Dem Sklaven meine Bruderhand – aber wie?

Die „Negersklaven“ von 1796 erweisen ihren Autor August von Kotzebue als engagiert und konservativ

Von Pierre MatternRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pierre Mattern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die middle passage, die mörderische Überfahrt der europäischen Sklavenschiffe von Afrika in die Karibik, bot im späten 18. Jahrhundert das Hauptangriffsziel der vor allem britischen Abolitionsbewegung. Diese war in erster Linie  eine Bewegung  gegen den Handel mit Sklaven und den weiteren unmenschlichen Umgang mit ihnen, weniger gegen die durch Sklavenarbeit betriebene Plantagenwirtschaft, die Europa mit den „Kolonialwaren“ Zucker, Kaffee, Kakao, Tabak sowie mit Baumwolle versorgte. Dieser Wirtschaftsform sollte zur Wende ins 19. Jahrhundert noch ein unerhörter Aufschwung bevorstehen. Die Forderung, Sklaverei sofort und entschädigungslos abzuschaffen, erhielt erst in den 1830er Jahren Aufwind, dann vor allem in den USA. 

Der bis weit ins 19. Jahrhundert international, übrigens auch auf der englischen Bühne erfolgreiche Dramatiker, Romancier und Publizist August von Kotzebue (1761-1819) hat das Thema der zeitgenössischen Sklaverei in drei Schauspielen aufgegriffen. Einem von ihnen, den Negersklaven, hat der Wehrhahn-Verlag in seiner Reihe von Theatertexten des 18. Jahrhunderts nun eine preis- und beachtenswerte Ausgabe gewidmet. Mit ihr wird sichtbar, dass die humanitären Maßstäbe des späten 18. Jahrhunderts nicht unbedingt die Reflexe des 21. Jahrhunderts bedienen. Das Werk bietet eine wunderbare Gelegenheit, historische Differenzen wahrzunehmen, einzuschätzen und zu ertragen – und zwar auch und vor allem auf Gebieten, die zu unmittelbar starken Wertungen provozieren. 

In Kotzebues Schauspiel empfängt der reiche Plantagenbesitzer John seinen moralisch empfindsamen Bruder William auf Jamaika zu Besuch. John ist, im Gegensatz zu seinem Vater, von dem er die Pflanzung geerbt hat und der ein guter Herr war, zu einem Tyrannen geworden. Die verheiratete, von ihrem Mann seit der Deportation getrennte Sklavin Ada will er zu seiner Mätresse machen und stellt ihr diesbezüglich ein Ultimatum. Derweil werden William vom Sklaven Truro die Ungeheuerlichkeiten der Sklavenexistenz geschildert. Dabei trifft der Besucher auf einen alten Afrikaner, der auf der Suche nach seinem Sohn ist: Als dieser Sohn, Zameo, tatsächlich auftaucht, kauft ihn William frei. Später stellt sich heraus, dass Zameo der vermisste Ehemann der verfolgten Ada ist.

So sind am Ende des zweiten Aktes Verwandtschaftsverhältnisse und Allianzen unter den Afrikanern wieder in ihr Recht gesetzt. Doch für John, der auf der Plantage allein das Sagen hat, läuft immer noch das Ultimatum an Ada. Er lässt beide Eheleute festsetzen und droht, Zameo vor den Augen seiner Frau zu Tode zu foltern, wenn sie sich seinem Willen nicht ergibt. Durch eine List kann sich Ada jedoch ein Messer verschaffen und erwirkt sogar die Gelegenheit eines kurzen Abschieds von Zameo. Dabei überredet sie ihn, sie zu erstechen. Und in der Tat lässt Kotzebue das Stück zunächst mit der Tötung Adas durch Zameo und schließlich mit dessen Selbstmord enden. – In einem bereits der Erstausgabe beigefügten abgemilderten Schluss gelingt es William stattdessen, nicht nur Zameo zu befreien, sondern auch Ada – und zwar zu einem Wucherpreis – von John freizukaufen. 

In den ersten beiden Akten greift Kotzebue auf Schilderungen von exorbitanter Grausamkeit zurück, die er der zeitgenössischen Reiseliteratur entnimmt. Doch stellt er das Grausame nicht auf der Bühne dar, sondern lässt es vom Sklaven Truro dem Reisenden William erzählen. Nur einmal stoßen die beiden auf eine Mutter, die gerade ihr Neugeborenes getötet hat, um es der Sklaverei zu entziehen. Dem versteinernden Eindruck, den Derartiges auf das Publikum machen musste, versucht Kotzebue mit einem Kunstgriff beizukommen, für den er bekannt war: Der beredte Truro ist stets den Tränen nah und fungiert zusammen mit William als Vermittlerfigur, die das Schockierende ins Rührende herabstimmt und damit einem Massenpublikum die Möglichkeit empathischer Resonanz bietet. 

Die tragische Kindsmörderin kündigt schon den absoluten Tugendhelden Zameo an. Mit ihm bricht – in der ersten Schlussvariante – die Vermittlungskette, denn zwischen der Tötung Adas und dem Selbstmord sagt Zameo ausdrücklich der ihm von William angetragenen Freundschaft ab: „Ich habe keine Freunde“. Zameo verweigert damit einen Pakt, den der damals gängige Tugendbegriff noch zwischen der Empfänglichkeit für die Gefühle anderer und der stoischen Selbstkontrolle, dem kompromisslosen Selbstopfer also und dem betrachtenden, ja gerne auch zerfließendem Gerührtsein ermöglichte. Adam Smith z.B. hatte diese Integrität des Tugendbegriffs gefordert und für Kotzebue war sie Legitimation und Geschäftsgrundlage zugleich. Mit dem Tode Adas und Zameos hat er sie selbst auf eine ziemlich harte Probe gestellt: Konnte das Publikum diesen letzten Akt nicht mehr in die vorherrschende gerührte Stimmung einbeziehen, so verabschiedete sich Zameo gewissermaßen auch aus der Freundschaft mit ihm

In der Handlungsführung geht Kotzebue solide alteuropäisch vor. Auch die Figuren sind, wie sollte es auch anders sein, durch und durch europäische Konstruktionen. Die schöne Ada stirbt in der ersten Version mit einem Plinius-Zitat auf den Lippen. Das tapfere Paar bezieht seine heroische Konstitution aus der „Naturnähe“ seines ursprünglichen afrikanischen Wohnorts und entspricht damit (neo-)stoizistischen Vorgaben. Spätestens bei der Konstruktion der Dramenhandlung gelingt es nicht, auf die Wirklichkeitseffekte zurückzukommen, die in der bloßen Schilderung verbleiben. Das sind, in heutiger Sicht, weniger bedauerliche Fehler als vielmehr interessante Verwerfungslinien. Sie entstehen im Bemühen, das aktuelle grausame globale Skandalon mit den Mitteln des europäischen populären Theaters darzustellen, das in eigener Spezifik auf Emotionalisierung setzt. 

In ihrem Nachwort rekonstruiert Sigrid G. Köhler die mediale Strategie des transnationalen Abolitionismus und bezieht sie auf das „neue“ naturrechtliche Prinzip der Menschenrechte, das „1776 und 1789 erst in Amerika und dann in Frankreich durch feierliche Erklärungen in die Welt gesetzt, d.h. in die politische Wirklichkeit gebracht“ worden sei. Nun trifft das aber schon für wichtige Protagonisten der Abolitionsbewegung nicht zu, für den auch im Stück erwähnten Parlamentarier William Wilberforce etwa, der zweifellos religiös und nicht politisch motiviert war und sich als Brite sowieso kaum vom amerikanischen oder französischen Konstitutionalismus getragen sah. Für Kotzebue dürfte noch ein Drittes gelten: Für die Perspektiven, die er in den Negersklaven bietet, muss man weder einen besonderen Bezug zum Christentum noch zum neu aufkommenden Konstitutionalismus voraussetzen. Es genügt vollauf das „alte“, das traditionelle Konzept des Naturrechts. In ihm haben alle Menschen ein Recht auf Beziehungen, die sie selbst unter friedlichen Bedingungen herstellen. Von diesem alten Naturrecht hat einmal der Philosoph Joachim Ritter gesagt, es sei schließlich in der Neuzeit zu „nur so einer Idee“ geworden und längst „von seinem Grund im menschlichen Sein und Handeln abgetrennt“ gewesen. Kotzebues William entspricht dem völlig: Er ist als belesener Idealist charakterisiert, der um die reale Schwäche seiner Position weiß, die – anders als die des Sklavenhalters John – so gar nicht im Alltagsleben verwurzelt ist. Die Familien- und Ehebeziehungen werden im Stück nacheinander behandelt bzw. angesprochen. Logisch erfordert dies keinen Vorgriff auf das von politischen Verfassungen staatlich gedeckte Individuum, sondern einen Rückgriff auf die Beziehungen, die die Afrikaner ohnehin zueinander haben. Und dass sie den verstorbenen milden Herrn, den Vater von William und John, beinahe abgöttisch verehren, mag zwar den heutigen Urenkeln der Revolutionäre bös als Stereotyp aufstoßen, es hätte Naturrechtler alten Schlages aber keineswegs gestört, für die das eben „naturgegeben“ war – nicht nur in Afrika: Die spezifischen Beziehungen zwischen Ungleichen galten für sie gleichermaßen im ganzen Menschengeschlecht. 

Man kann darüber hinaus, wie es Köhler tut, auch den ausgiebig behandelten Bezug der Afrikaner zum Tanz als ähnlich ärgerliches „Stereotyp“ brandmarken. Doch eine derartige Etikettierung überdeckt einen weiteren wichtigen ideengeschichtlichen Zeitbezug. Die Nebenfigur Lilli diskutiert bereits in der ersten Szene mit Ada den Tanz; ihre Ansichten passen maßgeschneidert zu den Prämissen der damaligen Anthropologie, vor allem jener so genannten „philosophischen Ärzte“, die sich mit der Melancholieprävention und, im weiteren Sinn, dem praktisch erfahrbaren Zusammenhang von Körper und Geist befassten. Kotzebue war nicht nur – auch durch persönliche Kontakte – mit diesen Ansichten vertraut; er wollte zudem seine eigenen Dramen als Beiträge zu deren Bemühungen verstanden wissen. Der Tanz ist hier nun kein primitives Tamtam: Er schließt die Afrikaner nicht aus dem Kreise seriöser Herrschaften aus, sondern vielmehr in die Reihe all derer ein, welche die damals „richtigen“ Ansichten über den psychophysischen Zusammenhang besitzen und ihn mit ihren Mitteln, als praktische Weisheit, kultivieren. 

Autoren des 18. Jahrhunderts wollten keine „Antirassisten“ sein (eine anachronistische Bezeichnung: Sie konnten keine sein wollen) und sie haben schon gar nicht die Mittel ergriffen, die das 21. Jahrhundert dafür einfordert. Kotzebue erscheint vielmehr als ein engagierter Konservativer, für den das alteuropäische Naturrecht, der Materialismus seines 18. Jahrhunderts und die von ihm erarbeitete Bühnenrhetorik angemessene Mittel sind, um sich einem drängenden Thema wie dem interkontinentalen Sklavenhandel zu widmen. Die nun vorliegende verdienstvolle Ausgabe dieses „historisch-dramatischen Gemähldes“ lädt dazu ein, am historischen Anderen wahrzunehmen, dass auch die eigene, heutige Positionierung einmal historisch – und also alles andere als absolut – gewesen sein wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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August von Kotzebue: Die Negersklaven. Ein historisch-dramatisches Gemählde in drey Akten.
Herausgegeben von André Georgi. Mit einem Nachwort von Sigrid G. Köhler.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2019.
103 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783865256881

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