Die Erneuerung des Ichs

Kwame Anthony Appiah verrät in „Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit“ mögliche neue Kategorien für die Selbstdefinition von Individuen

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema Identität beschäftigt die Philosophie derzeit in besonderem Maße. Auslöser für zahlreiche Gedankengänge zum Thema sind unter anderem die veränderte Mediennutzung samt ihrer Filterblasen- und Echokammereffekte, der Aufschwung rechter Ideologien sowie der auf die Spitze getriebene Individualismus unter Authentizitätsdiktat. Als Beispiel für das erhöhte Interesse am Thema seien hier exemplarisch Andreas Reckwitz (Die Gesellschaft der Singularitäten), Francois Jullien (Es gibt keine kulturelle Identität) und Byung-Chul Han (Die Austreibung des Anderen) genannt.   Der Philosoph Kwame Anthony Appiah, der in Yale, Cornell, Duke, Harvard, Princeton und der New York University lehrt, widmet sich dem Thema nun ebenfalls – allerdings auf eine sehr eigene Art und Weise.

Appiah, der seit 2009 auch für seine Ethik-Kolumne im New York Times Magazine bekannt ist, zeigt in Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit, dass hinter den politischen Kategorien von Zugehörigkeit und Abgrenzung wie z.B. Religion, Nationalität, Hautfarbe, Klasse oder Kultur häufig nur paradoxe Zuschreibungen stehen. Die Mutter aus London, der Vater aus Ghana, lernt Appiah schnell, dass die üblichen Kategorien der Zuordnung auf ihn nicht zutreffen. „Das Selbstwertgefühl jedes Menschen wird von seiner Herkunft geprägt, angefangen bei der Familie, aber darüber hinaus auch von vielen anderen Dingen – von der Nationalität, die uns an einen Ort bindet; vom Geschlecht, das uns jeweils mit der Hälfte der Menschheit verbindet; und von Kategorien wie Klasse, Sexualität, race und Religion, die über unsere lokalen Bindungen hinausreichen“, schreibt Appiah im Prolog seines Buches, in dem er seine Überlegungen und sein reiches historisches Wissen immer wieder mit der eigenen Familiengeschichte abgleicht. Sein Ansatz ist es, Ideen zu erörtern, die den modernen Aufstieg der Identität geprägt haben, und einige der Irrtümer genauer zu betrachten, die wir regelmäßig im Hinblick auf Identität begehen.

Um den Leser in seine Gedanken einzuführen, widmet Appiah zunächst je ein Kapitel einem Aspekt von Identität (Religion, Heimat, Hautfarbe, Klasse und Kultur). Aus diesen Beschreibungen zeichnet Appiah nach, wie Identitäten entstehen, welche Ausdrucksformen, Mechanismen und Motive der Kategorisierungen wir anwenden, um Menschen einzuordnen. Dabei sind seine Ausführungen geleitet von der Prämisse, dass der Mensch mit dem Erbe von Denkweisen lebt, die ihre moderne Gestalt im 19. Jahrhundert erhielten und dass es höchste Zeit ist, sie vor den Gegebenheiten des 21. Jahrhundert zu aktualisieren.

Appiah geht es nicht darum, die Sinnhaftigkeit von Identitätskonstruktionen und -zuschreibungen infrage zu stellen. Er plädiert nicht für eine Abschaffung solcher Kategorien. Vielmehr liegt ihm daran, Identitäten umzugestalten. Zu diesem Zweck zeigt er nachfolgend sogenannte Irrtümer (an anderer Stelle nennt er sie „Lügen“) auf, die mit dem Konzept der Identität verbunden sind. Es sei wichtig, da „Identitäten uns voneinander trennen und gegeneinanderstellen. Sie können Feinde der menschlichen Solidarität sein, Ursachen von Kriegen, Reiter zahlloser Apokalypsen von der Apartheid bis zu Völkermorden“. So zerlegt Appiah die Dogmen und die Propaganda, die bestimmen wollen, wie wir über Identität denken.  

Die große Stärke dieses Buches ist nicht allein der noble Humanismus, der diesen Überlegungen hinterlegt ist. Appiah ist kein Romantiker, sondern ein nüchterner Denker, der bei aller Verbindung zur eigenen Biografie immer die angemessene Distanz wahrt. Dies gelingt ihm vor allem durch Faktentreue und eine sprachliche Präzision, die eine Überemotionalisierung verhindert. Auch der systematisch-logische Aufbau seiner Beschreibungen ist der Sache dienlich und verhilft dem Autor zur Erreichung seines übergeordneten Ziels: „…Gespräche zu beginnen, nicht zu beenden.

Titelbild

Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
334 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446264168

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