Vorbereitung auf die Klima-Apokalypse

In „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ fordert Jonathan Franzen ein Umdenken im Klimadiskurs ein

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor einem halben Jahr wurde Jonathan Franzen in einem Interview für die Literarische Welt gefragt, warum der Klimawandel erst heute, fast 60 Jahre nach Rachel Carsons Der stumme Frühling, wieder in aller Munde sei. Franzen erwiderte, das Klima sei zwar in aller Munde, Europa aber deshalb noch lange nicht umweltbewusst geworden. Was Franzen damit meint, konnten Leser*innen des New Yorker bereits 2015 erfahren, als Franzen sich mit dem Essay Climate Change vs. Conservation in die Klimadebatte einmischte. Sein Anliegen damals: Weniger Klimaschutz auf Kosten von Artenschutz.

Seinen Aufruf rechtfertigte Franzen mit der umstrittenen These, dass die Weltgemeinschaft im Kampf gegen den Klimawandel versagt habe. Diese Behauptung hatte ihm harsche Kritik von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen eingebracht, die ihn in eine Ecke mit Leugnern des Klimawandels stellten und als Prediger der Apokalypse verspotteten. Der Aufschrei war so groß, dass Franzen mit einem 2017 im Guardian veröffentlichten Text versuchte, die Wogen wieder zu glätten. Franzen glaubte, sich bei seiner ersten Wortmeldung im Ton vergriffen zu haben. 

Naturgemäß fragt man sich, was Franzen 2019, weitere zwei Jahre später, dazu veranlasst hat, einen dritten Essay zu der Thematik zu verfassen. Der Titel, Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?, verrät bereits, dass Franzen nicht von seinem Standpunkt abgerückt ist. Alarmiert von der Geschwindigkeit, mit der sich der Klimawandel inzwischen vollziehe, hat er in dem bündigen Text seine Gedanken noch einmal zusammengefasst. So beschreibt Franzen die Entstehung des Essays im Vorwort des gleichnamigen Bandes, in dem er jetzt zusammen mit dem erwähnten Interview in deutscher Sprache erschienen ist. 

Wer wie Franzen behauptet, dass die Klimakatastrophe nicht mehr abzuwenden sei, muss erklären, mit welchem Grund er an den Prognosen renommierter Wissenschaftler*innen und Institutionen zweifelt, die etwas anderes sagen. Bei Franzen hört sich das so an: „Als Nichtwissenschaftler führe ich meine eigenen Modellversuche durch. Ich speise diverse Zukunftsszenarien in mein Gehirn ein, bedenke dabei die Grenzen der menschlichen Psyche und der politischen Wirklichkeit […].“ Zum einen stellt Franzen fest, dass in den letzten Jahrzehnten nichts passiert sei, um die immer wieder korrigierten Klimaziele zu erreichen. Zum anderen, und das ist der entscheidende Befund, glaubt er überhaupt nicht an die Möglichkeit eines globalen Umdenkens, weil es nicht in der Natur des Menschen liege, sein Verhalten zu ändern, solange er nicht unmittelbar von dessen Folgen bedroht ist. 

Dann sind auch komplexe wissenschaftliche Berechnungen hinfällig. Franzen widerspricht dem Weltklimarat und den Klimaforscher*innen also hierin nicht, er hält es nur für unrealistisch, dass ihre Forderungen umgesetzt werden. In seiner Argumentation geht Franzen dabei immer auch auf Beispiele ein, die aber selbstverständlich nicht die Beweiskraft wissenschaftlicher Modelle und Kalkulationen haben. Bedauerlich ist, dass die vereinzelten Studien und Artikel, auf die er sich beruft, nicht namentlich genannt werden. Um seinen Quellen nachzugehen, muss man die Onlineversion des englischen Originals hinzuziehen, wo auf die genannten Publikationen verlinkt wird. Was Franzens Kommentar auszeichnet, ist also das, was man von einem Essay auch erwartet: subjektive, weiterführende Überlegungen zu einem aktuellen Thema. 

Trotzdem hat Franzen in den USA auch für diesen neuerlichen Versuch starken Gegenwind zu spüren bekommen. Obwohl er die Kalkulationen des Weltklimarats als theoretische Möglichkeit anerkennt, werfen ihm gerade Klimaforscher*innen wieder Unwissenschaftlichkeit vor. Das ist nicht ganz unberechtigt, denn in einem entscheidenden Punkt stützt Franzen sich doch auf eine wissenschaftliche Hypothese: Wenn die Ziele des Weltklimarats nicht erreicht werden können, bedeutet das für ihn im Umkehrschluss, dass es zur Klimakatastrophe kommen wird. Die Zwei-Grad-Marke (zwei Grad Celsius Erderwärmung gegenüber den Temperaturen vor der Industrialisierung) versteht er dabei als Point of no Return, als Schwellenwert, nach dessen Überschreiten das Klima kollabiert. In Wahrheit handelt es sich bei dem Zwei-Grad-Wert aber nur um ein gesetztes Ziel. Auch bei drei Grad Erderwärmung würde es sich weiterhin lohnen, den Klimawandel zu bekämpfen. Diese Fehlinterpretation wurde Franzen von vielen Seiten angekreidet. Klimaaktivist*innen sahen in seinem Essay einen Bärendienst an ihrer Sache, fürchteten, dass er die Akzeptanz der Klimapolitik in der Gesellschaft noch verringern könnte. 

Eine ebenso große Vereinfachung wäre es allerdings, Franzens Thesen deshalb ganz zu verwerfen. Der Kampf gegen den Klimawandel wäre zwar bei zwei Grad Erderwärmung nicht verloren. Aber dass die Folgen verheerend wären, geht schon aus dem Sonderbericht des Weltklimarats von 2018 hervor, in dem das ausgerufene Ziel auf eineinhalb Grad korrigiert wird. Schlagwortartig führt Franzen die zivilisatorischen Folgen vor Augen: Erderwärmung – Dürre – Überschwemmung – Flüchtlingskrisen – politische Unruhen. Zu erkennen, dass diese Bedrohungen direkte Folgen des Klimawandels sein werden, und sich für sie zu wappnen, hält Franzen für das Gebot der Stunde. Damit kämpft er nicht so sehr gegen die Leugner des Klimawandels an, sondern (genauso entschieden) gegen Klimaaktivist*innen und die Agenda der Medien. Er will Aufmerksamkeit für das schaffen, was in der Öffentlichkeit ausgeblendet wird, weil mit dem Klimawandel ein verwandtes Thema allen Raum einnimmt.

Es geht ihm also um eine Kurskorrektur des Umweltaktivismus, der sich seiner Meinung nach einem unerreichbaren Ziel verschrieben hat. Hierbei denkt Franzen, der leidenschaftlicher Vogelbeobachter ist, nicht mehr nur an Artenschutz wie in seinem ersten Essay. Sein Text ist auch ein Aufruf zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und ein Plädoyer für starke Demokratien. Hier wie dort bleibt Franzen dabei Realist: 

Tun wir weiter das Richtige für den Planeten, ja, aber versuchen wir auch zu retten, was uns ganz speziell am Herzen liegt – eine Gemeinschaft, eine Institution, ein Stück Natur, eine bedrohte Tierart , und schöpfen wir Kraft aus unseren kleinen Erfolgen.

Das klingt in der deutschen Übersetzung ein bisschen pathetisch. Die Idee aber, Klimaschutz ganzheitlich und pragmatisch zu denken, ist angesichts der Vielzahl gesellschaftlicher Probleme, denen die Menschheit sich im 21. Jahrhundert gegenübersieht, sicherlich sinnvoll. Klimaschutz hält Franzen übrigens trotzdem für wichtig, selbst wenn damit eine humanitäre Katastrophe nur hinausgezögert werden kann. Damit verlangt er seinen Leser*innen viel ab. Sie sollen einsehen, dass die Klima-Apokalypse unvermeidlich ist, und sich trotzdem oder erst recht den Willen bewahren, etwas gegen sie zu unternehmen. 

Das Interview, das in dem kompakten Buch etwa gleich viel Raum einnimmt wie der Essay, enthält im Wesentlichen dieselben Gedanken wie dieser. Hier formuliert Franzen seine Thesen allerdings noch prägnanter und schnörkelloser, wodurch sein Anliegen einen besseren Ausdruck findet. Angenehm ist auch, wie selbstreflektiert Franzen im Gespräch mit Wieland Freund ist. Gefragt, wie die Weltgemeinschaft mit den drastischen Folgen der Erderwärmung umgehen solle, erklärt er: „Ich bin sehr für Entschädigungszahlungen, aber ich kann es mir auch leisten.“ Ob solche Äußerungen seine Kritiker versöhnen könnten, die dem New Yorker vorwerfen, nur wohlhabende, weiße Männer über den Klimawandel zu Wort kommen zu lassen, darf man bezweifeln. 

Das Buch stellt sicherlich keinen Überblick über die Faktenlage zum Klimawandel dar – und will das auch gar nicht sein. Worum es Franzen geht, ist die Zusammenfassung seiner drängendsten Gedanken zum Klimawandel. Wer mit seinen Thesen nicht vertraut ist, wird darin interessante Denkanstöße finden. Zu bedauern ist nur die Kürze des Buches. Auf den 64 kleinformatigen Seiten ist nach Titel und Inhaltsverzeichnis gerade genug Platz für die wichtigsten Argumente Franzens.

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Jonathan Franzen: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können.
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
64 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783644007871

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