Die Politisierung der Gegenwartsliteratur

Vorbemerkungen zur Februar-Ausgabe 2020

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke im Herbst vergangenen Jahres löste eine immense Debatte über die Rolle des Schriftstellers im gesellschaftlichen und politischen Diskurs aus. Handke als Nobelpreisträger polarisierte, vor allem aufgrund seiner fragwürdigen Aussagen im Zusammenhang mit dem Jugoslawien-Krieg, was die altbekannte Frage aufwarf, ob die politische Meinung eines Schriftstellers relevant für die Beurteilung seines Werks sein muss, zumal wenn dieses in großen Teilen frei von dieser zu sein scheint. Vor allem aber warf die Debatte im deutschsprachigen Raum eine ganz andere Frage auf, nämlich die nach dem Verbleib des engagierten Schriftstellers. In den Medien wurde öffentlichkeitswirksam die Frage gestellt, wo sie denn seien, die neuen Bölls und Grass, oder ob die Spezies der sich stetig ‚einmischenden‘ AutorInnen in einer immer kleinteiligeren, auf individuelle Nöte zugeschnittenen Gesellschaft endgültig ausgestorben sei.

Natürlich ist diese Fragestellung zu kurzgefasst, denn die Frage nach dem Verbleib des engagierten Schriftstellers kann nur unter Einbezug der Komplexität zeitgenössischer Gesellschaftsstrukturen beantwortet werden. Die Literatur spielt beispielsweise im öffentlichen Bewusstsein längst nicht mehr eine so große Rolle, wie sie dies etwa in den zudem noch politisch bewegteren 60er und 70er Jahren tat. Auch ist die Halbwertszeit von Meldungen so klein geworden, dass ein Politskandal den nächsten jagt, sodass auch ein ‚public intellectual‘ schnell den Überblick verlieren kann – man schaue sich nur einmal die Berichterstattung zu Donald Trumps Präsidentschaft in den US-Medien an.

In dieser Ausgabe wollen wir versuchen, der Frage nach der Politisierung der Gegenwartsliteratur nachzugehen. Wir schauen dabei in einer Nachlese nicht nur auf die Debatte um den Literaturnobelpreis an Peter Handke, sondern beschäftigen uns mit dem aufgrund seiner politischen Äußerungen immer umstritteneren Erfolgsautor Uwe Tellkamp, dem Aufkommen eines neuen Feminismus in der Literatur des immer noch vom Machismo geprägten Lateinamerika und nicht zuletzt mit lyrischen Literaturformen in den Sozialen Medien, die vielleicht eine neue Form unmittelbar reagierender politischer Lyrik darstellen könnten.

Mittlerweile liegt der Umzug der Redaktionszentrale von literaturkritik.de von Marburg nach Mainz einige Wochen zurück; das Februar-Heft ist demnach das erste, das, zumindest in großen Teilen, in Mainz produziert wurde. Wir freuen uns sehr, diese große und anspruchsvolle Aufgabe übernehmen zu dürfen, und hoffen, dass wir literaturkritik.de weiterhin zu einem spannenden, anspruchsvollen und aufschlussreichen Publikationsorgan machen können, das viele Bereiche der Literatur, aber auch verwandter Disziplinen wie der Kulturwissenschaft, Medienwissenschaft, Politik oder Philosophie, mit abdeckt und immer wieder aktuelle Debatten aufgreift und kritisch reflektiert.

Für die Redaktion

Sascha Seiler