Vom Schreiben schreiben

Achim Geisenhanslüke führt vorzüglich in die Grundlagen der „Poetik“ ein

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ne Poetik-Vorlesung – na Mahlzeit“, sagte Sarah Kirsch in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen Von Haupt- und Nebendrachen 1996/97 und verkündete, „[n]ix über das Schreiben schreiben“ zu wollen. Die Dichter sind offenbar vielgefragte, aber nicht unbedingt auskunftsfreudige Zeugen, wenn es darum geht, die Entstehung und Wirkung literarischer Kunstwerke zu erklären. Vor ihnen stellten sich Philosophen und Universalgelehrte dieser Aufgabe. Der Frankfurter Germanist Achim Geisenhanslüke geht bis zu den antiken Anfängen der Poetik zurück. Sein Buch Poetik führt nicht nur auf grundlegende Weise in die Lehre von der Dichtkunst ein. Es ist auch ein Leitfaden, an dem sich das Nachdenken über Sprachkunstwerke vorbildlich interdisziplinär orientieren kann.

Geisenhanslüke betont programmatisch, dass die Poetik eine Theorie ist, die aus ihrem Gegenstand heraus gewonnen wird: Dichter schreiben über Dichtung, und vorzugsweise ist es ihre eigene, denn darin glauben sie sich am besten auszukennen. Das bedeutet wiederum, dass, wer über Dichtkunst redet, deren Regeln beherrschen muss. Das ist natürlich erst einmal der Autor, der sein Schreiben in Lehrgedicht und Essay, Poetikvorlesung und Werkstattgespräch, Traktat oder Bildungsroman des Geistes ergründet. Und es ist der Kritiker im ursprünglichen Sinne des Begriffs: als Regelexperte der Poetik und als Literaturinterpret. Poetik und Kritik sind zwei Seiten einer Medaille. Zugleich aber steht die Kunst des Hervorbringens von Kunst, die Geisenhanslüke umsichtig von Wirkungsästhetik und Mimesistheorie abgrenzt, am Anfang auf der Seite von Rhetorik und Grammatik, während die ästhetische Seite der Poetik erst in der sogenannten Sattelzeit um 1800 auf die Tagesordnung kommt.

Die Poetik, die Geisenhanslüke mit Peter Szondi als „Lehre von der poetischen Technik“ versteht, fragt nach zweierlei. Einmal nach der Substanz: Was ist eigentlich Literatur? Und dann nach ihrer Funktion: Wie und wodurch schreibt man? Im Durchgang durch die antiken und klassischen Grundlagentexte der Poetik gelingt Geisenhanslüke eine konzentrierte und hoch anregende Darstellung der Entwicklung dieser Fragen, die in den Bereich von Philosophie, Literatur und Rhetorik zielen. Aristoteles hat die Philosophie von der Dichtung entkoppelt und der Philosophie das Problem hinterlassen, dass sie ihren Vernunftanspruch nicht mit dem Pathos der Tragödie versöhnen kann, ohne mit der Rhetorik als einer „Selbsthilfeeinrichtung des Logos“ (Christof Rapp) die Dichtung zu rationalisieren.

Die Poetik von Horaz knüpft die Rhetorik wieder an die Poetik und erlaubt dem Kunstwerk eine zweite Mimesis: Nachgeahmt wird nicht nur die Natur bzw. die Wirklichkeit, nachgeahmt wird auch das Regelwerk vom guten und richtigen Dichten. Das hat eine ethische Komponente (ein guter Redner sollte tunlichst ein guter Mensch sein) und eine kontra-rationalistische (die Muse wird wieder ins Boot geholt).

Die klassische Poetik wird von Immanuel Kant und Friedrich Hölderlin bestimmt. Kant teilt in seiner Kritik der Urteilskraft die Schönen Künste neu ein, indem er die Rhetorik unter die Dichtkunst stellt: „Beredsamkeit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dichtkunst, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen.“ Insofern, kommentiert Geisenhanslüke, verspricht die Rhetorik viel und hält wenig, während die Literatur wenig verspricht und viel gibt, eben Nahrung aus der Phantasie für den Verstand. Kants Nachdenken über Sprachkunst will keine Poetik sein, sondern gehört zur „doppelten Ästhetik“ der Moderne (Carsten Zelle), die das Schöne noch einmal mit dem Sittlich-Guten versöhnen kann. Das geht bei Hölderlin, der die Extreme von Nüchternheit und Enthusiasmus, von Knochenarbeit am Text und Musenkuss ausreizt, nicht mehr; zum Beispiel in dem von Geisenhanslüke exemplarisch interpretierten Gedicht Hälfte des Lebens. Hier kommt die Lehre von der Dichtkunst ins Gedicht zurück und wird zum poetologischen Dichtungswerk, zur Poetik im Gedicht, oder, mit Sarah Kirschs Worten, zur „ergiebigen Kunst-Art Kunst-Kunst“.

Titelbild

Achim Geisenhanslüke: Poetik. Eine literaturtheoretische Einführung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2018.
207 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837645187

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