freund Michail erste Perestroika- und Glasnost-Gerüchte auf und macht sich darüber Gedanken, ob im Land tatsächlich eine Veränderung bevorstünde und sie womöglich dadurch ihre persönliche, berufliche Chance bekäme. Aber mit dem Untergang des Sozialismus, der sich gerade in der Provinz lange hinzieht, da die Schergen der Partei alles tun, um ihn abzuwenden, und dem folgenden Durcheinander von Freiheit, Demokratie und Kapitalismus, das zunächst Mord und Totschlag, osteuropäische Bandenkriminalität und neue Werte bringt, ziehen schwarze Wolken auf. Der Sehnsuchtsort der Protagonistin, Frankreich, ja Paris, rückt nur in Gedanken näher.

Sehr persönlich erlebt man beim Lesen die Frustration der jungen, eigentlich hochmotivierten Ärztin, die auf dem Land versauert oder sogar ausgebremst werden soll, die sadistischen Methoden in Heim und Schule, die Intrigen und das sozialistische Gedankengut der Genossen und Genossinnen oder das herrlich einfache Landleben. Die chronologisch erzählte Handlung ist zwar lebendig und unterhaltsam, fordert den Leser aber kaum zur intellektuellen Auseinandersetzung heraus. Viele Ereignisse sind, nicht zuletzt durch die Schwarz-Weiß-Malerei des Romans, absehbar.

Die Ärztin Anja, eine Art unfehlbare Superdoktorin, reagiert trotz ihrer Unerfahrenheit und der Einschränkungen der medizinischen Dorfdienststelle bei einem nächtlichen Autounfall, einer Meningitis, einem Tollwutfall oder einem Darmverschluss immer richtig – wie sich spätestens im Nachhinein herausstellt. Dem stehen die bösen Parteifreunde gegenüber, die ihrerseits keine Gelegenheit zu Korruption, Bestechung oder Verunglimpfung auslassen. Man bietet hinter geschlossenen Vorhängen Milka-Schokolade und Cola an, während anderen jeder Westkontakt vorgehalten wird, und erzählt den Kindern als sozialistische Erziehungsmaßnahme die Mär vom Imperialistenkind („Das Imperialistenkind lebt im Westen, ist böse, kann jederzeit und überall auftauchen und einem auf einen Schlag alles wegnehmen.“).

Zwischen der Roma-Oma, die die Zukunft aus weißen Bohnen liest, den Männern, die bei Salat und Schnaps das Leben diskutieren und denen, die nach der Wende jene Popsongs, die zu Bauchtanzrhythmen „ungebildete Bodybuilder mit Quadratschädeln und Büffelnacken“ glorifizieren, mitgrölen, ist die Entscheidung über die Zukunft der Ärztin vom Schicksal längst gefällt worden.

Titelbild

Evelina Jecker Lambreva: Entscheidung. Roman.
Braumüller Verlag, Wien 2019.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783992002580

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