Weltenderungen

100 Jahre Menschheitsdämmerung

Von Konstantin AmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konstantin Ames

Das Ersterscheinen der von Kurt Pinthus edierten Menschheitsdämmerung jährte sich im Herbst 2019 zum 100. Mal; das Erscheinungsjahr 1920 ist eine Vordatierung, die am tatsächlichen Erscheinungstermin: Winter 1919 nichts ändert. Der Expressionismus, dem – wie manche meinen – mit dieser Anthologie ein Denk- und Grabmal gesetzt wurde, hat früh einflußreiche Kritiker auf den Plan gerufen, die mit Feuereifer den Furor der Bewegung ersticken wollten. Nicht minder einflußreich waren die Apologeten – allerdings verhaltener, daher wohl glücklos.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat eine stalinistische Kulturpolitik beziehungsweise das Wirken der Gruppe 47 eine Neu- und Wiederbelebung des Expressionismus verhindert. Ernst Blochs Resümee aus seiner Diskussion über Expressionismus (1938) blieb wahr: „Das Erbe des Expressionismus ist noch nicht zu Ende, denn es wurde noch gar nicht damit angefangen.“

Heute an diese Epoche heranzutreten mit einem Interesse, das über literaturhistorische Neugierde hinausgeht, kann deshalb leicht wie der Verstoß gegen eine amtliche Friedhofsordnung wirken.

Initial für den Entschluß, diese Übertretung dennoch zu wagen, war der Fund einer heftigen Eloge von Johannes R. Becher. Becher schreibt als stalinistischer Kulturfunktionär und DDR-Kulturminister in seinem insgesamt recht muffigen Vademecum Das poetische Prinzip (1957) auch über Jakob van Hoddis, der die „Symphonie jüngster Dichtung“, so der Untertitel der Menschheitsdämmerung, eröffnete und dessen Gedicht „Weltende“ denkbar weit von den Forderungen einer sozrealistischen ‚Aufbauliteratur‘ entfernt ist.

 

„100 Jahre Menschheitsdämmerung“ ist der Anlaß für die schon lange gehegte Absicht, in Erfahrung zu bringen, was der zeitgenössischen Kollegenschaft zu ausgewählten Gedichten aus dieser (doch sehr umfangreichen) Komposition einfällt. Die optimistische Grundannahme war dabei: Die Kernbestände des epochalen Werks lassen keinen Raum für routiniertes Abtun; vielfältige Anknüpfungspunkte bieten nicht nur die kanonisierten Gedichte, sondern nachgerade auch Zeilen von Dichtern, deren Namen in Vergessenheit geraten sind.

Dabei kann, so die Hoffnung, lesenden Dichter*innen vielleicht etwas gelingen, das dem Literaturspezialistentum nicht viel gilt: Die Annäherung an ein Interpretament derart zu wagen, daß es mehr wird als ein aktenfähiges Artefakt: ein (schreib)praxisaffines Dispositiv, um zu erfahren, was denn nun überwältigt, hebt, niederdrückt, glücklich macht.

 

Aus heutiger Sicht läßt sich aus der Buchstabenfassung vieler Gedichte leicht ein monomaner Hang zur Überanstrengung herauspräparieren; ein Eindruck, der durch die verkniffen wirkenden Dichterbildnisse in der Menschheitsdämmerung verstärkt wird.

Jakob van Hoddis unterscheidet sich auch in diesem Punkt: In Ludwig Meidners Porträt wirkt er in einer Weise üppig, geheimnisvoll und prägnant wie sein Gedicht. Dasjenige, was an diesem Text heute möglicherweise outriert klingt, ist das Momentum einer permanenten Revolte gegen den Untertanenstaat, der spezifische Formen des maulfaulen, naturbelassenen Gedichtemachens begünstigte, die typisch ist für eine renommier- und gefallsüchtige Gründerzeit und eine verkrustete Gesellschaftsform wie die des Wilheminismus.

Van Hoddis’ Quasi-Gassenhauer steht quer zu jeglicher Offiziallyrik. Trauer, Angstlust und Neuererpathos sind die Zutaten dieses modernen Meisterwerks, das nicht zuletzt die Möglichkeit einer ganz anderen Art von (europäischer) Volksmusik zeigt, fern der Stampfrhythmen des Agitprop und der Adeptenhymnik, die Ruhmeshallen füllen soll.

Der Titel Menschheitsdämmerung liest sich nachgerade als Kampfansage an das defätistische Götterdämmerungspathos eines Richard Wagner. Viele mag die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Dämmerung“ stören, denn die Frage lautet: Geht es in den Orkus? Oder zu den Heimstätten des ‚Neuen Menschen‘? – Ein expressionistisches Revival scheint heutzutage ausgeschlossen.

Die an die Kollegenschaft ausgesprochene Einladung, sich mit ausgewählten expressionistischen Dichtern und der Dichterin Else Lasker-Schüler auseinanderzusetzen (in frei zu wählender Form), war nichtsdestotrotz mit der Hoffnung verbunden, daß Unerledigtes auf die richtigen Temperamente trifft.

 

Die Wiederauflage der Menschheitsdämmerung im Jahr 1959 war von vorneherein als gedruckte Gedenkstätte gedacht; was schon der Titelzusatz („Ein Dokument des Expressionismus“) vermuten läßt. Gut gemeint war dies bestimmt, es gab aber den viel zu frühzeitig ausgestellten Totenscheinen, z. B. Iwan Golls „Der Expressionismus stirbt“ (1921), nachträglich recht. Das führte zu einem elegischen und schulmäßigen Tunnelblick auf den Expressionismus, zu einer wirkungsgeschichtlichen Verzerrung.

Viel schwerwiegender noch als diese vorauseilende Defensivstrategie ist das Fehlen bedeutender Stimmen zu werten; was bereits für die Zwischenkriegsfassung von 1922 gilt. Ernst Blass (Die Straßen komme ich entlang geweht, 1912) hätte den Kabarettpart unterstützt, der im Lied oder Halbsonett – zumindest Doppelquartett – des Jakob van Hoddis aufblitzt; ebenso aufnahmewürdig gewesen wären einige Gedichte aus dem Debüt Die letzte Freude von Emmy Hennings, das 1913 im Kurt Wolff Verlag erschien. Zahlreiche der 27 (!) Ergießungen des Romanautors Franz Werfel hätten stattdessen in der Menschheitsdämmerung von 1959 entfallen dürfen.

Die Integration von Dichtungsarten, die dem Expressionismus nahestanden, war jedoch erkennbar nicht die Absicht des seinerzeit in der Bundesrepublik völlig zu Recht hochgeehrten Remigranten Kurt Pinthus.

Das Geleitwort von 1959 wirkt denn auch wie die Verstärkung und Erhöhung einer Mauer, bestehend aus steinhartem Senioritätsprinzip und generationsmäßigem Originalismus: „Als die Neu-Ausgabe geplant wurde, warf man die Frage auf: soll die Sammlung up-to-date gebracht werden, Veraltetes, Ungenießbares, vielleicht Lächerliches herausgeworfen und sollen dafür spätere Gedichte und andere Dichter des Expressionismus einkomponiert werden? Ich bestand darauf, daß die Menschheitsdämmerung als historisches Dokument genauso wiederveröffentlicht werden müsse, wie sie vor 40 Jahren erschienen ist.“

Vernehmlich gewehrt hat sich gegen diese zuweilen etwas selbstgefällige Tradierung jedenfalls nur Kurt Hiller, der im Jahr 1912 die Berlingedichte-Anthologie Der Kondor herausgegeben hatte; einige der darin vertretenen Autoren (u. a. Heym, Lasker-Schüler, Rubiner, Werfel) wurden später in die Menschheitsdämmerung aufgenommen. Die Folge war eine nicht immer nachzuvollziehende Rivalität zwischen Hiller und Pinthus.

In einer Rede von 1961, aus Anlaß einer Expressionismus-Ausstellung im Marbacher Literaturarchiv, sparte Hiller nicht mit Abschätzigkeit: „Was, wenn wir die Vokabel akzeptieren, war der Expressionismus? Ich möchte meinen, er war eine Ausdrucksart. Der Aktivismus, einige Jahre später, war eine Gesinnung. Zur Ausdrucksart (…) gehörte: die von den Meistern seit Goethe gelehrte Formstrenge, aber ohne die (…) posierte Hieratik und Archaik, wie sie uns von einem Teil der George-Schülerschaft und etwa einem Rudolf Borchardt präsentiert wurde; wir wollten bei aller Kunstzucht (…) ehrlich bis dorthinaus sein (…) auf Asphalt-Grundlage! (…) Satire, Ironie und Fremdwörter gehörten in das Produkt, die Leidenschaften und tragischen Affekte genauso, Wälder und Gestirne auch.“

Hiller greift in seiner „Begegnung mit ‚Expressionisten‘“ überschriebenen Philippika eine Reihe von Dichtern heftig an: August Stramm ist für ihn das Paradebeispiel eines „stotternden Flachkopfs und Tieftuers“, „unsere verehrte Else“ (Lasker-Schüler) erklärt er für „mental“ schwach, Jakob van Hoddis stempelt er zum überschätzten „kleinen Schizophrenen“ – er schuf damit ein perpetuierbares Muster der Abwertung im Zeichen der Pathologisierung, wo er mühelos das Artefakt ‚Anthologie‘ hätte problematisieren können.

 

Bei allen bisher angedeuteten Mängeln darf jedoch nicht übersehen werden, daß in der Persönlichkeit von Kurt Pinthus der Hauptbeförderer des Expressionismus zu würdigen ist, der übrigens auch ein ebenso kluger Filmtheoretiker und ein Pionier der Filmkritik in Deutschland war.

Bei seiner Ausreise aus Nazideutschland – es folgte eine heimliche Rückkehr nach Berlin im Jahr 1937, dann die Immigration in die USA und die Ausbürgerung – konnte Pinthus seine Privatbibliothek zunächst nicht retten. Er nahm nur zwei Bücher als Reverenzen mit, die Menschheitsdämmerung und, als Ergebnis eines literarisch-cineastischen Experiments, Das Kinobuch (1913), an dem mit Albert Ehrenstein, Else Lasker-Schüler und Ludwig Rubiner drei Aktivposten expressionistischer Poesie beteiligt waren.

,Expressionistische Lyrik‘ ist insofern ein Kompositum, das leicht übersehen läßt, welchen enormen Einfluß das seinerzeit ‚neue Medium‘ Kino auf das dichterische Sehen hatte. Völlig zurecht hat Thomas Kling darauf hingewiesen, daß „zu wenig beachtet worden (ist), wieviel die (bessere) Lyrik der Generation Verdun dem frühen Film verdankt: seiner raschen Schnittechnik, den flimmernden Blenden (…).“

Genauso signifikant wie dieser intermediale Innovationsschub ist das selbstverständliche Koexistieren von Tradition und Utopie im expressionistischen Jahrzehnt; Helmut Heißenbüttel macht in seinen „Thesen zum Sprachgebrauch des deutschen Expressionismus“ eben darauf aufmerksam.

 

Li(e)der, der Zusatz zum Titel unseres Dossiers, bezeigt der poetischen Pluralität, deren Ausdruck die Menschheitsdämmerung ist, den verdienten Respekt: Das Sonett, um ein Beispiel zu wählen, galt Kurt Pinthus nicht weniger als ein ausufernder Dithyrambus Stadlers oder die Strammschen Einwortverse, die als „sentimentgeladen-gehetztes Reichspostsekretärs-Stakkato“ (Thomas Kling) abzutun vorschnell wäre.

Die Lektüre von drei Gedichten August Stramms durch den Literaturwissenschaftler und Lautpoeten Michael Lentz will demgegenüber die Verbindungslinien zwischen Expressionismus und Phonetischer Poesie nicht ausblenden. Daß August Stramm in so emphatischer Weise durch einen Dichterkollegen gewürdigt wird, ist eine Premiere.

Ungewohnt ist außerdem eine Perspektive auf den Expressionismus, in der gerade nicht die (literatur)aktivistische Seite abgetrennt wird; so läßt sich durchaus eine informelle Fortsetzung der Pinthus-Auswahl ausfindig machen: Das Erscheinen eines jeden in der Menge – Lyrik aus der BRD / Lyrik aus Westberlin seit 1970 (hg. v. Klaus Pankow, 1983). Darin vertreten sind die Häuptlinge der „Neuen Subjektivität“, aber auch die Dichter Friedrich Christian Delius und Michael Krüger.

 

Ich bin allen, die etwas zum Gelingen dieser Zusammenstellung beigetragen haben, in gleichem Maße dankbar. Einmal dafür, daß eine wichtige Paralleltradition in ein fremd-vertrautes Licht gerückt wurde; zum weiteren für das Ausschreiten des gesamten Spektrums möglicher Pathien, vom harschen Verdammungsurteil, der Appropriation, der profunden Interpretation bis hin zur schrillen Persiflage, anarchoiden Anti-Interpretation, zur atmosphärischen Skizze und zur offenen Diskussion.

Über den gesamten Editionsprozeß hinweg ermutigend war für mich Franz Mons Geleitwort zur Antianthologie (1973). Mon wollte keine „Blütenlese“ vorlegen, „sondern eine Montage (…) verschiedenartigster (…) Stücke – also nicht nur Blüten, sondern auch Blätter, Dornen, Reißer, Luftwurzeln, Parasiten. Sie hat keine andere Absicht, als den Leser zu veranlassen, lesend zu isolieren und sogleich wieder zu kombinieren (…).“

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist zuerst erschienen  in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 92, Februar 2019. Für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung  danken wir Konstantin Ames und dem Herausgeber der Zeitschrift Norbert Wehr.