Hätte Handke den Nobelpreis erhalten dürfen?

Warum Literaturpreisdebatten zu keinem Ergebnis führen – ein Klärungsversuch

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

Immer wieder wird im Feuilleton über Autoren mit kontroversen politischen Ansichten gestritten, vor allem dann, wenn sie wichtige Literaturpreise erhalten. Das jüngste Beispiel ist die Debatte um die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Peter Handke. Die Positionen in diesen Auseinandersetzungen sind im Wesentlichen immer dieselben: Die einen sehen in der Trennung von Werk und Autor, Kunst und Politik, ein unzeitgemäßes und verantwortungsloses Kunstverständnis. Für die anderen stellt jede Frage nach der Person des Autors oder der Verantwortung der Kunst einen Angriff auf ihre Freiheit dar. Den Versuch einer Verständigung scheinen beide Lager längst aufgegeben zu haben – umso stärker sind viele Wortmeldungen von dem Wunsch geprägt, Recht zu behalten.

Nachdem man die Handke-Diskussion einige Wochen lang in den deutschen und österreichischen Zeitungen verfolgt hatte, konnte man auch von außen den Eindruck gewinnen, dass eine Lösung des Konflikts gar nicht möglich ist. Denn einen Roman gut zu finden oder die Ansichten und das Handeln seines Autors, ist ja wirklich zweierlei. Und trotzdem behagt die Vorstellung nicht, einen Künstler, der unverhandelbare gesellschaftliche Werte in Frage stellt, mit Banketten und Medaillen zu ehren.

Für die Schwedische Akademie war Handkes sprachliche Genialität ausschlaggebend

Die Schwedische Akademie hat Handke „für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlicher Genialität die Peripherie und die Spezifizität der menschlichen Erfahrung untersucht“, ausgezeichnet. So heißt es in der Begründung der Jury. Von der Person des Autors ist nicht die Rede, eigentlich nicht mal von den Inhalten seiner Texte. Es geht eher um ihren Gehalt, um das, was erst im Zusammenspiel von Inhalt und Form in ihnen entsteht.

Die Begründung bezieht sich also weniger auf den Gegenstand von Handkes literarischen ‚Untersuchungen‘ als auf deren Ergebnis. Äußerungen zum Genozid in Srebrenica, über die Medien oder zur Gewalt gegenüber seiner ehemaligen Lebenspartnerin spielten bei der Bewertung seines Werks offenbar keine Rolle. Und auch die Texte, in denen Handke die Geschichte der Jugoslawienkriege umdeutet, scheinen für die Schwedische Akademie nicht ausschlaggebend gewesen zu sein.

Es entsteht der Verdacht, das Nobelpreis-Komitee hinge einer überholten Vorstellung von Kunst nach, irgendwo zwischen Kant und Goethe, Genie und dem Allgemein-Menschlichen, wo nur sprachliche Genialität und menschliche Erfahrung zählen. In Literaturstreits wird meist auch diese Grundsatzdebatte über das richtige Verständnis von Literatur ausgetragen. Den Handke-Verteidigern wirft man vor, sich unter Berufung auf eine unzeitgemäße Ästhetik aus der Affäre zu ziehen.

So klingt es auch bei Handke selbst: „Ich bin ein Schriftsteller, ich komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes. Lasst mich in Frieden und stellt mir nicht solche Fragen.“ ‚Solche Fragen‘, nach der Person des Schriftstellers, nach seinen Ansichten, scheinen bei einem Autor von historischer Bedeutung wie Homer oder Cervantes zweitrangig zu werden. Handke hätte statt Tolstoi auch Dostojewski sagen können; selbst dessen offener Antisemitismus hat der Kanonisierung seiner Texte nicht im Weg gestanden. Rebecka Kärde, die als Jurorin über die Auszeichnung Handkes mitentschieden hat, hält diese Trennung von Werk und Autor, Kunst und Politik für richtig: „Indem wir Handke den Preis verleihen, machen wir geltend, dass die Aufgabe der Literatur eine andere ist, als zu bestätigen und reproduzieren, was der Hauptstrom der Gesellschaft für moralisch richtig betrachtet.“

Das klingt nach l’art pour l’art, nach einer Argumentation, die vielen heute weltfremd, zynisch und ignorant erscheint. Freiheit der Kunst bedeutet ihr zufolge Unabhängigkeit von jeglicher gesellschaftlicher Verantwortung. Literatur darf dann als reine Sprachkunst auch amoralisch sein, solange sie nur ästhetisch wertvoll ist. Gegen dieses Verständnis wendet sich Marie Schmidt, die in der SZ eine falsche Auslegung von Kants Autonomieästhetik moniert: „Die Vorstellung, dass an Literatur nur die sprachliche Schönheit von Belang sei, ist eine missverstandene Schrumpfversion von Immanuel Kants Idee des ‚interesselosen Wohlgefallens‘ als Modus ästhetischer Urteile.“

Damit hat sie natürlich recht, schließlich denkt Kant das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten. Aber auch in der Kritik der Urteilskraft stehen nicht die moralischen oder politischen Absichten des Künstlergenies im Mittelpunkt. Maßgeblich ist die ästhetische Idee, die sich aus dem Kunstwerk speist und ihren Wert gerade darin hat, über die Eindeutigkeiten der Verstandeserkenntnis, also auch über die des politischen Diskurses, hinauszuweisen.

Kants Kritik und die Begründung der Nobelpreis-Jury verbindet ein Interesse am Literarischen an sich. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass literarische Texte ihren Sinn nicht einfach als Botschaft aussprechen wie Sachtexte, sondern auf andere Weise artikulieren: Erst aus dem sprachlich-formalen Umgang mit ihren Inhalten entwickeln sie das Potenzial, sich über die Schranken der Alltagssprache hinwegzusetzen, um zur „Peripherie“ und „Spezifizität der menschlichen Erfahrung“ vorzudringen, von denen in der Begründung die Rede ist.

Kritik, die bereits an diesem formalistischen Literaturbegriff Anstoß nimmt, greift zu kurz. Von der Freiheit der Kunst zu sprechen, heißt nicht, politischer, engagierter Literatur ihren Kunstcharakter abzusprechen. Sprache und Form führen nicht zwangsweise in den Elfenbeinturm weltentrückter, selbstgefälliger Poesie. Gerade in ihnen liegt die politische Sprengkraft literarischer Texte. Denn auch Subversion ist das Ergebnis eines literarischen Prozesses, in dem durch sprachliche Verfahren und Strukturierungen Konventionen aufgebrochen und Vorurteile dekonstruiert werden.

Oder in den Worten Nora Bossongs: „Wer meint, dass poetologische Fragen im Angesicht von Kriegsverbrechen nicht zählen, übersieht, dass mit ihnen verhandelt wird, ob Deutungshegemonien in der Gegenwart nur noch politisch und ökonomisch zu denken sind oder ob es noch andere Formen des Weltverstehens gibt.“ Angesichts dessen ist es verständlich, wenn Literaturkritiker in Debatten um Literaturpreise eine Besinnung auf das Literarische einfordern.

Für große Empörung hat in diesem Zusammenhang Denis Scheck gesorgt, der die Auszeichnung Handkes eine „krachende Ohrfeige“ für die politische Korrektheit nannte. Mit der metaphorischen Ohrfeige meint er die Zurechtweisung all jener, die Kunst nicht ausschließlich ästhetisch beurteilen. „Das ist das Tolle an dieser Auszeichnung. Man kann ein großer Künstler sein und politisch in die Irre gehen, sich vergaloppieren, wie wir alle. Das schadet aber der Kunst nicht und das muss man einsehen“, behauptet er im ZDF. Lassen sich die Einwände der Handke-Kritiker wirklich so leicht abschmettern? Dass Scheck Handke mit Ohrfeigen gegen seine Kritiker verteidigt wissen will, ist bei vielen auf Unverständnis gestoßen – nicht nur wegen dessen persönlicher Entgleisungen, sondern auch aufgrund strittiger Stellen in seinen Büchern und Theaterstücken.

Kritisiert wurden auch Handkes Texte

So gelten Saša Stanišićs Vorbehalte Texten, „in denen Handke die Lüge oder die Verklärung der Wirklichkeit ins Erzählen bringt.“ Handke selbst wollte, wenig überraschend, auch solche Kritik an seinem Werk nicht auf sich sitzen lassen: „Kein Wort von dem, was ich über Jugoslawien gesagt habe, ist denunzierbar, kein einziges. Das ist Literatur.“ Würde man den Begriff des Literarischen allerdings so radikal fassen, wie Handke es hier zu tun scheint, zöge er zurecht allen Argwohn auf sich, der heute dem l’art-pour-l’art und einer missverstandenen Autonomieästhetik entgegenschlägt.

Zwar mag in Handkes Jugoslawien-Texten die Landschaftsbeschreibung, das Poetische den eigentlichen Reiz ausmachen. Ihr ästhetischer Anspruch schließt aber eine politische Lesart nicht aus. Schon allein weil der Bezug auf das reale (ehemalige) Jugoslawien in ihnen durch geographische Namen markiert ist. René Aguigah fragt deshalb im Deutschlandfunk, ob nicht „diese Texte aus den mittleren 90er-Jahren erst recht eine politische Dimension haben? Landschaftsbeschreibung aus Serbien.“

Stanišić ist dieser Ansicht. In seiner Dankesrede für den Deutschen Buchpreis erinnert er sich an sein Glück, „dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt“. Die poetische Freiheit Handkes, die serbischen Kriegsverbrechen in seinen romantisierenden Jugoslawien-Texten auszusparen und stattdessen „mit Sprache, mit Rhythmus Relationen zu setzen“ (Handke), wertet er als Verzerrung der Wirklichkeit und damit als politische Parteinahme ex negativo.

Insofern ist auch Schmidt beizupflichten, die festhält: „Dramaturgie, Sprache, Metaphern stehen immer in einem Verhältnis zu ihrer Umwelt: imitierend, idealisierend, verfremdend.“ Eine entsprechende politische Deutung muss aber, um nicht in interpretatorische Willkür auszuarten, auf Signale im Text und auf seinen inneren Zusammenhang bezogen bleiben. Wolfgang Müller-Funk bemängelt im Standard zurecht, in Handkes Werk werde „Serbien-Jugoslawien literarisch zu einer zweiten, wahren Heimat verdichtet, die es gegen den bösen Westen und vor allem gegen die Moderne mit allen Mitteln zu verteidigen gilt.“ Konsequent verzichtet Müller-Funk aber darauf, poetische Verdichtungen im Kontext politischer Ereignisse zu lesen, die nicht im Horizont dieser Texte liegen.

Schmidt dagegen lehnt auch diese Differenzierung ab. Sie ist der Auffassung, dass Literatur überhaupt nur verstanden werden könne, wenn man den Zeitkontext berücksichtigt: „An einem Beispiel aus der Literaturgeschichte: Was an der deutschen Klassik so aufregend war, kann man kaum erklären, wenn man sie nicht auch als identitätspolitisches Projekt versteht.“ Es steht außer Frage, dass Handkes ästhetisierende Texte fragwürdig werden, wenn man sie vor dem Hintergrund serbischer Kriegsverbrechen liest.

„Aber die zweite Frage, die sich anschließt, ist, soll man das politisch lesen, ist es überhaupt so angelegt, dass man es politisch lesen soll“, wie Helmut Böttiger im Deutschlandfunk zu bedenken gibt. Entscheidend ist, ob sich der Text durch die politische Deutung umfassend erschließen lässt. Ob das bei Texten Handkes, in denen das vermeintlich Politische im Verschweigen liegt, der Fall ist, lässt sich nicht ohne Weiteres entscheiden. In Texten wie Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien dagegen werden politische Ereignisse eindeutig zum Thema:

Wie sollte, war gleich mein Gedanke gewesen, das nur wieder gut ausgehen, wieder so eine eigenmächtige Staatserhebung durch ein einzelnes Volk – wenn die serbokroatisch sprechenden, serbischstämmigen Muselmanen Bosniens denn nun ein Volk sein sollten – auf einem Gebiet, wo noch zwei andere Völker ihr Recht, und das gleiche Recht!, hatten […].[1]

Dass Handke Bosniaken „Muselmanen“ nennt, steht hier in einem eindeutigen zeitgeschichtlichen Kontext und hat einen unüberhörbar rassistischen Ton. Auch die poetischen Verfahren sind in Handkes Reisebericht nicht mehr unschuldig, sondern verwoben in eine politische Argumentation. In einem Text, der diskursiv an der Umdeutung historischer Fakten arbeitet,[2] müssen die betont unpolitische Verklärung alltäglicher Details, Landschaftsbeschreibungen und das Schwelgen in der Vergangenheit politisch gelesen werden. An den berühmten „andersgelben Nudelnestern“[3] auf einem serbischen Markt, über die der Erzähler der Winterlichen Reise ins Schwärmen gerät, kann man daher nicht nur aus Geschmacksgründen Anstoß nehmen. Hier kommen solche Ästhetisierungen wirklich einem Affront gegenüber den Opfern des Genozids und ihren Angehörigen gleich.

Kontrovers wurde angesichts dieser immanenten Kritik auch darüber diskutiert, wie problematische Texte bei der Bewertung des Gesamtwerks eines Autors gewichtet werden sollten. Jagoda Marinić fragt in der taz: „Sollen wir ab jetzt hochrechen, ab wie viel Prozent Geschichtsleugnung im Werk ein [sic!] Autors so ein Nobelpreis noch in Ordnung geht?“ Wenn es um die Verharmlosung oder Verleugnung eines Völkermordes geht, so die These, können einige wenige Texte einen Schatten über das gesamte Werk eines Autors werfen.

Autoren müssen jedoch keinen Vertrauensvorschuss rechtfertigen wie Politiker, die für mehrjährige Amtszeiten gewählt werden. Sie sind jederzeit dem Votum der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Daher spricht nichts dagegen, jeden ihrer Texte für sich zu betrachten. Der Wert, den man einem beimisst, verringert sich nicht durch die Lektüre eines anderen.

Man kann noch weitergehen und die Gegenfrage stellen, ob schwache oder fragwürdige Texte eines Autors überhaupt ins Gewicht fallen, wenn es um die Prämierung der größten Leistungen auf dem Gebiet des Literarischen geht. Bei der Begründung der Nobelpreisvergabe 1929 an Thomas Mann „vornehmlich für seinen großen Roman ‚Buddenbrooks‘“ führte die Nobelpreis-Jury einen einzigen Text als preiswürdiges literarisches Verdienst an.[4] Das ist auch deshalb konsequent, weil durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Texte im Œuvre eines Autors in der Rezeption dasselbe Schicksal ereilt. Sie werden verrissen und geraten mit der Zeit in Vergessenheit. Kanonisiert werden diejenigen Texte, denen Kritiker, Wissenschaftler und Leser einen besonderen Wert zuschreiben – und dabei können die Qualität des Gesamtwerks und die moralische Gesinnung des Autors völlig unberücksichtigt bleiben.

Helmut Böttiger resümiert daher zu Handke: „Das ist ein prägender Autor der letzten Jahrzehnte, der hat die deutsche jüngere Literaturgeschichte an vielen entscheidenden Stellen mitgeprägt, und der hat durch sein Gesamtwerk diesen Preis auf jeden Fall verdient.“ Solange man den Literatur-Nobelpreis als Literaturpreis versteht, muss man im Sinne der Sachlichkeit diese Beschränkung auf das literarisch Wertvolle akzeptieren, so zynisch eine solche „Mülltrennung“ (Margarete Stokowski) im Fall Handke wirken mag.

Kann man Werk und Autor trennen?

Neben solcher Kritik an Handkes Texten drehte sich die Debatte aber vor allem um die Frage, ob seine persönlichen Ansichten und sein Handeln bei der Jury-Entscheidung berücksichtigt werden sollten. Schmidt bestreitet nicht nur, dass es unsachgemäß wäre, die Person des Autors in die Bewertung seines Werks einzubeziehen. Sie dreht den Spieß sogar um: „Unsachgemäß wäre aber in Wahrheit genau eine solche Trennung von sprachlicher Gestalt und ideellem Kontext eines Werks.“ Unter dem ideellen Kontext versteht sie nicht nur Bedeutungsaspekte der Texte, sondern auch „die Haltung oder Herkunft […] der Autoren.“

Verfechter dieses Standpunkts sehen sich wie Marinić in der Satzung der Schwedischen Akademie bestätigt: „Es geht darum, ob sein Werk als Ganzes den Nobelpreis verdient. Der Nobelpreis wird laut Satzung jenen zuteil ‚die […] der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben‘.“ Es ist unstrittig, dass in der Satzung moralische Ansprüche an die auszuzeichnenden Werke gestellt werden. Viele berufen sich allerdings auf das Testament Alfred Nobels, um nachzuweisen, dass „es sich bei der seit 1901 vergebenen Auszeichnung eben nicht um eine rein literarische Ehrung“ handelt, wie Michael Martens insistiert. Das Argument lautet, es sei nun mal der Wille des Preisstifters gewesen, dass Werk und Autor zusammen beurteilt werden. Dann müssen bei der Jury-Entscheidung neben Handkes literarischen Texten auch die Grabrede auf Milošević, Äußerungen in Interviews und das Treffen mit dem schon damals wegen Völkermords angeklagten Karadžić berücksichtigt werden.

Liest man die Worte Nobels indes einmal aufmerksam, stellt man fest, dass dort mit dem menschlichen Nutzen etwas anderes gemeint ist: Die Prämierung soll dem zuteilwerden, „der in der Literatur das Ausgezeichnetste in idealer Richtung hervorgebracht hat“ – in der Literatur, nicht im öffentlichen Wirken. So vergab die Schwedische Akademie den Preis beispielsweise 1991 an Nadine Gordimer, weil diese „durch ihr großartiges episches Schreiben [!] – in den Worten Alfred Nobels – der Menschheit große Dienste erwiesen“ habe.

Man kann einwenden, dass hier Reden und Handeln auseinanderklaffen, dass die Akademie in der Praxis sehr wohl auf die politische Linie ihrer Preisträger achtet. So merkt Andreas Breitenstein in der Neuen Züricher Zeitung mit Blick auf das Testament Nobels an: „Es ist hier eine Verrenkung von Ethik und Ästhetik angelegt, aus der sich die teilweise bizarre Zusammensetzung der Preisträgerliste erklärt. Gesinnung zählte oft mehr als Qualität, es gab und gibt eine offene Flanke gegen Weltverbesserungsideologie und Political Correctness.“ Breitenstein nennt Grass, Jelinek und Pinter. Vor dem Hintergrund dieser Preisverleihungspolitik werden die Vorbehalte vieler gegenüber der Auszeichnung Handkes verständlich, der auf diese Weise mit moralischen Vorbildfiguren in eine Reihe gestellt wird. Ob man das gutheißt, ist dann eine politische Frage.

Grundsätzlich hat Kai Köhler recht, wenn er im Neuen Deutschland Handkes kritischen Impetus verteidigt: „Handke versucht also, was Standard sein sollte: Nachrichten aus Kriegsgebieten auf ihre Plausibilität zu prüfen.“ Nur darf solche Skepsis nicht in Wahrheitsfeindlichkeit umschlagen, in einen Skeptizismus, mit dem man nach Belieben Fakten als ‚fake news‘ verleugnen kann. Differenzierter ist da Bossongs Urteil über Handke. Ihrer Meinung nach stellen seine Texte „Fragen im Abseits unserer mutmaßlichen Sicherheiten, und die sind heute so wichtig wie je. Es bewahrt nur nicht automatisch davor, auch dort fehlzugehen.“

Sich in der Diskussion um den richtigen Umgang mit kontroversen Autoren auf die Preisverleihungspolitik der Schwedischen Akademie zu berufen, ist letztlich müßig, denn die Richtung der Argumentation ist falsch. Über die Richtigkeit des einen oder des anderen Literaturverständnisses kann nicht anhand des Willens Alfred Nobels entschieden werden. Eher wäre umgekehrt die Trennung von Werk und Autor zu verteidigen gegen Tendenzen, literarische Qualität am Betragen eines Autors festzumachen.

Christoph Schröder bringt in der Zeit auf den Punkt, worum es in der Debatte eigentlich geht: „Die grundsätzliche Frage“ im Fall Handke sei, „ob seine politischen Äußerungen oder, allgemeiner gesagt, seine persönlichen Verfehlungen literarisch entwertend wirken oder nicht.“ Während Schröder eine Antwort schuldig bleibt, versucht Stokowski, mit einem Vergleich zu zeigen, dass es eine solche Entwertung von außen tatsächlich gibt:

Würden Leute, die da auf einer strikten Trennung von Werk und Künstler bestehen, sich auch ein Landschaftsgemälde von Hitler an die Wand hängen, wenn es ein richtig gutes Bild wäre? Und wenn nicht: Nur aus Angst vor Ächtung­ – oder doch aus einer inneren Überzeugung, dass die eigenen ästhetischen Bedürfnisse nicht in jedem Fall der einzig gültige Maßstab für die Bewertung von Kunst sein können?

Stokowski suggeriert: Der Maßstab für die Bewertung von Kunst ist nicht allein das Kunstwerk, sondern auch der Künstler. Kaum jemand würde sich wohl ein Gemälde von Hitler ins Wohnzimmer hängen. Aber stellt diese Entscheidung wirklich eine Bewertung von Kunst dar? Würde das Urteil in dem beschriebenen Szenario nicht nach wie vor lauten, dass es sich um ein „richtig gutes Bild“ handelt? Die Überzeugung, dass man sich kein Gemälde Hitlers an die Wand hängen darf, ist offenbar ein Maßstab für den Umgang mit Kunst, nicht für ihre Bewertung.

Das Hitler-Beispiel zeigt aber, dass es im öffentlichen Gespräch über Kunst nicht nur darum geht, richtig zu werten. Denn wir nehmen Auszeichnungen literarischer Werke automatisch auch als Ehrungen ihrer Schöpfer wahr. Marinić weist auf diesen unleugbaren Zusammenhang hin: „Handke wird diesen Nobelpreis entgegennehmen. Da nur lebende Autorinnen und Autoren ihn erhalten, wird er auch als Person geehrt.“

Das ist das einzig triftige Argument gegen die Trennung von Werk und Autor: Die Öffentlichkeit, der Kulturbetrieb macht sie nicht. Wenn Handke auf der Bühne des Stockholmer Konzerthauses dem Schwedischen König die Hand schüttelt, steht er als Person im Rampenlicht. Die Auszeichnung für sein Schreiben erhebt ihn zum Repräsentanten. Auch politische und moralische Abweichung werden auf diese Weise legitimiert.

Beide Seiten sind im Unrecht

In der Handke-Debatte sind damit beide Seiten im Unrecht. Die Person des Autors in literarische Wertungen einzubeziehen, ist unsachgemäß – bei der Vergabe von Literaturpreisen nur auf das Ästhetische zu achten, verantwortungslos. Dem Streit liegt ein Dilemma zwischen Literaturtheorie und Kulturpraxis zugrunde, das in den meisten Diskussionsbeiträgen nicht thematisiert wird.

Das heißt zunächst: Wer sich öffentlich über die literarische Qualität eines Textes äußert, sollte sich der gesellschaftlichen Tragweite seiner Worte bewusst sein. Und wer über einen Autor oder eine Autorin urteilt, darf berechtigte Kritik an der Person nicht als Kritik am Werk verkaufen. Im Fall Handke ist letztlich Marie Schmidt und Thomas Urban zuzustimmen, die in der SZ resümieren: „Dieser Preis hat immer politische Wirkung, auch, was niemanden überraschen sollte, im Jahr 2019.“ Denkverbote sind in der Kunst genauso problematisch wie in anderen Bereichen der Gesellschaft. Aber über ein Kunstwerk nachzudenken, es ästhetisch zu beurteilen, ist etwas anderes, als einen Autor durch eine wichtige Auszeichnung öffentlich zu honorieren.

So kann man zu dem Schluss kommen, dass Handke den Literatur-Nobelpreis nicht hätte erhalten dürfen. Mit der Prämierung wurde er auch als Mensch gewürdigt und zu einem moralischen Vorbild erhoben, das er nicht ist. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass die Trennung von Autor und Werk an sich falsch wäre. So wichtig es ist, die öffentliche Wirkung von Literaturpreisverleihungen zu bedenken – die Vermischung von Werk und Autor gefährdet die eigentliche Funktion literarischer Wertungen, die öffentliche Verständigung über gelungene Literatur.

Das Dilemma zwischen Eigengesetzlichkeit der Literatur und gesellschaftlicher Verantwortung des Literaturbetriebs lässt sich unmöglich ganz auflösen. Die Schwedische Akademie könnte aber, wo sie sich bisher in ihren Begründungen streitbarer Entscheidungen unerbittlich auf literarische Kriterien berufen hat, Kontroversen um Preisträger offen ansprechen. Auf diese Weise würde sie die Entscheidung für ihre Prämierung explizit als ästhetisches Urteil von berechtigter Kritik an der Person abgrenzen. Damit käme sie ihrer faktischen gesellschaftlichen Verantwortung nach und würde gleichzeitig einen sachgemäßen Umgang mit Kunst in einer Zeit zunehmender Politisierung der Kultur vorleben.

 

[1] Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. In: Ders.: Peter Handke Bibliothek. Zweite Abteilung. Bd. 11: Aufsätze 2. Berlin 2018. S. 27-114, hier S. 48.

[2] Ein Beispiel: „Wie verhält sich das wirklich mit jenem Gewalttraum von ‚Groß-Serbien‘? Hätten die Machthaber in Serbien, falls sie den in der Tat träumten, es nicht in der Hand gehabt, in der rechten wie in der linken, ihn kinderleicht ins Werk zu setzen? Oder ist es nicht auch möglich, dass da Legendensandkörner, ein paar unter den unzähligen, wie sie in zerfallenden Reichen, nicht nur balkanischen, durcheinander stieben, in unseren ausländischen Dunkelkammern vergrößert wurden zu Anstoßsteinen?“ Ebd., S. 54.

[3] Ebd., S. 69.

[4] Befremdlich wirkt die Begründung aus heutiger Sicht nur, weil die Akademie die Buddenbrooks und nicht den Zauberberg für den herausragenden Roman Thomas Manns hielt.