Der letzte Mohikaner

Walter Boehlichs Titanic-Kolumnen

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

»Unten im Hof krähte der schwarze Hahn und verkündete das Grauen des nächsten Tages.«

Herman Bang, Sommerfreuden

 

Wie Günther Busch – der legendäre Erfinder der edition suhrkamp – hat auch Walter Boehlich keine große Schriftensammlung hinterlassen. Zwar war Boehlich nicht ein »Autor, der nicht schreibt« (wie der Titel einer Festschrift zum 60. Geburtstag des »Büchermachers« Busch lautete), doch sah er sich dem Tagesgeschäft des Publizisten verpflichtet, der das aktuelle Geschehen kommentierte und kritisierte, ohne dass er den Blick auf die Nachwelt richtete. Ähnlich wie Busch (den der kapitalistische Betrieb trotz all seiner Verdienste und Kreativität – wie Boehlich in seinem Nachruf 1995 schrieb – auf das Schmählichste wie einen Knecht behandelte und ihn von den Höfen trieb) gehörte Boehlich – mit den Worten Oskar Negts – zum Typus des neugierigen Zöllners in der Welt der ewig stampfenden Kulturmaschine. Die Aktivität dieses Zöllners besteht im Lesen, Auflesen, Sammeln und Auswählen als Gegenwehr zur industriellen »Infanterie der Bücher«, die mit einem »Smogschleier« das kritische Bewusstsein umnebelt, wie Italo Calvino die zeitgenössische Büchermassenfertigung beschrieb, in der die scheinbare Novität des vorherigen Tages zum unverkäuflichen Ladenhüter wird. »Wo es keine Verlagskultur mehr gibt, schwinden auch die Lebensbedingungen für eine Kultur des Buches«, konstatierte Negt 1989.

Dieser Kultur des Buches fühlte sich Boehlich verpflichtet, ohne dem »Kulturgut« Buch eine verlogene Wichtigkeit zuzusprechen. Als Lektor, Herausgeber, Essayist, Übersetzer von Autoren wie Herman Bang, Virginia Woolf, Ramón José Sender und anderen, Literaturkritiker, Kolumnist, Betriebsrat, Gewerkschafter und Mitbegründer des »Verlages der Autoren« prägte er entscheidend den Kulturbetrieb der alten Bundesrepublik (beispielsweise mit seiner Dokumentation des Berliner Antisemitismusstreits als Vorbote des eliminatorischen Antisemitismus des deutschen, liberal sich gebärdenden Bürgertums) und fungierte über Jahrzehnte als »öffentlicher Intellektueller« – wie Russell Jacoby in den späten 1980er Jahren diese aussterbende Spezies nannte, an deren Stelle Akademiker und Agenten der umspannenden Warenökonomie traten. Das Hauptquartier seines Engagements war seine Dreizimmerwohnung in Frankfurt am Main, in der er eine »symbiotische Beziehung mit seinen Büchern« einging, wie Helmut Peitsch und Helen Thien schrieben. Ähnlich wie bei Elias Canetti oder Jorge Luis Borges nahm Boehlichs wuchernde Bibliothek im Laufe der Jahrzehnte ein Eigenleben an und schränkte seine Bewegungsfreiheit ein, weitete aber auf der anderen Seite seinen intellektuellen Horizont immer aufs Neue. Familie und Freunde drängten ihn, Bücher auszulagern, und am Ende zwang ihn seine Krankheit in den späten Jahren, seine Frankfurter Wohnung aufzugeben und sich in die Obhut der Familie seines Zwillingsbruders in Hamburg zu begeben.

In dieser »Bücherhölle« schrieb Boehlich vom November 1979 bis zum Februar 2001 251 monatliche Kolumnen für das Frankfurter Satiremagazin Titanic, ehe er aus Krankheitsgründen die Produktion einstellen musste. Wie Boehlich, dieser Intellektuelle mit den hohen Ansprüchen, dem Sympathien weder für die »alte« noch für die »neue« Ausprägung der »Frankfurter Schule« nachgesagt werden konnten, an diese Stelle kam, bleibt im Dunkeln. Vermutlich wurde er – mutmaßt die Autorin Ulrike Baureithel – auf Betreiben von Robert Gernhardt oder F. K. Waechter als »seriöser Grundpfeiler« ins Blatt gehievt. Aus dem Konvolut der Kolumnen destilliert eine – angesichts der reichhaltigen Intellektualität Boehlichs – etwas armselige Ausgabe im Verbrecher-Verlag einen »Querschnitt« der Boehlich-Kolumnen aus den Jahren zwischen 1979 und 2000. Obwohl der Band im Titel »Die Titanic-Kolumnen« verspricht, ist es doch nicht der »ganze Boehlich«.

Trotz allem reflektiert diese Auswahl die kritische Schärfe Boehlichs gegen das Fortwirken der autoritären, alt-faschistischen Verhältnisse in den Staatsapparaten. In einem exemplarischen Essay über Staatsgewalt, Widerstand und Sprache in den 1980er Jahren, der sich mit den Sitzblockaden gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen auseinandersetzt, bringt es Boehlich mit seiner präzisen Beobachtungsgabe und konzisen Formulierungsfähigkeit auf den Punkt: »Wie zu Gewalt wird, was keine Gewalt ist, so wird verwerflich, was verwerflich nicht sein kann. Es liegt an den Wörtern, die alles mit sich machen lassen.« Während heute uniformierte Repräsentanten des Staates immer wieder »Respekt« einfordern, kritisierte Boehlich die Polizei als »Mitglieder organisierter Prügelkommandos«, die hemmungslos auf linke DemonstrantInnen und AktivistInnen der Hausbesetzerbewegung eindroschen. Ein anderes Beispiel für die Willkür des autoritären Staates war die Drangsalierung eines Buchhändlers, der die Zeitschrift Freiraum anbot, in der ein Text der »Revolutionären Zellen« abgedruckt war. Flugs wurde er zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 25 DM verurteilt, weil – nach Auffassung der Justiz – jede Verbreitung eine Unterstützungshandlung sei. Gegen diese Praxis insistierte Boehlich: »Solange eine Druckschrift nicht vom Gericht zensiert, also verboten ist, muß sie vertrieben werden können, ohne daß dem Vertreiber ein Schaden entstehen kann. Nur das wäre Rechtssicherheit.«

Boehlichs Kolumnen – die eher prägnante Essays in Miniaturform denn vom publizistischen Celebrity-Status zehrende Meinungsbeiträge waren – lesen sich im heutigen Kontext wie bitterböse Kommentare zur Geschichte der alten Bundesrepublik, deren Scheitern bis in die Gegenwart wuchert. Dem in den letzten Jahren verklärten »eisernen Kanzler« der Sozialdemokratie – Helmut Schmidt – attestiert er, dass er die Partei in den 1970ern zwar nicht auf Vordermann brachte, aber wenigstens auf den Hund. Der SPD schreibt er 1985 eine »Programm- und Ideenlosigkeit« zu, wobei sie damals noch auf vierzig Prozent Zustimmung bei Wahlen kommen konnte. Inzwischen hat die »Enkel«-Generation – repräsentiert durch Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping, Sigmar Gabriel und andere Aufsichtsräte der sozialdemokratischen Insolvenz – den sozialdemokratischen Tanker endgültig der Havarie überantwortet.

Vor allem brachte den radikaldemokratischen Intellektuellen Boehlich das sprachliche Unvermögen der herrschenden politischen Klasse auf. Dass Helmut Kohl in einer Rede »Referenz« mit »Reverenz« verwechselte, stieß ihm zwar ebenso auf wie die geistig-moralische Einfalt, mit der Kohl Gemeinplätze vor einer Versammlung verbeamteter Historiker zum Besten gab, zu denen er vorgeblich aufgrund seiner akademischen Ausbildung gehörte. Dass sich aber Richard von Weizsäcker als höchster Repräsentant dieses Staates vor allem als politischer Weichspüler betätigte oder der Bundestagspräsident Jenninger seine sprachliche Unfähigkeit in einer schamlosen öffentlichen Exhibition zur Schau trug und »im Tone eines Verwaltungsbeamten« die Verbrechen der Deutschen bagatellisierte, brachte ihn in Wut. In den Ohren Boehlichs desavouierten sich die Repräsentanten des Staates mit ihrer »elenden Sprache«, gingen mit ihrer Armseligkeit konform mit dem Volk, das sie repräsentierten. »O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak! für ein plump Sprak!«, zitiert Boehlich Gotthold Ephraim Lessing. Dennoch versank Boehlich bis zum Ende nicht in Resignation, sondern blieb renitent gegen die deutschen herrschenden Verhältnisse.

Leider fehlt in dieser sehr eklektischen Ausgabe ein zentraler Text, in dem sich Boehlich überaus kritisch mit dem Triumphalismus des (west-)deutschen Feuilletons auseinandersetzte. »Die Säuberungsmentalität, die dem Stalinismus vorgeworfen wird«, schrieb er 1990, habe »Eingang in die Bundesrepublik und in die Spalten der FAZ gefunden.« Boehlichs Kritik der »Übernahme« der DDR und ihres kulturellen Apparates marginalisierte ihn auch im Frankfurter Satireblatt zunehmend (er wirke – schrieb Klaus Cäsar Zehrer in seiner Dissertation über die Titanic – »wie der letzte Mohikaner der linken Publizistik«, dessen Essay sich wie ein »Fremdkörper« im Heft ausnehme). Die Spaßgeneration, deren politische Scharlatane den Weg ins Brüsseler Europaparlament fanden, wo sie mit plattem Klamauk vor dem entpolitisierten Publikum zu reüssieren wussten, hatte keine Verwendung für das Erbe eines kritischen Intellektuellen wie Boehlich. Dessen Vermächtnis wäre eine würdigere Edition als diese oberflächlich zusammengestellte Ausgabe aus der Berliner Verbrecherei zu wünschen.

Titelbild

Walter Boehlich: Kein Grund zur Selbstreinigung. Die Titanic-Kolumnen.
Herausgegeben von Christoph Kapp und Helen Thein. Mit einem Nachwort von Stefan Gärtner.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
234 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323835

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch