Mehr Korrespondenz und ein wenig neue Erkenntnisse

Zum Auftakt der Werkausgabe von Robert Walser erscheinen „Briefe“ in drei Bänden ediert in einer umfangreicheren „Berner Ausgabe“

Von Nikolai PreuschoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolai Preuschoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Satz, den der 43-jährige Robert Walser am 15. Februar 1921 aus dem Berner Murifeldweg an Frieda Mermet schreibt, trifft nicht nur den Charakter dieses einen Briefes, sondern in einiger Hinsicht den von Walsers Poetik überhaupt: „Mitzuteilen habe ich nicht viel.“ Walsers Satz erinnert an eine Aussage Peter Altenbergs: „Wie schreibe ich denn?! Ganz frei, ohne Bedenken. Nie weiß ich mein Thema vorher, nie denke ich nach. Ich nehme Papier und schreibe.“ Wie Altenberg hat natürlich auch Walser etwas mitzuteilen. Er ist ein leidenschaftlicher Erzähler. Aber das „Wie“ der Mitteilung ist ihm mindestens ebenso wichtig wie das Gesagte selbst. So schreibt er 1928/29 in dem Prosastück Meine Bemühungen:

Wenn ich gelegentlich spontan drauflos schriftstellerte, so sah das vielleicht für Erzernsthafte ein wenig komisch aus; doch ich experimentierte auf sprachlichem Gebiet in der Hoffnung, in der Sprache sei irgendwelche unbekannte Lebendigkeit vorhanden, die es eine Freude sei zu wecken.

Walsers Erzählungen, seine Figuren, sein Werk (die Gedichte, drei Romane, zahlreiche kleine Prosastücke, Aufsätze und Dramolette), kurz, Walsers Lebens- und Schreibpraxis ist von einer Haltung tiefster Bescheidenheit durchzogen. Die Aussage, nichts mitzuteilen zu haben, entspricht der kurzen Selbstdarstellung in Walsers erstem Roman, Geschwistern Tanner (1907), wenn Simon Tanner sich mit den Worten vorstellt: „Ich heiße Simon, und ich habe bis jetzt nichts getan“; sie erinnert an Jakob von Guntens Ziel, eine „kugelrunde Null im späteren Leben“ zu werden, und sie spiegelt sich in der Aussage von Walsers gleichnamigen Prosastück, Für die Katz zu schreiben.

Die von Peter Stocker und Bernhard Echte im Suhrkamp Verlag herausgegebene Berner Ausgabe von Walsers Briefen versammelt insgesamt 951 Korrespondenzstücke, darunter 764 von Walser verfasste, wovon sie einen Großteil erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht. Zum Vergleich: Die Ausgabe von Jörg Schäfer und Robert Mächler (1975) enthielt 411 Walser-Briefe. Die drei Bände bilden den Beginn einer neuen, von der Robert-Walser-Stiftung in Bern in Auftrag gegebenen Werkausgabe, die nun, als Lese- und Studienausgabe konzipiert, seit 2018 erscheint und die von Jochen Greven seit 1985 herausgegebenen Sämtliche[n] Werke in Einzelausgaben Band für Band ablösen soll. Die Berner Ausgabe ist dabei kostengünstiger angelegt als die von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz ab 2007 in Basel betreuten Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Allerdings scheint dort eine Herausgabe der Briefe aktuell nicht vorgesehen zu sein. Den Briefen der Berner Ausgabe kommt somit ein Sonderstatus zu, da sie nicht komplementär zur Kritischen Ausgabe erscheinen.

Es liegt auf der Hand, dass die Vervollständigung und damit einhergehende annähernde Verdopplung der Korrespondenzstücke dazu führt, dass nicht mehr jedes einzeln für sich literarisch interessant oder biografisch aufschlussreich ist. Dies gilt insbesondere für jene Briefe, die aus wenigen, geschäftlichen Zeilen bestehen und die etwa den Empfang von Manuskriptseiten oder Honoraren bestätigen, einfordern oder abstreiten. Allgemein aber trifft auf Walsers (überwiegend auf deutsch geführte) Korrespondenz zu, was Max Brod bereits 1913 anmerkte: dass sie von einem ganz vorzüglichen Briefeschreiber verfasst worden ist. Gerade daran, dass Walser es so kunstreich verstehe, „sich gehen zu lassen“, erweise sich dies, so Brod; gerade das „unweise“ Ausgeschwatzte mache Walsers Stil aus. Auch diese Eigenschaft findet sich in den Geschwister[n] Tanner beschrieben, wo es über den Protagonisten Simon heißt:

um sich aufzurütteln, und um etwas mit der Zeit anzufangen, schrieb er einen Brief, einen ganz zwecklosen Brief, aber es war doch etwas, es konnte ein Brief sein, und Briefe schreiben, wenn auch ganz ins Leere hinein, hatte für Simon immer etwas Anziehendes. Es kamen einem viele Dinge dabei wieder in den Sinn, die man vergessen hatte, sich selbst konnte man dabei vergessen, während ferne Dinge einen so beschäftigten… (Geschwister Tanner, SW 9, 287)

Das Robert Walser Handbuch unterscheidet acht verschiedene Brief-Typen. Da ist der Dankesbrief, der Bittbrief, der Beschwerde- oder Mahnbrief, der Familienbrief, Bohème-Brief, Konversationsbrief, da sind galante und polemische Briefe. Liebesbriefe oder sogenannte Schriftstellerbriefe gebe es dagegen kaum.

In den letzten Jahrzehnten hat vor allem Walsers „Bleistiftgebiet“ Aufmerksamkeit erregt – also jene tatsächlich spektakulären, spätestens ab 1924 entstandenen 253 Manuskripte winzig kleiner Schrift, die 2003, transkribiert auf 2412 Druckseiten, in einer sechsbändigen Ausgabe erschienen sind. Die vorliegende Berner Ausgabe zeigt nun, dass es an noch unbekannten Materialien auch unter den Briefen einen bedeutenden Zuwachs gab. Band 1, die Briefe 1897-1920, beginnt nicht mehr mit Walsers Zeilen an die Schwester Lisa vom 30. Juni 1897, sondern mit einem vier Monate älteren Schreiben an Robert Seidel, Redakteur der Zürcher Arbeiterstimme. Wenn der 19-jährige Walser bei Seidel nach Arbeit ansucht, „als Schreiber oder so was“, da er seine derzeitige Stellung bei einer Versicherungsanstalt verlassen will, klingt auch hier wieder der Beginn der rund 9 Jahre später erscheinenden Geschwister Tanner an. Seidel antwortet – und dieses Antwortschreiben ist eines der wenigen an Walser, das sich erhalten hat – dass er zwar keine Stelle, dafür aber einen Rat anzubieten habe, für den sich Walser wiederum artig bedankt. Wenig später schickt Walser das Gedicht Zukunft! an die Adresse der Wochenzeitschrift, das dort allerdings (wie sich einer der vielen hilfreichen Fußnote entnehmen lässt) nie erscheint.

Der zweite Band, die Briefe 1921-1956, beginnt mit einem Brief Walsers an Frieda Mermet, eine Freundin der Schwester Lisa, auf die Walser erotische Fantasien projizierte und von der er Lebensmittel erhielt. Von der Korrespondenz mit Frieda Mermet sind einige bisher unveröffentlichte Briefe in die Berner Ausgabe aufgenommen. Der Kontakt mit Mermet blüht zu Beginn der 20er Jahre auf, ebenso wie mit der jungen Leserin Therese Breitbach. Walser gibt in diesen Briefen Auskunft über seine Arbeit, lästert über Kollegen, flirtet, bedankt sich (bei Mermet) für die zugesandten Naturalien und fordert auch schon mal (von Breitbach), „nächstes mal ein klein wenig verächtlich [zu] schreiben“.

Solche kunstvoll perfektionierte Bescheidenheit zeichnet etliche von Walsers Briefen aus. Und wenn Bescheidenheit ganz allgemein auf einer guten Selbstkenntnis und andauernder Selbstbeobachtung beruht, dann geben seine Briefe eben davon Auskunft: Nicht nur scheint Walser eine gute Kenntnis seiner schriftstellerischen Fähigkeiten zu besitzen, auch sucht er beständig nach eigenen Fehlern. Wie der Arzt in Walsers Räuber-Roman dem Protagonisten bescheinigt, „sie scheinen sich sehr genau zu kennen. Machen Sie nur weiter so“, kann Walser, wenn er Weihnachten 1923 der Freundin Mermet gesteht, dass er in diesem Jahr nicht sonderlich viel geleistet habe, sogleich hinzufügen: „Ich bin trotzdem etwa noch der neuntgrösste eidgenössische Dichter.“

Aus den Briefen spricht zunehmend aber auch Enttäuschung, Verunsicherung und bisweilen Wut – über Ablehnungen, ausbleibende Reaktionen und Missachtung seitens der Verleger und Redakteure: „Ich bekam vom Berliner Tagblatt, nachdem ich siebenundzwanzig mal darin vertreten sein durfte, einen Klapf, daß ich hinausflog. In Deutschland scheinen keine Chancen mehr für mich zu blühen; ebenso verhält sich die Tschechoslowakei abwartend-kühl, sehr reserviert“, schreibt Walser im Mai 1927 an Max Rychner. Die 1920er Jahre sind nichtsdestotrotz, bis zu seiner Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt Waldau 1929, zugleich Walsers produktivste Zeit als Briefeschreiber. Fast der gesamte zweite Band umfasst diesen Zeitraum. Der Band und mit diesem Walsers Korrespondenz endet mit einer kurzen „Schreibkarte“ von Fanny Walser, der jüngsten der sieben Geschwister, die ihrem Bruder, keine zwei Wochen vor dessen Tod, Weihnachtsgrüße sendet.

Briefe wie diese Schreibkarte der Schwester sind jedoch spärlich gesät. Walser hob nämlich Briefe kaum jemals auf – ähnlich, wie er auch nie eine dauerhafte Wohnung besaß oder eine eigene Bibliothek, gar ein einziges Möbelstück sein Eigen nennen konnte. An Anzügen besaß Walser wohl nur, wie W.G. Sebald in einem Essay von 1998 vermutet, „einen besseren und einen minderen“. Selbst das Papier, auf dem Walser schrieb, „kam aus zweiter Hand“. So kann über den Inhalt der Schreiben von Walsers Gegenübern nur spekuliert werden (sofern sich nicht ein Duplikat etwa in einem Verlagsarchiv erhalten hat). In vielen Fällen – etwa der Korrespondenz mit der Schwester Lisa, mit Frieda Mermet oder mit dem ein Jahr älteren Bruder Karl, von dem er lange unterstützt wurde und mit dem er künstlerisch zusammenarbeitete, bis die Beziehung plötzlich abbricht, sind diese Lücken besonders bedauerlich.  So wird erneut deutlich, dass sich die meisten der verbliebenen Rätsel um Walser als singuläre Erscheinung der Schweizer Literatur nicht mehr lösen lassen. Vermutlich auch deshalb finden sich neben Walsers eigenen Briefen in der Berner Ausgabe sogenannte Dokumente Dritter – also etwa ein Brief des Lektors Christian Morgenstern an den Verleger Bruno Cassirer. Daneben ein Editionsbericht, Abbildungen von Briefen, die wenigen Portrait-Fotografien Walsers, Verlagsverträge und Honorarbelege; ein Namens- und Ortsregister sowie detaillierte Zeittafeln.

Zu den neueren Funden, die in diese Ausgabe aufgenommen sind, gehören geschäftliche Korrespondenzen mit Verlagen und Zeitschriften in Prag, Zürich, Basel, Berlin, Wien. Diese Funde vervollständigen das Bild des Briefeschreibers Walser, der in seinen privaten wie geschäftlichen Korrespondenzen Höflichkeit und Charme zur Vollendung und nicht selten auch darüber hinaus treiben konnte, und der mit derselben Raffinesse für ein höheres Honorar kämpft wie er mit Verve plötzlich austeilt, wenn er den zahlreichen Enttäuschungen, die sich über die Jahrzehnte einer prekären Existenz in sein Gedächtnis eingegraben haben, Luft macht. Robert Walser gehörte nie zu jenen Dichtern, die (wie er im Bleistiftgebiet schreibt) „den Ton angeben“. Von seinem ersten Buch, Fritz Kochers Aufsätze (1904), verkauften sich keine 50 Exemplare. Und bis heute scheinen Walsers Texte, trotz ihrer leise zunehmenden Popularität, zu nonkonformistisch, zu verspielt und zurückhaltend, als dass sich daran grundlegend etwas ändern würde. Vorzugeben, nichts zu sagen zu haben, es dann aber doch zu tun, und dies auf äußerst anmutige Weise, ist bescheiden, zugleich aber auch frech und ein wenig eitel, deshalb widersprüchlich und gerade in dieser Widersprüchlichkeit poetisch.

„Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu verhalten, als kennte er mich“, äußerte Walser 1941 auf einer Wanderung mit Carl Seelig. An der Gültigkeit dieser Aussage verändert auch das Erscheinen der Berner Ausgabe nichts. Nolens volens stellt sich den hoffentlich zahlreichen Lesern der Briefe die Frage, ob es einen Wandel in ihnen gibt, im Stil, Ton, ganz allgemein etwas, das geeignet wäre, über Walsers allmählichen Rückzug erst aus dem literarischen und dann dem gesellschaftlichen Leben überhaupt Auskunft zu geben. Aber wer danach sucht, wird enttäuscht, und das ist vielleicht einer der größten Verdienste dieser Edition: Sie zeigt einen Autor, der mit zunehmenden Alter und bis zuletzt im Vollbesitz seiner schriftstellerischen Kraft eine sich langsam ausdünnende Korrespondenz führt, bis diese irgendwann im Juli 1949 abbricht.

Titelbild

Robert Walser: Werke. Berner Ausgabe. Briefe 1-3.
Herausgegeben von Peter Stocker und Bernhard Echte. Unter Mitarbeit von Peter Utz und Thomas Binder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
1523 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428450

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