Mehr PS als erwartet

Mick Herron lässt die lahmen Gäule in seinem Thriller „Slow Horses“ zu edlen Vollblütern werden

Von Swantje BassinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swantje Bassin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Außenstelle des britischen Secret Service voller gefallener M15-Agenten: das Slough House in London. Gehörten sie gestern noch zu den „Dogs“, die im Regent’s Park residieren, sitzen sie nun ihre Zeit im Slough House ab, degradiert zu den „Slow Horses“. Neben dem Umstand, dass sie in der Außenstelle feststecken, haben alle Mitarbeiter des Slough Houses noch etwas gemein: Sie haben irgendwann in ihrer Laufbahn einen gravierenden Fehler gemacht und müssen hier für ihre Taten büßen. Die Arbeit eines Agenten liegt ihnen dabei fern: „Sie spitzen Bleistifte oder falten Papier. Sonst nichts.“ Unter der Leitung ihres Chefs Jackson Lamb, der als „schwabbeliger, fetter, ungehobelter Bastard“ beschrieben wird und sicher keine Auszeichnung für den Vorgesetzten des Monats bekommt, verrichten die Ex-Agenten ihre Arbeit nun im Slough House – in das sie versetzt wurden, um sie möglichst schnell zur Kündigung zu bewegen.

River Cartwright, einer der lahmen Gäule, versiebt am Anfang der Geschichte einen Einsatz am Bahnhof King’s Cross und wird für 120 schwer verletzte oder getötete Menschen, 30 Millionen Pfund Sachschaden und 2,5 Milliarden Pfund Verlust in der Touristikbranche verantwortlich gemacht – allerdings nur im Rahmen der Übung, um die es sich bei dem Einsatz eigentlich handelt. Sie ist angelehnt an die Londoner Terroranschläge 7/7, bei denen die langsam voranschreitenden Bergungsarbeiten von den Angehörigen der Opfer stark kritisiert wurden. Der Autor Mick Herron greift diese Kritik in seinem Werk wiederholt auf, geht auf einzelne Fakten der Anschlagsserie ein und zieht den britischen Geheimdienst dabei gnadenlos durch den Kakao.

So spannend der Thriller beginnt – den Leser im Unwissen darüber lassend, dass es sich nur um eine Übung handelt – so einschläfernd setzt er sich auf den nächsten 140 von insgesamt 472 Seiten fort. Rivers Fauxpas schließen sich Charakterbeschreibungen über Charakterbeschreibungen der acht gefallenen Agenten und ihres Chefs Jackson Lamb an, doch nicht immer wird erklärt, was den Betroffenen wirklich nach Slough House gebracht hat. Obgleich die ausführlichen Beschreibungen der Charakterzüge und Tätigkeiten gewinnbringend für die persönliche Beziehung zu den Ex-Agenten sind, wird durch sie die anfänglich aufgebaute Spannung schnell vernichtet. Über das erste Drittel des Buchs wird sie dann auch nicht wiederaufgebaut, was an den eisernen Willen des Lesers appelliert, das Buch nicht gelangweilt und entnervt in die Ecke zu legen.

Ein Lob ist Mick Herron dafür auszusprechen, dass er den Überblick über seine lahmen Gäule behält und ihre individuellen Eigenschaften durchgehend fein säuberlich voneinander trennt. Dem Leser mag das bei der Namensgebung teilweise schwerfallen, lauten die Nachnamen zweier Slow Horses doch Hobden und Ho und zweier anderer Loy und Guy. Durch das direkte Aufeinanderfolgen der einzelnen Figurenbeschreibungen wird es hier geradezu unmöglich, den Überblick zu behalten. Wer als Leser dem Geschehen im späteren Verlauf problemlos folgen will, muss sich entweder auf wiederholtes Zurückblättern und Nachlesen einstellen oder direkt ein Notizbuch parat halten. Eine kleine Hilfe bietet die hierarchische Auflistung der Slow Horses und Dogs vor dem ersten Kapitel, die sich allerdings nur auf die Namen beschränkt und Zuständigkeiten und Eigenschaften außen vorlässt.

Wer sich durch die ermüdenden Lebensgeschichten gekämpft hat, wird jedoch belohnt: Mit einer wieder intensiv auflodernden Spannung macht der Thriller ab hier seinem Genre alle Ehre. Die Entführung eines pakistanisch-stämmigen jungen Mannes, der nach 48 Stunden live vor der Kamera enthauptet werden soll, beschert den Slow Horses, die auf einmal gar nicht mehr slow sind, eine neue Herausforderung. Wider aller Erwartungen tauscht Herron die Rollen und besetzt die Bösen nicht – wie so häufig – mit fanatischen Islamisten, sondern mit irren britischen Nationalisten. Ganz nebenbei werden die gefallenen Agenten des Slough House zu den Helden der Stunde. Wer dabei anfänglich noch in Protagonisten und Antagonisten einteilt, wird sich spätestens ab der Hälfte der Geschichte gezwungen sehen, seine Vorurteile über Bord zu werfen und neue Rollenverteilungen vorzunehmen. Ein gerissener Wendepunkt setzt die Erzählung im Folgenden fort, die Spannung bleibt durchweg auf einem hohen Level und die lahmen Gäule werden zu waschechten Vollblütern, die sich während ihres ungeplanten Einsatzes zusammenraufen, zu einem Team werden und sich zu den Lieblingen des Lesers entwickeln. Teilweise finden die zähen Charakterbeschreibungen doch noch ihre Daseinsberechtigung, trotzdem stellt die Ausführung über etwa ein Viertel des Buchs eine erhebliche Geduldsprobe dar.

Mit Slow Horses legt Mick Herron einen zeitgemäßen Agenten-Thriller vor, der nach einem holprigen Auftakt umso lebendiger durchstartet und den Leser immer wieder mit seiner innovativen Handlung und dem Durchbrechen von Klischees überrascht. Am Ende fällt es unerwartet schwer, sich von den rehabilitierten Helden zu verabschieden: Eine gute Voraussetzung für weitere Abenteuer mit der Truppe von Jackson Lamb, die mit der deutschen Übersetzung von Dead Lions bereits vorliegt.

Titelbild

Mick Herron: Slow Horses. Ein Fall für Jackson Lamb.
Übersetzt aus dem Englischen von Stefanie Schäfer.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
472 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070187

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