Fluchtwege aus dem Kommunikationszwang

Der Medienwissenschaftler Guido Zurstiege dekodiert in „Taktiken der Entnetzung“ die räumliche Kolonialisierung des Alltags durch digitale Medien und liefert das Instrumentarium zu einer neuen Autonomie

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die flächendeckende Nutzung sozialer Medien (und internetbasierter Technologien insgesamt) hat offenbar einen derart starken Einfluss auf Verhaltensweisen innerhalb der Gesellschaft, dass bereits das Schreiben einer antiquierten SMS einem revolutionären Akt gleichkommt und zudem starke Abwehrreflexe hervorruft – weil man ein System bedient, was jenseits der erwartbaren Grenzen lokalisiert ist und deswegen eine Form der Mehrarbeit nötig macht. Was der Netzexperte Sascha Lobo mit dem griffigen Slogan „Bequemlichkeit schlägt alles“  glänzend erfasst hat, ist ein eklatantes Signal dafür, dass neue Kommunikationstechnologien einen grenzüberschreitenden Sog entfalten konnten, die vormals voneinander getrennte Bereiche und Handlungssphären so präzise ineinander führen, dass eben jene Bequemlichkeit zum wichtigsten Kriterium einer Lebensführung wird, bei der – ökonomisch motiviert – alles sofort erreichbar und gegenwärtig ist.

Dass dieser spätmoderne Sofortismus im Modus der beschriebenen Gleichzeitigkeit seine Schattenseiten hat, weist der Tübinger Professor für Medienwissenschaft Guido Zurstiege in seiner glänzend pointierten Schrift Taktiken der Entnetzung auf überzeugende Art und Weise nach: Die Grundannahme seiner Überlegungen stellt dabei die Tatsache dar, dass die gegenwärtig zu beobachtende Entgrenzung der Kommunikation immer zugleich die entsprechende Gegenbewegung der Wiedereingrenzung dieser Bestrebungen in sich trägt. Auf Basis einer kursorischen medienwissenschaftlichen Gegenwartsanalyse zeigt der Autor dabei zunächst glaubhaft auf, dass gerade das Grenzüberschreitende im Impetus der Kommunikationstechnologien zum wichtigsten Signum selbiger wird. Das Smartphone als charakteristisches Kernmedium erweist sich als konzentrierte und zugleich maximal entgrenzende Arena sämtlicher Interessen; zwischen Online-Banking, Musikgenuss, geschäftlichem Mailverkehr, privaten Adresssammlungen, Bildern und einer Vielzahl von Games ist die Vielfalt persönlicher Bezugspunkte permanent allgegenwärtig. Für Zurstiege ist eine solche Grenzauflösung zwischen Privatleben, Öffentlichkeit und Geschäftsinteressen nur als radikale Herausforderung für die politische Urteilsbildung, die persönliche Aufmerksamkeit und Konzentration sowie grundsätzliche Sicherheitserwägungen begreifbar.

Nur folgerichtig ist deshalb seine Rückbesinnung auf eigentlich philosophisch konnotierte Kategorien der Selbstbehauptung und Selbstbestimmung des Individuums: Im Rückgriff auf prominente Vertreter einer solchen Kritik an digitalen Vernetzungsmöglichkeiten (die im Übrigen oft als einstmalige „Internetpioniere“ firmierten) plädiert der Medienwissenschaftler für eine Art räumlichen rollback: Keinesfalls im Sinne eines radikalen Verzichts auf Technologie, jedoch mit einem neuen Fokus auf das persönliche Einrichten und Einhalten von Grenzen der jeweiligen Anwendungsbereiche. Für Zurstiege ist dies im Besonderen verbunden mit der Frage der Relevanz und Reichweite bestimmter technischer Medien mit Blick auf den eigenen Alltag, ein Plädoyer für bewusste Nutzungsformen jenseits unbewusster Allgegenwärtigkeiten. Dieser regulatorische Impuls ist natürlich völlig gegenläufig zum Ansinnen der Internetgiganten, verweist damit auf das systemkritische Potential seines Ansatzes, der insgesamt auf eine neue Form der Selbstfürsorge gerichtet ist, nämlich der eigenen (technologischen) Sicherheit und des politischen Bewusstseins jenseits von Hass und Echokammer.

Ob der digital konditionierte spätmoderne Mensch den Autonomiedrang im Dschungel der mittlerweile ökonomisch kredenzten Sekundärbedürfnisse noch verspüren kann, werden die Entwicklungen der nächsten Jahre zeigen. In jedem Fall aber liefert Guido Zurstiege mit seinem schmalen, aber ungeahnt reichhaltigen Buch zu Möglichkeiten der Entnetzung das Handwerkszeug für ein neues Verhältnis zu Kommunikationstechnologien.

Titelbild

Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
298 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127452

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