Zu den Sternen

Theorie und Praxis der Science Fiction – „Neptunation“, „Niegeschichte“ und „Du bist mir gleich“ von Dietmar Dath

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor einigen Monaten starb Siegmund Jähn, „der erste Deutsche im All“. Wie passend, dass fast gleichzeitig Dietmar Daths aktueller SF-Roman Neptunation erschien. Denn Jähn, den viele Westdeutsche – wenn überhaupt – erst seit Good Bye Lenin (2003) kannten, war mitnichten „für Deutschland“ im Weltraum, sondern für ein Land, das heute nicht mehr existiert: die DDR. 1978 flog Jähn mit dem sowjetischen Interkosmos-Programm zur Raumstation Saljut 6. Dabei ging es auch darum, die Überlegenheit der DDR gegenüber Westdeutschland zu demonstrieren, das „seinen“ ersten Astronauten Ulf Merbold erst fünf Jahre später auf einer NASA-Mission platzieren konnte.

Jähn schaffte es als einziger DDR-Kosmonaut in den Weltraum. Aber was wäre gewesen, wenn es sehr viel mehr ostdeutsche Raumfahrer gegeben hätte? Und dazu ein geheimes Programm, das im Kalten Krieg seine Schiffe viel weiter ins Sonnensystem hinaussandte als bekannt? Das ist die Grundidee von Neptunation, und Dath baut daraus eine Erzählung von mehr als 600 Seiten: 1989 entsenden die Sowjetunion und die DDR eine gemeinsame Mission ins All, um den Sozialismus in den Weltraum zu tragen. Irgendetwas läuft aber dabei aus dem Ruder, und fast dreißig Jahre später kommen auf der Erde Signale von DDR-Kosmonauten aus der Gegend um Neptun an. Daraufhin organisiert Komponistin Cordula Späth – eine stehende, ambivalente Figur seit Daths Erstling Cordula killt dich (1994) und fast eine Superheldin – eine internationale Mission, die nach den Verschwundenen sucht. Durchgeführt wird der gemeinsame Flug von der Bundeswehr und der Volksrepublik China, eine eher ungewöhnliche Allianz, die sich damit gegen Unternehmungen der USA und Russlands stellt. Dass die chinesischen Besatzungsmitglieder fast alle perfekt Deutsch gelernt haben, wirkt etwas unglaubhaft, macht es dem Autor aber einfacher, durchgehende Dialoge ohne die Darstellung langwieriger Übersetzungsvorgänge zu schreiben.

Neptunation ist nach der zweiten Fassung von Venus siegt (2016) Daths zweite Veröffentlichung unter dem renommierten SF-Label TOR, international eine der ersten Adressen für Science Fiction. Neptunation ist ein epischer Roman, der nicht nur ausführlich die Reise der Erdenbewohner und ihre Auseinandersetzung mit Menschen und anderen Wesen im Sonnensystem beschreibt. Der Roman wäre kein echter Dath, wenn er nicht auch weit ausholende Dialoge und Reflexionen über den evolutionären Sinn von Kunst, die Gültigkeit von Naturgesetzen oder die Frage nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus enthielte. Wer lesen will, wie Zivilisation X vom Stern Y den Planeten Z in Stücke ballert, ohne dass irgendwas groß reflektiert wird, ist hier an der falschen Adresse. Trotzdem ist Neptunation ein packendes Buch, das sich nicht in den Feinheiten des Weltenbaus verliert wie andere SF-Titel Daths, etwa Pulsarnacht (2012) oder Feldevayé (2014), sondern eine mitreißende Handlung bietet. Man fiebert mit den Figuren, der Mission, wo es nebenbei völlig anders kommt als erwartet … und übrigens auch die Bedeutung des Titels gelüftet wird. Neptunation ist jedenfalls Dietmar Daths bester SF-Roman seit langem.

Wie viele seiner Texte ist Neptunation auch ein Buch über Science Fiction. Dath arbeitet mit zahlreichen Anspielungen. Das fällt besonders auf, wenn es um Versatzstücke des SF-Kinos aus der und über die DDR geht: Das vor dreißig Jahren verschwundene Schiff nennt sich Eolomea nach Hermann Zschoches DEFA-Film aus dem Jahr 1972, in dem Kosmonauten gegen den Willen ihrer Regierung ebenfalls in unbekannte Fernen aufbrechen. Die internationale Rettungsmission für eine in Not geratene Besatzung erinnert an Gottfried Kolditz‘ Signale: Ein Weltraumabenteuer (1970), die charmante, aber eher spannungsarme DDR-Antwort auf Kubricks 2001. Und selbst die Idee eines geheimen DDR-Raumfahrtprogramms, das die äußeren Teile des Sonnensystems besiedeln will, findet sich in Jim Finns seltsamem, liebenswertem US-Low Budget-Film Interkosmos (2006) – obskur, aber sicher nicht zu obskur für einen SF-Liebhaber und -Experten wie Dietmar Dath.

Im zweiten Dath-Band der Saison, dem monumentalen Essay Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine widmet er sich nicht zum ersten Mal der Theorie des Genres. 2003 legte er im Selbstverlag Sie ist wach vor, einen mehrteiligen Essay, der anhand der TV-Serie Buffy the Vampire Slayer (1997–2003) eine eigene Theorie der „unwirklichen Künste“ Fantasy, SF und Horror entwickelt. In komprimierter Form flossen diese Gedankengänge in das umfassende Theoriewerk Der Implex (2012) ein, das Dath gemeinsam mit Barbara Kirchner schrieb. Braucht es da wirklich noch einen dritten Anlauf des Autors, um uns Leserinnen und Lesern das Genre Science Fiction zu erklären?    

Nach der Lektüre von Niegeschichte lautet die Antwort: Unbedingt. Schon die Herangehensweise ist eine andere. Ging Sie ist wach vor allem typologisch vor, um Horror, SF und Fantasy zu definieren und voneinander zu unterscheiden, liefert Niegeschichte zugleich eine umfassende Geschichte des Genres, das Dath mit Mary Shelleys Frankenstein (1818) beginnen lässt – natürlich nicht die erste Monstergeschichte der Literatur, wohl aber die erste, die die Herstellung eines solchen Monsters wissenschaftlich beschreibt. Oder, genauer: pseudowissenschaftlich. Denn wäre das Geschriebene in diesem Moment schon möglich, handelte es sich eben um Science, nicht um Fiction. Zudem sieht Dath Sie ist wach heute eher kritisch – unter anderem, weil er Filme – die bekanntlich einen wesentlichen Teil der SF bilden – nicht nach ihrer Eigengesetzlichkeit, den ihnen eigenen Gestaltungsmitteln beurteilte, sondern schlicht ihre Handlung nacherzählte.

Die Tiefe und Breite von Daths Kenntnissen ist überwältigend. Natürlich kommen die großen Namen vor, die auch außerhalb einer Fangemeinde bekannt sind – etwa Jules Verne, H.G. Wells, Hugo Gernsback, Isaac Asimov, Stanislaw Lem, Ursula K. LeGuin, George Lucas, William Gibson oder der Chinese Liu Cixin. Dabei setzt Dath jedoch eigene Akzente. Zum Beispiel, indem er zwei seiner Lieblingsautor*innen, die hierzulande fast unbekannten Joanna Russ und Greg Egan, mit eigenen, monographischen Kapiteln würdigt. Auch Arno Schmidt, der in den meisten Literaturgeschichten nicht als SF-Autor vorkommt, spielt eine prominente Rolle. In erster Linie geht es ihm aber nicht um diese Namen oder darum, ein Arsenal typischer Requisiten wie Roboter, Raumschiffe und Zeitreisen zu identifizieren. Zentral ist vielmehr, wie und wozu Science Fiction erzählt.

Dafür bezieht sich Dath unter anderem auf den englischen Romantiker Samuel Taylor Coleridge und dessen Begriff der „suspension of disbelief“, der „Aufhebung des Unglaubens“. Dies geschieht im Grunde jedes Mal, wenn wir uns einem fiktionalen Text oder anderem Medium aussetzen: Wir glauben keine Sekunde an die reale Existenz der Menschen Emma Bovary und Adrian Leverkühn, auch wenn uns Gustave Flaubert und Thomas Mann ihre Lebensgeschichten haarklein erzählen. Um ihre Romane aber „richtig“ zu lesen, müssen wir diese Tatsache „vergessen“ bzw. in der Schwebe halten – wir sind uns der Fiktionalität zugleich bewusst und nicht bewusst, wir lesen, „als ob“ diese Figuren wirklich lebten.

Nichts Anderes tut Science Fiction. Anders als bei Flaubert oder Mann geht es aber nicht um eine mimetische Abbildung der realen Welt, sondern um eine, die anders funktioniert als unsere Gegenwart. Science Fiction betreibt, was Dath „negative Induktion“ oder kurz „Neginduktion“ nennt – Parameter der realen Welt werden in der Fiktion verschoben und transformiert, im Gedankenexperiment werden die Konsequenzen dieser Veränderungen durchdacht. Klassische Fragen dieser Art sind: Wie wäre es, wenn wir nach Belieben durch die Zeit reisen könnten? Was passiert, wenn Menschen künstliches Leben schaffen oder die Erde von den Bewohnern des Mars angegriffen wird? Dabei geht es nicht so sehr darum, ob eine Welt, in der diese Dinge möglich wären, „besser“ oder „schlimmer“ wäre als der Status quo. Sondern, was sich überhaupt aus diesen Sachverhalten ergäbe, im Guten wie im Schlechten. Kurz: SF ist, wie Dath zusammenfasst, „eine Maschine, die Wissen vergessen hilft, um neues Wissen in Vorstellung und Darstellung zu ermöglichen. […] Fantastik gehört denen, die dieses Bauprinzip verstehen, das uns hinterlassen wurde von Leuten, denen aufgefallen war, dass etwas mit einer Kultur nicht stimmte, die viel wusste, aber nicht wissen wollte, wie sie sich ändern muss, um dieses Wissen menschengerecht zu nutzen.“

Wie der zuletzt zitierte Satz zeigt, ist Niegeschichte keine neutrale, aus akademischer Distanz geschriebene Abhandlung, sondern eine histoire engagée – die eines Fans und bekennenden Marxisten. Dennoch greift es zu kurz, das Buch als Werk eines „Parteisoldaten“ abzukanzeln, wie im Bayerischen Rundfunk geschehen. Dath bricht nämlich nicht nur für Autor*innen eine Lanze, die ihm politisch nahestehen, sondern würdigt durchaus auch „rechte“ Künstler*innen, die Großes zur SF beigetragen haben, allen voran Robert A. Heinlein. Dass Daths Blick bei aller enzyklopädischen Kenntnis subjektiv gefärbt ist, machen auch die zahlreichen autobiographischen Passagen klar, die den Band durchziehen.

Das Fazit? Niegeschichte ist ein faszinierendes, überaus kenntnisreiches Buch – aber ein Grundinteresse für Literaturtheorie, für gesellschaftliche Fragen und natürlich das Genre SF sollte man schon mitbringen. Wer sich darüber aufregen will, dass bei aller Konzentration auf SF als Methode dann doch häufig von Raumfahrt und außerirdischen Spezies die Rede ist, der kann sich auch beschweren, dass im Tatort so oft gemordet wird. Wer diese Bereitschaft und etwas Hintergrund nicht mitbringt, wird sich vermutlich langweilen (wie der Rezensent, wenn 22 Männer gegen einen Ball treten). Man kann sich auch streiten, ob es das Vokabular der Kategorientheorie gebraucht hätte – Daths Faible für Mathematik ist bekannt – oder ob es hier eher darum geht, einer individuellen ästhetischen Theorie den Anstrich von Objektivität zu verleihen, wie bei Arno Schmidt, der in seinen Berechnungen I mathematische Kurven- und literarische Erzählverläufe in eins setzt. Lässt man sich jedoch auf diese Faktoren ein, dann kann Niegeschichte restlos begeistern.

Es gibt aber nicht nur Neptunation und Niegeschichte – Dietmar Dath hat im vergangenen Herbst noch ein drittes Buch veröffentlicht, die „Raumerzählung“ Du bist mir gleich. Sie ist erschienen bei Golden Books, dem Hausverlag des Bremer Buch- und Plattenladens Golden Shop. Damit setzt Dath die Tradition fort, nicht nur für große, bekannte Häuser zu schreiben, sondern kontinuierlich auch bei Indie-Verlagen zu veröffentlichen. Vielleicht tut er das im Bewusstsein, dass er selbst beim kleinen, noch unbekannten Verbrecher Verlag startete, bevor das große Feuilleton und Häuser wie Suhrkamp und S. Fischer von ihm Notiz nahmen.

Du bist mir gleich erzählt die Geschichte der Mathematikerin und Wissenschaftsjournalistin Samira Weiss, die sich zunehmend von den Forderungen der Menschen in ihrer Umgebung entfremdet – von ihrem Chefredakteur, der von ihr einen Nachruf auf die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani verlangt, von ihrem Freund Sascha, einem erfolgreichen Schriftsteller, dem ihre Vorliebe für seine Messersammlung unheimlich wird, von dessen Verlegerin Silke, die sie zu einem ganzen Buch über Mirkazhani überreden will. Seit jeher an nicht-euklidischen Räumen interessiert, lernt sie schließlich, selbst den Raum zu manipulieren. Am Ende gelingt es ihr, ihre Konflikte zu lösen. Dies geschieht auf eine Art, die einerseits viel mit ihrem mathematischen Wissen zu tun hat, andererseits aber doch dem Reich der Fantastik angehört – das ist Science Fiction ganz ohne Roboter und Raumschiffe. Du bist mir gleich entwickelt nicht ganz die epische Wucht von Neptunation, ist aber von den hier vorgestellten Bänden der zugänglichste. Wer Dietmar Dath kennen lernen oder seine Arbeit für Indie-Verlage unterstützen will, ist hier an der richtigen Adresse.

Titelbild

Dietmar Dath: Neptunation. Oder Naturgesetze, Alter! Roman.
FISCHER Tor, Berlin 2019.
686 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783596702237

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
944 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577856

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Dietmar Dath: Du bist mir gleich. Raumerzählung.
Golden Press, Bremen 2019.
232 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783981988062

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