Selbstfindungsprozess im Eiltempo

Marie Darrieussecq über das „Leben der Paula Modersohn-Becker“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marie Darrieussecq zählt zu den produktivsten französischsprachigen Autorinnen der Gegenwart – nicht ganz so proliferierend wie Amélie Nothomb, nicht so interkulturell unterwegs wie Marie NDyaie oder so ironisch-tiefgründig und feinsinnig wie Yasmina Reza. Dafür sind ihre Texte noch plurivalenter als die der gerade genannten, dies sowohl bezogen auf die Gesamtproduktion als auch auf den jeweiligen Text an sich. Ihr erster Roman, Truismes, 1996 im Original, 1997 auf Deutsch und in vielen weiteren Übersetzungen erschienen, bleibt umstritten, wird er doch einerseits mit Kafkas Verwandlung verglichen, andererseits als trivial etikettiert. Sein Titel, ein Wortspiel, kann mit dem deutschen Begriff Schweinereien nur zur Hälfte (la truie – die Sau; les truismes – Binsenwahrheiten) wiedergegeben werden. Nach vielen Publikationen und einem renommierten Preis (Prix Médicis, 2013)  widmet sich Marie Darrieussecq dem Leben der Paula Modersohn-Becker. Eine Künstlerin der Worte und eine Künstlerin der Farben treffen aufeinander, eine, die zu Beginn des neuen Jahrtausends ohne Unterlass schreibt, und eine, die zu Beginn eines neuen Jahrhunderts innerhalb von nur 14 Jahren 750 Gemälde anfertigte, dazu noch eine Vielzahl von Zeichnungen und Radierungen.

Hiersein ist herrlich folgt in fünf großen Kapiteln, den Akten einer Tragödie homolog, den wesentlichen Stationen der letzten sieben Lebensjahre der Paula Modersohn-Becker (1876-1907). Marie Darrieussecq beabsichtigt weder, das Leben der Malerin romanesk zu überformen, noch erhebt sie den Anspruch, so objektiv wie möglich vorzugehen. In dem „Künstlerinnenbuch“, wie es sehr treffend im Klappentext der deutschen Ausgabe steht, interagiert Marie Darrieussecq mit Briefen, Tagebuchtexten und den Gemälden von Paula Modersohn-Becker, heftet sich eng an die Fersen der Künstlerin, um das Geheimnis ihres Schaffens aufzuspüren und der Frage nachzugehen, was es heißt, sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert vom Erwartungsdruck der Umwelt zu emanzipieren.

Zuerst blickt Darrieussecq, die ab und an direkt in der ersten Person kommentiert, auf Worpswede, das „deutsche Barbizon […] in der Sülze des Tourismus“. Dort sei Paula zwar ewig jung, doch die beiden Figuren, Paula und ihr Mann Otto, die man am Fenster ihres Wohnhauses sehen könne, seien groteske Monstergestalten. Das biografische Panorama setzt mit Glockengeläut ein, denn Darrieussecq erinnert an eine Episode aus dem Leben der 24-jährigen Paula, die gemeinsam mit Clara Westhoff, spätere Ehefrau von Rainer Maria Rilke, an einem Sonntagabend im August auf den Worpsweder Kirchturm klettert und dort die Glocken zum Schwingen bringt. Kurz darauf bricht Paula zu ihrer ersten Reise nach Paris auf, wo sie an der Académie Colarossi und der École des Beaux-Arts sowohl Kunst- als auch Anatomiekurse besucht.

Im Jahre 1900 gewinnt sie den Wettbewerb der Académie. Sie schreibt an Otto Modersohn, dass er nach Paris kommen solle, dieser lehnt ab, ist aber dann doch zur Weltausstellung vor Ort. Er reist überstürzt wieder ab, nachdem seine Frau gestorben ist. Als Paula nach Worpswede zurückgekehrt ist, trifft sie dort Rilke, der sowohl ihr als auch ihrer Freundin Clara Westhoff mit großer Zuneigung begegnet. 1901 heiraten Paula und Otto Modersohn sowie Clara und Rainer Maria Rilke. Paulas Beziehung zu Rilke bleibt prägend, weil er der Einzige ist, der ein tiefergehendes Verständnis für ihre Kunst aufbringt.

Im Februar und März 1903 verbringt Paula erneut fünf Wochen in Paris, genießt danach in Worpswede ihre Freiheit und sagt, dass sie nur noch das Malen im Sinn habe. Zu dieser Zeit entstehen die Porträts, mit denen sie berühmt geworden ist – „Porträts von Frauen, ihren Schwestern oder Bäuerinnen. Von Männern, ihren Brüdern oder Bauern“ – so wie sie selbst schreibt. Im Sommer 1904 hält sie sich in Fischerhude auf, wo sie mit der Nudismus-Bewegung kokettiert. 1905 folgt eine dritte Reise nach Paris, wo sie ein Atelier bezieht. Ihrem Tagebuch vertraut sie im Februar 1906 an, dass sie Otto verlassen habe. „Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker. Ich bin Ich, und hoffe, es immer mehr zu werden“, so lautet ihre Devise. Sie trifft Auguste Rodin und Rilke, der als Sekretär für den Bildhauer arbeitet. Mit Rilke unternimmt sie an den Sonntagen Ausflüge.

Im Juni 1906 versucht Otto sie zur Rückkehr zu bewegen. Sie hingegen spricht sich zunächst für eine Trennung aus, im September allerdings schlägt ihre Meinung um., denn Stille für die Arbeit habe sie am meisten an der Seite Otto Modersohns. Also kehrt sie nach Worpswede zurück, bevor während der folgenden Schwangerschaft eine Reihe von Selbstporträts entstehen. Nach der schweren Geburt soll Paula 18 Tage lang strikte Bettruhe einhalten. Völlig überraschend stirbt sie unmittelbar nach dem ersten Aufstehen an einer Embolie. Rilke schreibt ein Requiem für sie.

Aus der Fülle an Literatur zu Paula Modersohn-Becker und aus der Menge an zeitgenössischen Dokumenten resultiert bei Marie Darrieussecq ein hybrider Text. Es würden sich Lücken offenbaren, wenn man die Tagebücher der einzelnen AkteurInnen übereinanderlege. „Und durch all diese Lücken hindurch schreibe ich nun meinerseits diese Geschichte auf, nicht das gelebte Leben der Paula M. Becker, sondern lediglich das, was ich davon wahrnehme, ein Jahrhundert später, eine Spur.“ Mit dieser Spur fokussiert Darrieussecq die Ausnahmegestalt der Künstlerin und parallel dazu die Nähe der Künstlerin zu ihr, der Schriftstellerin des beginnenden 21. Jahrhunderts. So entspinnt sich eine Dialogizität, die zum einen biografisch-direkt ist und sich darauf bezieht, wie Paula M. Becker mit den Personen in ihrem Umfeld interagiert. Zum anderen ist sie evokativ-indirekt und zu koppeln an das Nachzeichnen der Bilder mit Worten, was beim Lesen wiederum intensive Bilder hervorruft. Darrieussecq spielt mit den Leerstellen, liefert ihren Text einem Hin und Her von Präsenz und Absenz aus und stiftet Einheit durch den beherzten Zugriff auf ihr vielfältiges Material, das sie gerne auch assoziativ arrangiert. Vom Melken der Ziege im Herbst 1900 zu Paul Celans „Todesfuge“ zu kommen ist wohl der mutigste Sprung.

An vielen Stellen kommentiert die Autorin selbst. Immer wieder stößt man darüber hinaus auf kurze, parataktische Sätze voller Parallelismen und lexikalischen Redundanzen, ein Markenzeichen Darrieussecqs, das adäquat in den deutschen Text übertragen wurde. Eine Spur gewagter kann man behaupten, dass die Sätze wie Pinselstriche wirken, dass die dynamische Pinselführung bei Modersohn-Becker einer quasi kurzatmigen syntaktischen Dynamik bei Darrieussecq entspricht. Ohne dass viel Federlesens um mögliche Theorien gemacht werden würde, vernetzen sich die Künste im vorliegenden Künstlerinnenbuch quasi ganz nebenbei, denn nahezu automatisch integriert sich die Malerei in den Text über ebendieses Thema. In gewisser Weise imitiert Darrieussecq damit auch die Nähe Rilkes zu Paula Modersohn-Becker.

Marie Darrieussecq stellt ebenfalls die zentrale Frage nach der aktuellen Bedeutung der Bilder von Modersohn-Becker. Gleich am Anfang verweist sie auf die Spannung zwischen Kunst und Kommerz und die mit letzterem einhergehende Inflation, den Verlust der Aura durch die Omnipräsenz der technisch reproduzierten Bilder. Wichtiger als dieses ist nur die Gretchenfrage nach der spezifisch weiblichen Schaffenskraft im Besonderen und der Gender-Identität im Allgemeinen. Während Paula Modersohn-Becker sich selbst als Künstlerin konzipiert, sich als diese formt und ernst nimmt, bleibt ihr Umfeld widerständig. „Frauen haben keinen Nachnamen“, so Darrieussecq im Rückblick, denn sie müssen sich erfinden als Künstlerin, die nicht nur primär das Malen als Hobby pflegt, sondern damit vor allem ihren Lebensunterhalt verdienen möchte. Typisch weibliche Lebensentwürfe holen Modersohn-Becker ein, so etwa ein Kochkurs, den sie vor der Hochzeit belegen muss und an dessen eigentlichem Ende die Mutter sie ermahnt, das Ganze doch zu verlängern. Und obwohl Paula die Verbindung zu Otto Modersohn möchte, konstatiert sie schnell, dass ihr „eigenster innerster Mensch“ hungere. Den alten Konflikt zwischen Häuslichkeit einerseits und dem Bestreben, diesem Korsett zu entfliehen andererseits habe Paula gelöst, indem sie „mit dem Seil, an dem sie auch hätte aufgehängt werden können“, hüpfte, mit den „drei K, ‚Kirche, Kinder, Küche‘, die das deutsche Programm für Frauen darstellten“ jonglierte und dabei eine natürliche Körperlichkeit feierte – vor allem den lebenspendenden Körper der Frau. „La travaille, c’est mon bonheur“ – dieser grammatikalisch falsche Tagebucheintrag habe Paulas Lebensmotto ausgemacht. Und im Zuge ihrer Arbeit habe sie einfache Menschen aus ihrer Umgebung so abgebildet, dass ihr wahres, unverfälschtes Wesen zutage trete.

Paulas Darstellung nackter weiblicher Körper sei würdevoll, dabei sowohl jenseits von Lüsternheit und Begierde als auch abseits von Sanktifizierung angesiedelt. Dass Paula sich selbst nackt gemalt habe, sei ein Skandalon gewesen, dass sie dabei schwanger war erst recht. Bei Paula Modersohn-Becker – so bilanziert Marie Darrieussecq – „gebe es echte Frauen“. Diese hätten den „männlichen Blick abgestreift“; seien nicht „dem Begehren im Auge des Mannes ausgesetzt“, auch nicht seiner „Frustration, seiner Besitzlust, seiner Herrschsucht, seinem Verdruss“. Bei Paula gebe es „keine Rache. Keine Belehrung. Kein Urteil. Sie zeigt, was sie sieht.“

Der deutsche Text des „Künstlerinnenbuchs“ punktet nicht allein mit einer guten Übersetzung, sondern ihm ist des Weiteren zugute zu halten, dass die ins Französische übertragenen Zitate aus deutschen Quellen wieder im Original recherchiert wurden.

In der Hommage an Paula Modersohn-Becker ist eine Assimilation an die Art und Weise des Schaffens der Künstlerin zu spüren, eine Nähe der Autorin zur Malerin des frühen Expressionismus, die sich im französischen Original und in der Übersetzung intensiv vermittelt. Darrieussecq schlägt eine Bresche zwischen romaneske Subjektivität und expositorische Objektivität. Dies regt dazu an, die Gemälde von Paula Modersohn-Becker mit neugieriger Intensität zu betrachten und dabei die jeweiligen bio- und geografischen Stationen, insbesondere Worpswede und Paris, mit zu bedenken und (wieder) zu entdecken.

Titelbild

Marie Darrieussecq: Hiersein ist herrlich. Das Leben der Paula Modersohn-Becker.
Übersetzt aus dem Französischen von Frank Heibert und Patricia Klobusiczky.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019.
110 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783906910659

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