Die Einsamkeit des Menschen – Alfred Wolfenstein: Städter

Alfred Wolfenstein

Städter

Nah wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.

Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, wo die Blicke eng ausladen
Und Begierde ineinander ragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine,
Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle:

Und wie stumm in abgeschloßner Höhle
Unberührt und ungeschaut
Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.

Das Sonett Städter von Alfred Wolfenstein (1883-1945) ist das siebte Gedicht in der von Kurt Pinthus herausgegeben Anthologie Menschheitsdämmerung und gehört damit zum ersten Teil der Sammlung mit der Überschrift „Sturz und Schrei“. Es wurde bereits in Wolfensteins erstem Gedichtband Die gottlosen Jahre (1914) veröffentlicht. Robert Musil und Rainer Maria Rilke hatte den jungen Dichter an den S. Fischer Verlag vermittelt. Über Nacht wurde Wolfenstein damit zum Wortführer einer ganzen Generation, zum gefeierten Jungautor des Expressionismus. Bereits ab 1912 waren eigene literarische Texte in der literarischen und politischen Zeitschrift Die Aktion von Franz Pfemfert erschienen. In dem ebenfalls von Pfemfert herausgegeben Das Aktionsbuch (1917) war Wolfenstein dann mit einem Dutzend Gedichten unter der Überschrift Gedichte vor der neuen Welt vertreten.

Ein beliebtes Motiv der Expressionisten war die Großstadt mit ihrer räumlichen und seelischen Einengung. Ihr Anwachsen führte dazu, dass der Einzelne in der Uniformität des Stadtlebens verschwand. Diese Einsamkeit des Menschen in der Großstadt, die Anonymität in der Masse, thematisierte Wolfenstein in seinem Gedicht Städter. Während in der ersten Strophe zunächst die überfüllte Stadt mit ihren grauen Straßen und die zahllosen Fensterreihen beschrieben wird, sind es in der zweiten Strophe die Menschen, die dicht gedrängt in den Trams hocken. Unter den Stadtbewohnern machen sich Verunsicherung, Bedrückung und menschliche Kälte breit. Obwohl die Wohnungswände derart dünn sind, dass die Nachbarn alles mitbekommen, ist jeder trotz dieser nicht gewollten Nähe allein. Durch fassliche Begriffe wie Sieb, Fenster, Fassade, Tram oder Wände wird das Stadtleben, in dem kein Platz ist für Individuen mit Emotionen, versachlicht.

Der in Halle (Saale) am 28. Dezember 1883 geborene Alfred Wolfenstein studiert ab 1905 zunächst Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg, München und Halle und ist danach als Referent bei Gericht tätig. Sein Weg zur Literatur liegt weitgehend im Dunkeln. 1911 übersetzt er den Roman Fanny von Ernest Feydeau aus dem Französischen. Er kommt früh nach Berlin, wo erste eigene literarische Texte entstehen. 1916 siedelt er nach München über; hier hat er freundschaftliche Kontakte zu Ernst Toller, Johannes R. Becher und Rainer Maria Rilke. Neben Ernst Toller und Gustav Landauer wirkt er an der Münchner Räterepublik mit. In den 1920er Jahren wendet er sich von der Lyrik ab und versucht sich als Dramatiker mit Stücken ganz im expressionistischen Stil – mit mäßigem Erfolg; lediglich drei Stücke werden aufgeführt. Als Übersetzer ist er weiterhin tätig; für seine Rimbaud-Übersetzungen wird er mit dem ersten Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Als Carl von Ossietzky am 10. Mai 1932 seine Haft antreten muss, wird er von einigen Schriftstellerkollegen demonstrativ begleitet – darunter auch Wolfenstein. Als Jude gelingt ihm im März 1933 die Flucht nach Prag, wo er sich mit journalistischen Arbeiten über Wasser hält. Hier entsteht auch der Erzählband Gefährliche Engel (1936). Zwei Jahre später flüchtet Wolfenstein nach Paris, doch auch hier verschlechtert sich die Situation der Emigranten immer mehr. Als die Wehrmacht einmarschiert, sucht er Unterschlupf im Süden Frankreichs. Es folgt ein Leben in der Anonymität. Trotz der Bemühungen von Stefan Zweig, Franz Werfel und Thomas Mann gelingt es ihm nicht, nach Brasilien oder in die USA zu entkommen. Schwer krank und unter falschen Namen kehrte er im Februar 1944 nach Paris zurück. Obwohl im August die französische Hauptstadt von den Alliierten befreit wird, nimmt sich Wolfenstein am 22. Januar 1945 in einem Pariser Krankenhaus das Leben.

Manfred Orlick