Dramatischer Dualismus
Katharina Döderleins Dissertation untersucht die „Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl in der Literatur“
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBekanntermaßen sind Recht und Gerechtigkeit, Recht haben und vor Gericht Recht bekommen manchmal zweierlei. Ähnlich suggeriert es auch die Redewendung: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“ – eine Sichtweise, wie sie auch der Satz im Justizroman Letzte Instanz des Amerikaners William Gaddis ausdrückt: „Gerechtigkeit? – Gerechtigkeit gibt’s nur im Jenseits; hier auf Erden gibt’s das Recht“. Oder wie einige Jahre vor Gaddis beispielsweise Albert Camus in seinen Tagebüchern festhält: „Es gibt keine Gerechtigkeit, es gibt nur Grenzen.“
Angesichts dieser oftmaligen Diskrepanz zwischen Rechtsgefühl und Gerechtigkeit braucht es nicht zu verwundern, dass die Zahl allein der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich dem Themenkreis Recht in den unterschiedlichsten literarischen Werken widmen, kaum mehr zu überblicken sind, zumal sich gerade genuin literarische Texte spätestens seit Äschylos‘ Zeiten mit Recht und Gerechtigkeit auseinandersetzen. Nicht zuletzt scheint der Themenkomplex in unseren Tagen angesichts des enormen Erfolgs der Bücher eines Ferdinand von Schirach oder der riesigen Anzahl von Krimi-Reihen – insbesondere auch regionalisiert, was nicht zuletzt als Reflex einer neuen Unübersichtlichkeit in der globalisierten Welt gedeutet werden mag – so aktuell wie seit Jahrzehnten nicht.
Diesem ‚Gap‘, dieser „Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl“ beziehungsweise der nicht selbstverständlichen Kongruenz von subjektivem Rechtsgefühl und objektiver Rechtsordnung „als ausgeprägtes narratives Schlüsselmotiv“ widmet sich Katharina Döderleins Heidelberger Dissertation. Anhand Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas, Annette von Droste-Hülshoffs Sittengemälde aus dem gebirgiten Westphalen wie der Untertitel ihrer Novelle Die Judenbuche lautet, sowie anhand der Novelle Grete Minde von Theodor Fontane, Werner Bergengrüns Roman Das Feuerzeichen und des Martin Walser-Romans Finks Krieg spannt Döderlein den literarischen Untersuchungszeitraum über fast 200 Jahre.
Das Schiller-Zitat, wonach „die Gerichtsbarkeit der Bühne dort anfängt, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt“, weist den Weg der literarischen Verarbeitung. Vor der diachronen Analyse der fiktionalen Texte, anhand derer Döderlein auch „die Frage beantworte[n]“ will, „ob es sich bei der Entstehung der aufgezeigten dramatischen Dualismen zwischen Recht und Rechtsgefühl um ein epochenspezifisches, möglicherweise an revolutionäre Geschichtsphasen gebundenes oder um ein ganz alltägliches Phänomen handelt“, unternimmt sie eine umfangreiche theoretische (Kapitel II) und methodologische (Kapitel III) Klärung.
In ihrem theoretischen Abriss zur Begriffsklärung hebt Döderlein darauf ab, dass das „Rechtsgefühl“, nicht zuletzt aufgrund seines Konnex‘ mit Kriterien der „Emotionalität und Subjektivität“, philosophiegeschichtlich durchaus mit negativen Zuschreibungen belegt ist, während „Gerechtigkeit philosophiegeschichtlich stets positiv konnotiert“ ist. Nicht sonderlich überraschend ist ihr Befund, dass eine „abschließende definitorische Aussage über das eine Rechtsgefühl […] aufgrund der angezeigten Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Phänomens“ letztlich nicht zu leisten ist: „Das Rechtsgefühl ist gerade aufgrund seines subjektiv-emotionalen Charakters ein veritabler Verwandlungskünstler, der sich je nach Person, die es empfindet, und Kontext, in dem es auftritt, in unterschiedliche ‚Gewänder‘ hüllen kann und dementsprechend von Fall zu Fall neu interpretiert werden muss.“
Methodisch macht Döderlein in der Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl „ein(en) dramatische(n) Dualismus“ aus, wobei sie im Rückgriff auf die aristotelische Poetik in der Novelle „die Schwester des Dramas“ sieht. Dabei gelte es immer „zwei parallel gestaltete Handlungsebenen“ im Blick zu haben: „eine[] Makroebene (Außenraum), auf der die von außen ‚sichtbare‘ Diskrepanz wiedergegeben wird, und eine[] Mikroebene (Innenraum), die das innere Drama des Protagonisten nachzeichnet. Beide Ebenen werden strukturiert durch die Aktion des Rechtfühlenden und die Reaktion des geltenden Rechts.“
Kleist ziele in seiner Kohlhaas-Novelle weder auf eine „Auflösung noch [auf] eine Synthese der inszenierten Gegensätze. Vielmehr provoziert er die Mehrdeutigkeit als ästhetische Schlussfolgerung eines authentischen Wirklichkeitsabbildes“. Insofern weist Döderlein die vereindeutigende Lektüre des Michael Kohlhaas als Terrorist zurück, denn sein Ziel, das er zwar fundamentalistisch angehe, sei „einzig die staatliche Zuerkennung des Rechts auf Recht, die Anerkennung als ordentliches Rechtssubjekt und schließlich die Bestätigung des persönlichen Rechtsgefühls.“ Gleichsam die Perpetuierung des dramatischen Konflikts als Lösung?
Drostes Die Judenbuche, 1842 erschienen, exerziert – so die Autorin – die Konfliktlinien zwischen „Schicksal und Selbstbestimmung, transzendente Letztbegründung und immanenter Erfahrungsraum, göttliches Gericht und menschliche Schuld, Ergehen und Tat“ durch, verschärft um verschiedene Auffassungen des Gewohnheitsrechts der Dorfgemeinschaft. Letztlich ist der tragische Konflikt nur über den subjektiven Glauben zu lösen – ein Momentum, was auch im Gedichtzyklus des Geistlichen Jahres (1851) der Droste explizit thematisiert wird.
In Fontanes Grete Minde, einer späteren „Schwester“ des Kleistschen Michael Kohlhaas, erscheint der dramatische Dualismus zwischen Recht und Rechtsgefühl stark psychologisiert. Norm und Menschlichkeit als „die beiden zentralen Wirklichkeitsgrößen im Denken Fontanes“ müssen konvergieren.
Ähnlich wie die Droste sieht auch Werner Bergengruen die Lösung des Dualismus zwischen Recht und Rechtsgefühl im Verweis auf die jenseitige Gerechtigkeit, aber – so Bergengruen – „das darf uns ja nicht hindern, uns um die Lösung innerhalb der Begrenzungen unseres täglichen Daseins immer von neuem zu mühen.“
Spannend, fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen, nun Martin Walsers Schlüsselroman Finks Krieg (1996) wieder zu lesen. Umso spannender deshalb, als mit einem der realen Vorbilder, nämlich dem damaligen Staatssekretär in der hessischen Staatskanzlei Alexander Gauland, einer der Hauptprotagonisten politisch weiterhin medial überaus präsent ist, während es um das damalige Opfer, dem es insbesondere um die mediale Wiederherstellung seines Rechts, um öffentliche Rechtfertigung, ging, längst ruhig geworden ist.
Wenngleich die Erkenntnis nicht gerade überraschend ist, dass die Konfliktlinien zwischen den Rechtfühlenden und den Reaktionen des Rechts in den analysierten Texten unterschiedlich verlaufen, und auch die Einzelbetrachtungen der ausgewählten Texte zwar überzeugen, aber nicht überraschen, so ist es doch das Verdienst der Arbeit, einen Überblick über eine literarisch gestaltete Konfliktlinie der letzten 200 Jahre gegeben zu haben. Und da der Dualismus zwischen Rechtsgefühl und Recht prinzipiell immer wieder aufbrechen kann, vermag eine Überblicksstudie, wie sie Döderlein mit ihrer Dissertation vorlegt, hilfreich sein.
|
||