Intensive Lektüre

Der Sammelband „Show, don’t tell“ von Tilmann Köppe und Rüdiger Singer beleuchtet ein als anschaulich empfundenes Erzählen in fiktionalen und faktualen Werken von der Antike bis in die Gegenwart

Von Jan HorstmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Horstmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In zwölf Beiträgen nähert sich der gut 300-seitige Sammelband Show, don’t tell. Konzepte und Strategien anschaulichen Erzählens dem Phänomen des als intensiv und immersiv wahrgenommenen Erzählens. Bereits der Titel weist mit seiner Referenz auf die Konzepte showing und telling (1922 von Percy Lubbock eingeführt) darauf hin, dass schon häufig versucht wurde, wissenschaftlich zu beschreiben, warum einige Erzählungen als lebendig, spannend, mitreißend – eben anschaulich – empfunden werden, und andere nicht. Begriffe wie „showing”, „rendering“, „dramatischer Modus“, „geringe Distanz“, „szenische Erzählung“, „szenische Darstellung“, „scenic mode“, „enargeia“, „energeia“, „hypotyposis“ oder „subjectio“ sind zwar nicht bedeutungsgleich, jedoch durch starke Affinität zueinander gekennzeichnet. Dieses Konvolut an Konzepten und Beschreibungsansätzen versuchen die Herausgeber Tilmann Köppe und Rüdiger Singer im Sinne einer Theoriebildung unter dem Begriff des „anschaulichen Erzählens” zusammenzuführen.

In ihrer das äußerst weite Feld des anschaulichen Erzählens strukturierenden und einschränkenden Einleitung beschreiben die Herausgeber Anschaulichkeit als eine Wirkungsdisposition, d. h. als eine rezeptionsabhängige Texteigenschaft: „Ein anschaulicher Text […] lädt Leserinnen und Leser dazu ein, sich besonders intensiv und lebhaft vorzustellen, worum es im Text geht.“ Diese Wirkung von Texten kann jedoch durch eine Vielzahl unterschiedlicher Elemente hervorgerufen werden und ist weder auf ein bestimmtes literarisches Genre oder eine spezifische Epoche noch auf fiktionale Texte beschränkt. Das Unterfangen steht damit vor der Herausforderung, in einem überschaubaren Rahmen anhand ausgewählter Beispiele ein Phänomen zu diskutieren, dessen Tradition genauso alt ist wie das Erzählen selbst. Vor diesem Hintergrund versammelt der Band inhaltlich sehr verschiedene Ansätze. Die Beiträge behandeln Beispiele von der römischen Kaiserzeit bis zur Gegenwart in unterschiedlichen fiktionalen und faktualen Textsorten und Medien. Aber auch methodisch rangieren die einzelnen Aufsätze von traditionellem Close Reading einzelner oder weniger Texte (deren Auswahl gewöhnlich gar nicht oder nur wenig begründet wird) bis hin zum digital gestützten Distant Reading einer Textsammlung von 30 Erzählanfängen (mit begründeter Auswahl).

Dieses riesige Feld an Untersuchungsgegenständen wie an methodischen Herangehensweisen ist für den vorliegenden Band Segen und Fluch zugleich. Einerseits bietet es die Möglichkeit, viele unterschiedliche Ansätze zu versammeln und ein Phänomen in angemessener Breite zu besprechen. Wie sonst könnte man Texte von William Shakespeare, Briefwechsel aus der römischen Kaiserzeit, Fantasyromane, Evergreens des deutschen wie des englischen literarischen Kanons, Kriminalromane, Hörspiele etc. in einem Buch gemeinsam besprechen? Andererseits birgt ein derart breiter Ansatz an Untersuchungsgegenständen die Gefahr, dass das gesamte Konstrukt in seine einzelnen Teile zerfällt, und diese Tendenz wird auch in Show, don’t tell gelegentlich sichtbar. Einige Beiträge sind so stark ihrer speziellen Thematik verpflichtet, d. h. sie sind mehr Close Readings der behandelten Texte als methodologische oder theoretische Diskussion eines Konzeptes, dass sie dem übergeordneten Phänomen des anschaulichen Erzählens nur wenig hinzufügen und daher in entsprechenden Fachzeitschriften wohl besser aufgehoben wären.

Doch welche Formen von Anschaulichkeit lassen sich im Erzählen differenzieren? Einem Text Anschaulichkeit zuzuschreiben ist zwar subjektiv, weil sie an die Erfahrung eines Subjektes gekoppelt ist, jedoch nicht beliebig. Einige Texte rechtfertigen die Zuschreibung mehr als andere und es gilt herauszufinden, woran dies liegt und was die zugrundeliegenden Strategien sind. Bereits in der sehr erhellenden Einleitung benennen die beiden Herausgeber strukturierend drei Wirkungen und vier Strategien des anschaulichen Erzählens.

Als Wirkungen werden genannt (1) die visuelle Imagination, bei der sich die Rezipierenden das Erzählte bildlich vorstellen können, (2) die imaginative Projektion, bei der sich die Rezipierenden in das Erzählte hineinprojizieren und (3) das affektive Involviertsein, bei dem insbesondere emotionale Effekte erzeugt werden. Strategie eins betrifft die Ikonizität, d. h. eine Ähnlichkeit von Darstellung und Dargestelltem. Sie kann erreicht werden durch eine Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit, die imitierte Darstellung der Aufeinanderfolge und Dauer von Handlungen. Ikonisch können auch Darstellungen von Seh-Akten von Figuren oder Erinnerungen von Ich-Erzählern sein, die zur Imagination einladen bzw. Visualisierungen erzeugen. Strategie zwei bezieht sich auf Ich-Erzählerfiguren, die als Augenzeugen auftreten und damit die Anschaulichkeit befördern. Strategie drei benennt Detailfülle und Selektion, die in ausgewogenem Verhältnis stehen sollten. Die vierte Strategie bezieht sich auf den Einsatz von Tropen (Synekdoche, Metonymie, Metapher), die konventionalisiert eine ziemlich konkrete Bildlichkeit erzeugen können.

Das Gros der Beiträge bezieht sich nicht explizit auf diese theoretisch differenzierten Dimensionen des Konzeptes, sondern setzt entweder implizit ein Verständnis von Anschaulichkeit voraus oder fügt dem nicht genau definierten Phänomen durch die jeweilige Analyse eine Facette hinzu. Solche Facetten sind beispielsweise die konkrete Adressatenorientierung in Briefen (wie im Beitrag von Meike Rühl), die Aktivierung des Rezipienten durch Anekdoten (vgl. den Artikel von Christian Moser), das in Erzählungen selbst thematisierte Schauen bei Shakespeare oder E.T.A. Hoffmann (in den Beiträgen von Angelika Zirker und Dirk Uhlmann) bzw. das Anschauen des fiktionalen Stoffes im Zuge der Erschaffung einer Erzählung bei Charles Dickens (im Beitrag von Matthias Bauer) und viele weitere. Genrespezifische Ausformungen des anschaulichen Erzählens werden insbesondere in den Beiträgen von Sabine Gross (Kriminalroman) und Anja Schonlau (Fantasyroman) diskutiert. Medientheoretische Aspekte des anschaulichen Erzählens und die damit einhergehenden anderen Möglichkeiten von Immersivität stellt Henning Wrage mit Bezug auf das Nachkriegs-Hörspiel vor.

Methodisch wie auch in Bezug auf seinen Umfang (etwa 40 Seiten) besonders hervorstechend ist sicher der Beitrag von J. Berenike Herrmann. Sie wählt einen quantitativ orientierten computergestützten Zugang, der eine kollaborative manuelle Annotation mit statistischen Aussagen über die Verwendung von Metaphern in Erzählanfängen zwischen 1880 und 1926 verknüpft. Herrmanns Beitrag reflektiert sowohl die zum Einsatz kommenden Methoden umfänglich als auch die Auswahl der analysierten Texte. Auch die Konzentration auf das Phänomen metaphorischen Sprechens begründet sie, kommt doch bereits seit Aristoteles‘ Poetik und Rhetorik der Metapher eine Zentralstellung unter den Elementen zur Herstellung von Anschaulichkeit zu. Ein häufig abstrakter Sachverhalt werde durch Metaphern oft konkretisiert und so erfahrbar bzw. anschaulich gemacht. Herrmann fokussiert im Sinne kognitionslinguistischer Ansätze auf konventionalisierte statt auf kreative bzw. abweichende Metaphorik; auch um eine breitere Datenbasis zu schaffen. Die Anfänge von Erzählungen seien in dieser Hinsicht besonders interessant, da ihnen eine Schlüsselrolle in der Kommunikation zwischen Text und Lesenden zukomme; sie haben Repräsentations- wie Überzeugungsarbeit zu leisten und hier entscheide sich, ob die Lesenden in die erzählte Welt „einsteigen“, diese also anschaulich werden kann, oder nicht.

Neben einer automatischen Wortartenerkennung wurden in dem Projekt, das Herrmann beschreibt, Metaphern auf Wortebene wörterbuchbasiert annotiert, sodass quantitative und qualitative Analysen verknüpft werden können. Mit dieser Vorgehensweise leistet der Ansatz gleichzeitig einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um den epistemischen Status digitaler Methoden in sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschungsfragen. Der Beitrag stellt eine ganze Reihe von (Zwischen-)Ergebnissen der Analyse vor: etwa, dass insbesondere diejenigen Texte metaphernreich sind, die eine subjektive Weltsicht darstellen, oder dass Metaphern, die beim Lesen als solche aufgenommen werden, ein höheres Anschaulichkeitspotential haben als konventionalisierte Metaphern.

Insgesamt bildet der Sammelband einen wichtigen Beitrag zur Theoretisierung der vielen unterschiedlichen Ansätze, die hier unter dem Begriff des anschaulichen Erzählens zusammengefasst werden. Die maximal breite Anlage der Studie in Bezug auf ihre Untersuchungsgegenstände hinsichtlich Epoche, Textsorte, Medium und Modus zeichnet das mutige Unterfangen aus. Da es – wie in den meisten Sammelbänden – keine direkten Bezüge zwischen den Beiträgen gibt, bleiben die ausgewählten Aufsätze jedoch vereinzelte Schlaglichter und allen voran leistet die Einleitung konzeptionelle Theoriearbeit. Die methodische Vielfalt des Sammelbandes ist dabei sehr zu begrüßen, denn sie befördert einerseits eine innerfachliche Methodendiskussion und zeigt andererseits die Vielfältigkeit der heutigen Literaturwissenschaft.

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Tilmann Köppe / Rüdiger Singer (Hg.): Show, don‘t tell. Konzepte und Strategien anschaulichen Erzählens.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
305 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812812

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