Wenn Liebe wehtut

In ihrem neuen Roman „Der Zopf meiner Großmutter“ erzählt Alina Bronsky vom schwierigen Ankommen in einer neuen Welt und im Leben der Erwachsenen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Margarita, kurz Margo genannt, ist eine Helikopter-Großmutter. Unter ihrem strengen Regime ist Großvater Tschingis nach und nach verstummt. So dass Enkel Maxim, Ich-Erzähler des neuen Romans von Alina Bronsky und zur erzählten Zeit noch ein Kind, das im ersten Kapitel eingeschult wird, alle übertriebene Fürsorglichkeit der Frau mit den Haaren auf den Zähnen ungefiltert abbekommt. Ja, sogar in die Schule begleitet die Großmutter den Kleinen, sitzt über Wochen in der letzten Bank und hilft bei den gestellten Aufgaben – auch wenn sie die kaum versteht. Allein Maxim ist gar nicht so strohdumm, wie Margo ihm und der Welt immer wieder einzureden versucht. Zumindest die deutsche Sprache beherrscht er besser als die Alte, die sich auch wenig Mühe damit gibt.

Dass Maxims Standing bei seinen Klassenkameraden nicht das beste ist, ist allerdings kein Wunder. Von Jungen wie Mädchen gehänselt, wird er zu Hause mit Gemüsebreien malträtiert und von jeder möglichen gleichaltrigen Gesellschaft ferngehalten, weil man sich von fremden Kindern ja jederzeit schlimmste Krankheiten einfangen könnte. Auch seine Aufpasserin Vera, von der Oma engagiert, ebenfalls Russlanddeutsche und eine Zeitlang mit ihrer Mutter Nachbarin im Flüchtlingsheim, piesackt Mäxchen, so sehr sie nur kann, kaum hat die Alte ihr den Rücken zugedreht. Kein leichtes Leben für den Jungen in einem Land, das noch lange nicht zu der erwünschten neuen Heimat geworden ist.

Der Zopf meiner Großmutter ist der fünfte Roman, den die außerdem mit Jugendbüchern hervorgetretene Alina Bronsky, selbst als Kontingentflüchtling Anfang der 1990er Jahre mit ihrer Familie aus Russland nach Deutschland gekommen, für ein erwachsenes Publikum geschrieben hat. Nachdem bereits in zwei Vorgängerbüchern – Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche (2010) und Baba Dunjas letzte Liebe (2015) – starke Frauen aus jener Generation, die von einem den Menschen als Rohstoff für ideologische Experimente missbrauchenden Jahrhundert geprägt wurde, im Mittelpunkt standen, ist die rabiate Margarita Iwanowna aber noch einmal eine ganz andere Nummer. Deshalb dauert es auch eine Weile, ehe der Leser dieser vom Leben hart und ungerecht behandelten Frau näherkommt und zu ahnen beginnt, dass sich hinter all ihrer Ruppigkeit und Bösartigkeit ein tragisches Schicksal verbirgt.  

Als frühere Tänzerin hat Margarita Iwanowna sich, Großvater Tschingis und ihrem kleinen, mutterlosen Enkel mit einem Trick den Zugang zum goldenen Westen verschafft: „Der Opa hat einen Onkel, der hat einen Schwager. Der hat eine jüdische Frau. Deshalb sind wir hier.“ Was Margo freilich nicht daran hindert, ihre Abneigung Juden gegenüber offen zur Schau zu tragen. Im Übrigen gibt es nichts in diesem Deutschland, von dem man sich wohl zu viel erwartet hatte, das der Großmutter Begeisterung entlocken würde. Die Ärzte, denen sie den in ihren Augen permanent kränkelnden Enkel vorstellt, sind unfähig, den großmütterlichen Diagnosen zu folgen, ihre Wartezimmer: Bazillenfallen. Dem deutschen Bildungssystem attestiert Margo, zerrüttet „wie in Afrika“ zu sein und den Kindern vor allem Dinge beizubringen, die sie lebensuntauglich machten. Und mit ihrem „Ranking“ der für den Enkel gefährlichsten Klassenkameraden macht sie diesen von vornherein zum Außenseiter unter seinesgleichen.

Nicht viel anders wird ihr Mann von ihr behandelt. Und als der sich gar noch in Veras Mutter Nina, eine Klavierlehrerin, verliebt und das Verhältnis zu dieser deutlich jüngeren Frau immer offener lebt, bis gar ein gemeinsames Kind auf die Welt kommt, scheint sich eine innerfamiliäre Katastrophe anzubahnen. Doch Großmutter Margarita mit ihrem dicken roten Zopf, der im Laufe des Romans genauso an Festigkeit verliert wie Großvater Tschingis an Lebens- und Geisteskraft und am Ende mit Hilfe des Enkels gar abgeschnitten wird, kann auch anders. Liebevoll nimmt sie sich des Kleinen an, sorgt sich um das neue Leben und kümmert sich, wo und wann immer sie kann, um die in den Dingen des Alltags etwas unbeholfene Nina.

Alina Bronskys Roman erzählt von den Schwierigkeiten des Ankommens in einer neuen Welt. Gleichzeitig thematisiert er das Erwachsenwerden eines jungen Menschen, dem es erst nach dem Tod seines Großvaters gelingt, sich aus den Fängen einer Frau zu lösen, die nur das Beste für ihn will, aber durch die Art und Weise, mit der sie ihn an sich fesselt, mehr kaputt macht als heilt. Wenn Maxim am Ende zu seinem Vater Philipp zieht, einem Zahnarzt, den die Großmutter immer von ihrer kleinen Familie fernzuhalten sich mühte, und dem es in Deutschland tatsächlich gelungen ist, sich zu integrieren, hört er zum ersten Mal die ganze Geschichte seiner Familie. Und begreift, was dazu geführt hat, dass die Großmutter so wurde, wie sie ist. Bronsky hat ein Buch geschrieben, das anekdotenhaft und in bewundernswert leichtem Ton über ein Leben erzählt, das alles andere als leicht war und aus dem auszubrechen für diejenige, die sich darin verfangen hat, wohl auch nicht mehr möglich ist. Denn wie lauten Margarita Iwanownas letzte Sätze an den Enkel? „Du hast es vielleicht gehofft, aber die Alte ist noch nicht tot. Ich werde noch lange leben, hörst du? Länger als ihr alle zusammen.“ 

Titelbild

Alina Bronsky: Der Zopf meiner Großmutter. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
214 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051452

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