Die Schuld der Vergangenheit?

Chris Kraus legt mit „Das kalte Blut“ die umfangreichen Memoiren eines fiktiven Nazi-Offiziers vor

Von Fabian RuhrländerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Ruhrländer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Herbst 1974. Ein Mann im Rentenalter liegt mit einer Schussverletzung in einem Krankenhaus, neben ihm ein Hindu-Guru Mitte 30 namens Sebastian mit unbekannter Verletzung. Die Lebenserfahrungen der beiden Männer, deren Aufeinandertreffen den Beginn von Chris Kraus’ Roman Das kalte Blut markiert, könnten unterschiedlicher nicht sein. Der Guru gibt einige Anekdoten aus seinem vornehmlich spirituellen und meist cannabisvernebelten Leben zum Besten. Konstantin, genannt Koja, gibt vor, das uninteressant und nervtötend zu finden. Dennoch nimmt der Ich-Erzähler die Berichte zum Anlass, nun seinerseits die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit zu verbalisieren und beginnt damit, den wehrlosen und friedfertigen Guru mit seiner Lebensgeschichte zu malträtieren.

Der Gesprächsanlass, zugleich Beginn des Romans, ist noch vergleichsweise originell gestaltet, die Story selbst, vom Klappentext betont verheißungsvoll das „Epos zweier deutschbaltischer Brüder“ betitelt, wirkt hingegen nur mäßig interessant. Immer aus der Perspektive des ehemaligen Wehrmachtssoldaten, der in verschiedenen Funktionen vom Jugendführer bis zum SS-Sturmbannführer tätig war, werden dessen persönliche Verbrechen bei der Ausübung seiner Jobs geschildert. Die verwickelte Familiengeschichte ist ebenfalls ein großer Bestandteil der Handlung. Die Erzählung eines Konstruktes aus Lügen, Intrigen und persönlichen Scharmützeln ist bestimmt von der unterschwelligen Frage der Schuld, die im ersten Teil des Buches, der etwa 450 Seiten umfasst, zwar omnipräsent ist, aber nur an einer Stelle direkt gestellt wird und mit Naziverbrechen überhaupt nichts zu tun hat. 

Die Techniken und die sprachlichen Bilder, die Kraus bemüht, sollen dem häufig bearbeiteten Thema des Zweiten Weltkriegs eine neue Dimension geben, wirken aber entweder abgedroschen oder auf unpassende Weise bizarr. Das den Roman durchziehende Motiv der Dreiecksbeziehung ist sogar beides. Ich-Erzähler Koja und sein älterer Bruder Hubert verfangen sich in endlosen Bemühungen um die Liebe einer Frau, die gleichzeitig die Adoptivschwester der beiden ist. In den Phasen, in denen Koja seiner Schwester nicht auf zärtliche Weise nah sein kann, erzählt er uns, wie er vor Sehnsucht nach ihr verging und sich nur trösten konnte, indem er mit dem noch warmen Toilettendeckel kuschelte, auf dem sie kurz zuvor noch gesessen hatte. Kraus’ Sprache schwankt dabei zwischen drastischen und poetischen Beschreibungen, die den Charakter Kojas untermalen sollen, dem als talentierter Maler und Architekturstudent ein großes Bewusstsein für Ästhetik bescheinigt wird. Er vollzieht aber durch sein Mitwirken an den Verbrechen der Nationalsozialisten immer wieder auch brutale Handlungen. Sein Gefühl, der Sinn des Lebens sei eine Art Grimm’sche Robinsonade, deren Ziel es sei, einen Weg aus dem Wald zu finden, unterstreicht auf eindrucksvolle Weise sein Mitläufertum. Denn seine spätere Überzeugung, aus besagtem Wald nicht entkommen zu können, führt dazu, dass er sich seinem großen Bruder anschließt, auf dass er ihn zumindest „auf Lichtungen führe“. Im Text selbst wird dieses Mitlaufen aber gefährlich undeutlich belassen. Die Schwester Eva, fast ausschließlich liebevoll „Ev“ genannt, äußert sich zwar einige Male sehr kritisch zu den Handlungen ihrer Brüder, diese tun das aber als übertriebene Sentimentalität und fehlendes Verständnis für „die großen Zusammenhänge“ ab.

Koja stellt sich von Beginn an als Opfer der Umstände dar, ohne dies direkt zu benennen. Durch Erhard Sneiper, den ersten Ehemann seiner Schwester (mit dem auch der Reigen der sprechenden Namen beginnt), kommen die Brüder erstmals mit dem Nationalsozialismus in Kontakt. Kojas Eifersucht auf Sneiper verleitet ihn zu einem Streich an dem Schwager, dessen weißes Hemd er mit einer speziellen Malergrundierung bestreicht, die sich nach einigen Stunden verfärbt. Die Grundierung trägt er vor einer wichtigen NS-Versammlung auf, bei der auch Sneiper redet und während er dies tut, verfärbt sich sein Hemd in die naheliegende Farbe braun. Die Farbmetapher wirkt sehr gesucht, ebenso wie die sprechenden Namen (eine Frau, bei der Koja ausschließlich an ihrem Körper interessiert ist, trägt den Namen Mumu), der innere Konflikt des Erzählers mutet ebenfalls unpassend an. Offenbar durch das braune Hemd geschockt, erleidet Kojas und Hubs Vater einen Schlaganfall, durch den er gelähmt und unfähig zu sprechen für den Rest seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt bleibt. Dadurch ist es notwendig geworden, dass Hub und Koja für die Familie sorgen. Ihre einzige Option sehen sie darin, durch Sneiper vermittelte, viel zu gut bezahlte Jobs anzunehmen, was Koja zu seinem Posten als NS-Jugendführer bringt. Die Frage nach der Schuld an dem Schlaganfall selbst kommt auf, der Rest wird als Kette unglücklicher Umstände hingenommen und nicht weiter verhandelt. 

Zu allem Überfluss scheint auf der Liste der für einen Roman abzuhakenden Elemente neben sprechenden Namen und Farbmetaphorik noch ein biblisch anmutendes Leitmotiv gefehlt zu haben. Dieses erfüllt in Das kalte Blut der Apfel, im Roman als Familienheiligtum eingeführt, denn der ehrwürdige Pastoren-Großvater soll von lettischen „Revolutionären“ ertränkt worden sein, nachdem er – aus Frust über deren ungebührliches Verhalten ihm gegenüber – den Anführer mit einem Apfel der Sorte roter Herbstkalvill beworfen hatte. Folglich ist es also Eva, der es „vorbehalten war, ihre beiden Brüder auf ewig unglücklich zu machen“ und das Hauptmotiv zu vervollständigen. Auch dem Ich-Erzähler scheint aufzufallen, dass er zu schwadronieren beginnt und sieht sich schon nach etwas mehr als 300 Seiten genötigt, die Lesenden um Geduld zu bitten, denn es sei wahrlich lohnenswert, sich die Geschichte noch weiter anzutun. Dieser Aufruf ist ein letzter Versuch, die Aufmerksamkeit zu behalten und wirkt umso trauriger, wenn man bedenkt, dass Kraus den Hilferuf schon nach etwa einem Viertel der Gesamtlänge anbringt. Nicht zu Unrecht wird bereits im Klappentext darauf hingewiesen, der Autor sei „ein besessener Erzähler“. Die Frage nach dem „Wovon?“ wird aber auch beim intensiven Lesen des ersten Teils nicht ganz deutlich. Die dem Rezensenten vorliegende Fassung dieses ersten Teils endet zwar nach 458 Seiten mit einem riesigen Cliffhanger – noch nicht mal beim Ende des Zweiten Weltkriegs angekommen –, dennoch läuft man keine Gefahr, sich versehentlich den Gesamtband mit den restlichen 742 Seiten anschaffen zu wollen. 

Titelbild

Chris Kraus: Das kalte Blut.
Diogenes Verlag, Zürich 2017.
459 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069730

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