Die Macht der Sprache

„Der Stotterer“ von Charles Lewinsky als Pastiche auf „Felix Krull“

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum entscheidet man sich für eine bestimmte Wortwahl? Welche Wirkung hat sie auf unsere GesprächspartnerInnen und welche Folgen für die zwischenmenschliche Kommunikation? Bedenkt man bei alltäglicher Kommunikation den Einfluss, den man mit der Sprache ausüben kann? Johannes Hosea Stärckle, JVA-Insasse und titelgebender Stotterer in Charles Lewinskys Roman, weiß um die manipulative Macht des Wortes und ihren Einsatz. 

Johannes Hosea wird festgenommen, weil er ältere Damen um ihr Geld betrügt. Dafür liefert er ihnen die seiner Ansicht nach letzten Glücksmomente ihres Lebens, indem er sich per Brief als der verlorene Enkel aus weit entfernten Ländern ausgibt. Johannes‘ Talent ist es, beim Schreiben verschiedene Perspektiven einzunehmen, und hätte er dabei nicht eine besondere Vorliebe für einige wohlklingende Ausdrücke entwickelt, die in seinen Briefen eine unsichtbare Spur entstehen lassen, wäre er wohl unentdeckt geblieben. Seine ersten Schreiberfahrungen dieser Art sammelt er bereits in der Schule, als er für seinen Mitschüler und Peiniger Nils Schulaufsätze schreiben muss. Diesen Erinnerungen folgen etliche Geschichten, Reflexionen und Erkenntnisse, die dem Leser teils in Form von Briefen an „Padre“, der auf diese Weise das erkannte schriftstellerische Talent des Häftlings fördern will, teils als Tagebucheinträge, Kurzgeschichten oder Auszüge aus der angeblichen Autobiografie vermittelt werden – alles reichlich mit Zitaten aus der Bibel und von Artur Schopenhauer geschmückt. 

„Allerdings kann ich nicht garantieren, dass Sie in jedem Fall die Wahrheit zu lesen bekommen“, warnt der Briefschreiber seine LeserInnen und etabliert sich damit offenkundig als unzuverlässiger Erzähler. Auch sonst scheint Johannes Hosea seinen LeserInnen einiges abzuverlangen, z.B. wenn er wiederholt auf die manipulative Macht der Texte hinweist. LeserInnen werden auf diese Weise immer wieder aus der Geschichte herausgerissen, um über den gerade gelesenen Text zu reflektieren und sich die Frage zu stellen, ob man nicht auch in diesem Moment vom Autor der Bekenntnisse manipuliert wird. 

Diese Bedenken sind begründet. Denn der Text ist alles andere als eine naiv dahinfließende Geschichte: Er ist ein auf Wirkung bedachtes Sprachgebilde, ein Vorzeigestück der Leserlenkung. Daher kann auch nicht überraschen, dass Mitleid und Rührung als bei den LeserInnen hervorzurufenden Emotionen dominieren, die dem Erzähler eine gewisse Rechtfertigung und die Neupositionierung seiner Person vom Täter zum Opfer bzw. vom Täter zum Retter ermöglichen, der den tristen Lebensabend der Damen durch die vermeintliche Rückkehr des Enkels versüßt. Aus demselben Grund erzählt er von seiner schwierigen Kindheit oder erinnert an die Mutter Spackmann, deren letzte Lebensjahre er an ihrer Seite und anstelle ihres Sohnes unterstützend verbringt. 

Dabei ist der Protagonist dieses Romans so konstruiert, dass er den LeserInnen kaum Identifikationspotentiale liefert. Die dadurch entstehende Distanz ist nötig, Reflexion zu ermöglichen. Ein unkritisches Eintauchen in den Fluss der Geschichte wird bewusst verhindert, sei es durch die Kommentare des Erzählers bezüglich der angedachten Wirkung der Briefe an Padre, oder durch Hinweise auf die Manipulationsmacht der Literatur überhaupt und nicht zuletzt durch die Aufdeckung der Funktionsart von Cliffhangern, die in dem Roman (mit Ankündigung) zum festen Bestandteil des Spannungsbogens werden. In den Text eingeflochtene gesellschaftlich relevante Themen, wie z.B. homosexuelle Liebe oder die Me-too-Debatte, wirken allerdings mehr wie Aufmerksamkeitshascherei als wie ein ernst gemeinter Beitrag zu laufenden Debatten. Ähnlich berechnet mutet die Entscheidung an, den Roman nicht in der Schweiz, wo der Autor zum Teil wohnt, sondern in Deutschland spielen zu lassen – dem größten deutschsprachigen Absatzmarkt. So wird der Protagonist zu einem Deutschen, ist der deutschen Leserschaft näher und vielleicht sogar sympathischer.

Gesellschaftliche Relevanz besitzt der Text durchaus, und zwar hinsichtlich seiner Darstellung der Machtverhältnisse. Diese werden im Roman zu einem der wichtigsten handlungstragenden Elemente. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise die Figur des „Advokaten“ zu lesen, dem nachgesagt wird, er habe sich freiwillig für seinen Boss einsperren lassen. Seine Macht kennt keine Mauern und keine Grenzen, sichtbar werden nur ihre Folgen: einige tödliche „Unfälle“, nicht nur unter den Insassen. Die Erkenntnis, wie leise die Macht ihr Werk verrichtet und wie mächtig dabei die Sprache sein kann, gehört bei diesem Buch sicherlich zu den wichtigsten Leseerfahrungen. 

Ein ästhetisches Leseerlebnis beschert außerdem die Sprache des Textes, die über eine stilistische Eleganz à la Thomas Mann verfügt. Das ist allerdings auch der Punkt, an dem es bei manchen LeserInnen zu einer nur instinktiv spürbaren ästhetischen Dissonanz kommen kann. Denn vor dem Hintergrund einer beinah archaisch klingenden Sprache des Romans, die einen klassisch geübten Leser unbewusst in das frühe 20. Jahrhundert entführt, wirken Anmerkungen bezüglich Twitter oder Internet deplatziert. Allerdings ist diese Sprache berechtigt: Der Protagonist, von der Außenwelt abgeschnitten und von Klassikern der Literatur umgeben, orientiert sich bei seiner Bildung zum Schriftsteller eben an diesen Klassikern. Für seine Bekenntnisse, die – nicht zuletzt durch die zahlreichen Bezüge auf Artur Schopenhauer – an Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull erinnern, wählt der Autor den unzuverlässigen Erzähler. 

Passend zu seiner Sprache folgt der Roman, literaturgeschichtlich betrachtet, dem Muster eines Entwicklungsromans. Der Stotterer ist in dieser Hinsicht weder innovativ noch originell, sondern im besten Sinne des Wortes klassisch. Den Anforderungen der Gattung entsprechend, durchläuft der Protagonist einen Reifeprozess, indem er seine Erfahrungen reflektierend verarbeitet. Dass er sich am Ende zu einem vollwertigen Bürger entwickelt, zeugt nicht zuletzt seine bevorstehende Entlassung als symbolischer (Wieder-)Eintritt in die Gesellschaft. 

Weitere Themen des Romans sind die Frage nach autobiografischen Elementen sowie die Funktionsweise des Literaturbetriebs. So klagt Johannes Hosea über Padres Kommentar zu einer seiner Erzählungen:  

Aber seine Reaktion ist eine Frechheit. „Interessant, wie Sie darin symbolisch Ihre eigene Situation beschreiben, die Einsamkeit des Gefangenen.“ Meine Situation? Das ist eine Geschichte, verdammt noch mal. Das ist Literatur, Padre. Phantasie. Aus der Luft gepflückt. Aber er kann nicht anders, als mich in die Geschichte hineinzulesen. Oder mich aus ihr herauszulesen. 

Ebenso kritisch betrachtet wird die Möglichkeit, den Erfolg eines Buches zu garantieren, indem man es schafft, ein Buch auf die Bestsellerliste zu katapultieren: „Es wäre mir lieber, wenn die Leute mein Buch lesen würden, weil es ihnen tatsächlich gefällt. Jetzt werden sie es nur tun, weil sie denken, dass es anderen gefallen hat.“ 

Bei Der Stotterer handelt es sich um einen stimmigen und ganzheitlichen Roman mit einer ästhetisch gelungenen Gestaltung der sprachlichen Ebene, dessen inhaltlichen Wert u.a. die Analyse des Schreibprozesses und der Leserwirkung darstellt, denn dieser Roman führt unweigerlich zur Entautomatisierung des Leseprozesses. Zwar verhindern die eingenommene Erzählperspektive und die Wahl des unzuverlässigen Erzählers die reibungslose Identifikation mit der Figur, was für viele LeserInnen die Voraussetzung für eine beglückende Lektüre darstellt, doch erst dieser Umstand ermöglicht den Prozess der Reflexion. Denn nach der Lektüre dieses Romans werden wohl manche LeserInnen das nächste Gespräch mit offenen Augen und Ohren führen und weitere Bücher bewusster lesen. 

Lewinsky legt mit seinem Roman  ein Meisterstück der Manipulation mit Sprache vor. Elegant geschrieben, humorvoll und intellektuell ansprechend: Ein Roman, der als ein hervorragendes Beispiel für die Neue Deutsche Lesbarkeit gelten kann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Charles Lewinsky: Der Stotterer.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
410 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070675

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