Wir sind viele

In zwei Reden reflektiert Monika Rinck über die soziale Bindungskraft von Dichtung

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2019 ist noch so ein Jahr gewesen, in dem die Zivilgesellschaft mit der Vorderachse schon über der Klippe hing. Das meiste zeitgenössische Denken beklatscht vom Beifahrersitz aus johlend den eingeschlagenen Irrweg in den Abgrund mit abendländischer Untergangslust. Die Dichterin Monika Rinck hingegen gehört zu denjenigen, die sich eine Kurskorrektur noch vorstellen können. Für sie als Autorin ist 2019 zugleich ein Jahr des Fleißnachweises: Gleich fünf neue Buchpublikationen gilt es zu verzeichnen, darunter zwei Vorträge, die über die Vorstellungswelten von Dichtung sinnieren. Dichtung, die nicht müde wird, die Frage zu stellen, was die Menschen einander sein könnten, würden sie es einmal leid, zu sein, was sie einander sind. Wer Rincks Rede im Münchener Lyrik Kabinett sowie ihre Göttinger Lichtenberg-Poetikdozentur nun in Heft- und Buchform nachliest, schärft die Sinne für diesen dichterisch denkbaren Bereich des stets Möglichen. Zugegeben, das ist emphatisch gedacht und wird gern und nicht selten verlacht. Behauptet hier wer, die Menschen könnten von Vers und Strophe leben wie von Luft und Liebe? Das ist natürlich nicht der Punkt und auch nie gewesen.

Monika Rinck demonstriert das anhand von Gedichten ihres Gewährsmanns Álvaro de Campos, einem der drei wichtigsten Heteronyme des portugiesischen Jahrhundertpoeten Fernando Pessoa. Pessoa hatte sein Alias de Campos 1914 aus der Taufe gehoben und zum Hymniker der Urbanität bestimmt. Nun hat Rinck sich die de Campos‘sche Dichtung für ihre „Zwiesprache“ auserwählt, wie die im Lyrik Kabinett München beheimatete Vortragsreihe betitelt ist, in der bereits Steffen Popp oder Uljana Wolf in Dialog mit Dichtern aus verschiedensten Epochen und Sprachen traten. Die Tradition soll auf ihre Jetztzeit-Relevanz abgeklopft werden, ihre Protagonisten werden einem „Gegenwartsproof“ unterzogen, wie der Name einer Veranstaltungsreihe am Berliner Haus für Poesie mit ähnlichem Anliegen lautet.

Aber zurück zu Monika Rinck, deren Tribut an Álvaro de Campos nun gedruckt und fadengebunden im Heidelberger Wunderhorn Verlag vorliegt. Eher an ein Referat erinnert der Einstieg, wir werden aufgeklärt über Pessoas Politik der Heteronyme und seine Sorgfalt beim Andichten eigener Biographien, die sich von der seinen stets gravierend unterschieden. Das autofiktionale Spiel eines Bolaño oder Sebald war Pessoas Sache nicht, es hätte den Punkt verfehlt, den sein vielstimmiges Werk macht. Wo heute noch raunend auf Podien Rimbauds Sentenz „Ich ist ein anderer“ totgeleiert als Echo widerhallt, war Pessoa bereits einen Schritt weiter: Ich ist viele, lautete seine Devise. Hier hakt Rinck ein, mit stupendem Interesse, das seit längerem schon ihr Schreiben mitbestimmt – an der Schnittstelle zwischen dem Ich und dem Wir. Auf diesem schmalen Grat sieht sie auch Álvaro de Campos wandeln, dem die entpersonalisierende Ableitung vom Ich zum Wir jedoch keinmal über die Lippen geht, wie Rinck bemerkt. Allem Getöse und Getöne zum Trotz, mit dem seine Meeresode durchaus brachial den Fortschritt und die Masse zu feiern weiß, macht das die Distanz zum martialischen Ethos des Futurismus aus, denn: „Was wollte ein Befehlshaber mit solchen Soldaten? Es kommt nicht zum Wir, es gibt keinen Plural“. Das Einzelne, das per pathetischem Vokativ angerufen wird, geht eben nicht im Ganzen auf, es bleibt ein eigenständiger Teil davon. Genau wie in der Kosmologie von de Campos‘ Wahlverwandtem Walt Whitman, die das Detail in Form von Lebewesen, Dingen oder auch Ideen anspricht und preist, diesen jedoch niemals ihre Plätze zuweist, sondern respektbekundend einräumt. Sensationismus tauft Rinck solch überschwängliches Lob der Vielheit. In eine sensationistische Laudatio der Digitalisierung als der Utopie des 21. Jahrhunderts mündet denn auch ihre „Zwiesprache“ mit de Campos, in einer Feier der verdoppelten Welt und ihrer Gegensätze: 

O ihr Mieten in San Francisco und Los Angeles! Ich flehe euch an, steiget! So steiget doch. O Robotik und Prothetik, Künstliche-Intelligenz und Neuro-Enhancement. O all ihr ausgelösten Cyborgrechte im überwachten Gartenhaus einer Handvoll multinationaler Unternehmen. O Kronos! O Sklavenhandel, O all ihr Homeless People. Legt euch nieder, brüllt, besiedelt die Strände, erkrankt und gesundet! He!

L.A.s obdachlose Bewohner haben ebenfalls Eingang gefunden in Wirksame Fiktionen, Monika Rincks Göttinger Lichtenberg-Poetikdozentur, die eine Reflexion über Grenzen und deren Überschreitung darstellt und einhundertundzwei Seiten stark im Wallstein Verlag erschienenen ist. Sinnbildlich ist die Los Angeles Public Library beispielsweise ein Ort, der das Trennende wie auch das Verbindende zwischen den Menschen, also den Prozess ihrer Segregation und Wir-Bildung verkörpert. Als einer der wenigen öffentlichen Räume der maximalen Gegensatzstadt dürfen sich hier auch Homeless People aufhalten, was Rincks Beobachtungen zufolge, die im Winter 2018 als Gast der Villa Aurora selbst einige Zeit in L.A. verbracht hat, die Atmosphäre merklich beeinflusst, ja „realistischer“ macht. Ist die Bibliothek damit ein Hort der Utopie oder spiegelt sie nurmehr die Brutalität der Realität?

Was Rincks Wirksamen Fiktionen ihre beeindruckende programmatische Stärke verleiht, ist die Einsicht in den Denkprozess der Autorin. Die gestellten Fragen sind niemals rhetorische, daher verdienen sie auch keine eindeutigen Antworten. Sie gehen zum Grund und tauchen wieder auf, sobald im Tiefsinn der Atem knapp wird. So kann Monika Rinck einmal den etymologischen Zusammenhang des Wortpaares ‚fingieren‘ und ‚fiktiv‘ betrachten sowie an anderer Stelle die ausufernden Verkomplizierungsmuster von Kritik loben. All dies geschieht im Ausgang und Rückgriff auf die erkenntnisleitende Fragestellung „Über Lyrik zwischen Fiktion und Non-Fiction“, wie der Untertitel der Rede präzisiert, in der Rinck die Lyrik mit letzter Konsequenz ins Sachbuch-Regal stellt. Mit Lyrik meint sie Gedichte, und wie die Episode über die Public Library in L.A. aufzeigt, geht es stets um weit mehr als diese. Das „zwischen“ des Untertitels verortet diese Lyrik jenseits aller gattungstheoretischen Reinheitsgebote. (Dass dabei die erzählende Prosa wieder einmal nicht gut wegkommt, kann einen ärgern oder anreizen, Monika Rinck bei nächster Gelegenheit einen guten Roman zu schenken.) Lupenreine Zuschreibungen schaffen Grenzen und Grenzen sind grausame Fiktionen. Ihre stetige Verschiebung, vor und zurück, ist was Monika Rinck beobachtet: „Wir haben formale und inhaltliche Grenzen, an denen sich entscheidet, was Dichtung ist, und was nicht. Diese Grenze wird täglich weiter. Aber wir haben kein ‚Wir‘.“ Von welchem Wir ist die Sprache, das Grenzen aushandelt, sie zieht und vor sich rechtfertigt? Mit dieser Fahndung ist das Leitmotiv einmal mehr ausgemacht und zugleich die Koppelung von Dichtung und ihrem sozialen Funktionspotential hergestellt. Der kunstreligiöse Monologismus eines Gottfried Benn dürfte hier nicht mal als Sprungbrett für einen Seemannsköpper in den Pool der dichterischen Möglichkeiten dienen, wo es schließlich selbst den Dialog als unnötige Begrenzung der Kommunikationssituation zu überwinden gilt. Über die reine Zwiesprache hinaus entwickeln sich Rincks Ideen anhand und entlang von Gedichten Christa Reinigs, Julian Talamantez Brolaskis, Ann Cottens, Wendy Trevinos und Elke Erbs.

Monika Rinck gelingt es nicht nur, an ihre Essays Ah, das Love-Ding! (2006) oder Risiko und Idiotie (2015) anzuknüpfen, sondern eine Summe der beiden zu schaffen. Das ist zunächst aufschlussreich für ihr eigenes Werk. Die nicht wenigen Thematisierungen der Melancholie in selbigem, im Vergleich zum oft gepriesenen Rinck‘schen Humor eine erstaunlich unterbetonte Qualität ihres Schreibens, schleichen sich oftmals ein, wo die geglückte Konstitution eines ersehnten Wir ausbleibt. Das lässt sich, durch die Lektüre ihrer Göttinger Vorlesung sensibilisiert, im Zuge einer Re-Lektüre der Essays und Gedichte gut nachvollziehen. Doch die Bedeutungsfülle der Vorlesung über Wirksame Fiktionen geht über das Angebot zu solcher Autorinnenhermeneutik eindeutig hinaus. Rinck ist ein Text geglückt, der dichterisch die Dichtung hochhält und vorführt, dass es an ihr nicht liegen kann, wenn von der schwindenden Bindungskraft dieser Kunstform die Rede ist. Ihr ist ein Text geglückt, der für die Gegenwartslyrik auf dem Sprung in die 2020er Jahre durchaus die Relevanz haben sollte, die Thomas Klings Itinerar für die 1990er zugesprochen wird. (Selbst wenn man ihrem Aufruf ‚Lyrik ins Sachbuch-Regal‘ nicht bereitwillig folgen mag.) Um abschließend selbst noch einmal mit Schmackes auf die Pathospauke zu trommeln: Uns Leser Monika Rincks dürfen wir uns als glückliche Menschen vorstellen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Monika Rinck: Heida! Heida! He! Über Fernando Pessoa.
Reihe Zwiesprachen; erscheint Dezember 2019.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2019.
32 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783884236178

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Titelbild

Monika Rinck: Wirksame Fiktionen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
102 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835335554

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