Die befreite Stadt

„RRWB – Räterepublik Westberlin“ ist eine tiefschwarze Abhandlung über das zweite Scheitern der Revolution und eine hübsche Graphic Novel dazu

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die Linke ist die Studentenrevolte 1968 ebenso gescheitert wie die Novemberrevolution 1918. Alle Hoffnungen auf ein befreites, ein freies Leben in einem System, das tatsächlich den Willen des „Volkes“ repräsentiert, waren vergebens. Stattdessen traten die Revolutionäre entweder den Marsch durch die Institutionen an oder passten sich an – von den wenigen abgesehen, die sich in der RAF oder anderen Untergrundorganisationen radikalisierten. Dass die Republik nach 1968 völlig anders wurde als zuvor, interessiert insofern nicht, als die Klassenherrschaft eben nicht gebrochen wurde, der Kapitalismus lediglich modernisiert und damit eigentlich nur radikalisiert worden war. Nicht offene Gesellschaften werden dabei saldiert, sondern neue Unterdrückungsverhältnisse, deren wundersamster Ausdruck der Vorwurf der permissiven Toleranz war, womit der Gesellschaft auch noch nachgetragen wurde, dass auf einmal allerhand als hinnehmbar gelten konnte, was vorher nicht denkbar war: ältere Leute duzen, lange Haare auch für Männer, legere Kleidung und ein bisschen exzessive Musik zum Beispiel.

Was wäre aber geschehen, wenn die berühmte Schlacht am Tegeler Weg – einer Straße, die in Charlottenburg quasi zwischen Schloss und Landgericht hindurchführt – seinerzeit nicht mit einer Niederlage, sondern mit dem Sieg der APO geendet wäre? Was wäre geschehen, wenn es den Revolutionären gelungen wäre, das Westberliner Establishment an die Wand zu drücken und den West-Alliierten den Appetit an diesem Teil der Stadt zu verleiden? Was wäre geschehen, wenn es gelungen wäre, die Räterepublik Westberlin zu gründen? Eine freie Gesellschaft, eingekesselt in ein realsozialistisches Umland und auf hartem Konfrontationskurs zum nur wenig entfernten Kapitalismus?

Rudi Dutschke hätte es nicht geholfen, er würde immer noch unter den Spätfolgen des Attentats leiden, das im April 1968 auf ihn verübt worden war. Er wäre aber trotzdem Vorsitzender des Zentralrats der Räterepublik, quasi ehrenhalber, denn ganz bei Sinnen ist er nicht. Aber aus einigen anderen Protagonisten der bundesdeutschen Geschichte wäre vielleicht doch etwas anderes geworden. Und so entspinnt sich eine tiefschwarze Abhandlung über das zweite Scheitern der Räterepublik, und eine hübsche Graphic Novel dazu. Aus Andreas Baader wäre vielleicht ein Funktionär der Räterepublik geworden, und aus Horst Mahler kein verirrter Neo-Nationalist, sondern die Zentralfigur der RRWB – der Räterepublik Westberlin?

Das sind hübsche Ideen und plausibel sind sie außerdem, die Autoren haben sich, was den Hintergrund der Story angeht, jede Mühe gegeben – und waren damit erfolgreich. Aber sie bleiben dabei nicht stehen, sondern sie tauchen tief ein in die Widersprüche und Probleme, die ein solches sozialistisches Experiment auf kleinstem Raum mit sich bringt. Vor allem dann, wenn es spontaneistische und organisatorische Ideen gleichermaßen realisieren soll. Denn ein Rätestaat auf dem Gebiet Westberlins hätte von vorneherein damit zu kämpfen, dass er wirtschaftlich kaum überlebensfähig wäre. Außerdem fehlt es an allen Basics einer modernen Gesellschaft, vor allem an Energie – was die Verantwortlichen zeitgemäß auf die grandiose Idee bringt, doch ein eigenes Kernkraftwerk zu bauen. Lediglich ein merkwürdig frisierter Krawattenträger namens Otto Schily warnt vor den Kosten und den Risiken – und wird als Kohlrabi-Apostel verlacht. Das sehen selbst christdemokratische Kanzlerinnen heute anders.

So hoch die Attraktivität der RRWB für die Outlaws ihres Umfelds auch sein mag, so wenig kann sie mit ihnen anfangen. Denn leider braucht es auch in der Räterepublik ein paar Basisregeln, an die sich alle halten müssen, und neben Brot und Bier auch genügend Marihuana. Aber das nur nebenbei. Das System der RRWB ist deutlich geprägt vom individualistischen Freiheitsgebot der APO, was es schwierig macht, alle auf ein Sollsystem zu verpflichten. Außerdem hat die Räterepublik nach kurzer Zeit deutlich an Mobilisierungspotential verloren. Die Vollversammlung ist nur schwach besucht, was den Zentralrat in eine umso stärkere Position bringt – was wenig hoffnungsvoll ist und zugleich wiederum plausibel.

Denn auch diese Republik wird untergehen, aber eben nicht an den wirtschaftlichen Nöten oder den gelangweilten Genossen, sondern an einer Sollbruchstelle seiner informellen Konstruktion, der Willkür der Funktionsträger. Dafür wandert einer der Genossen – Ralf Schindralski, stellvertretender Wirtschaftsrat und zuständig für das Requirieren von Kunstwerken im Privatbesitz bürgerlicher Mitläufer – ins Umerziehungslager, dessen Insassen nicht nur auf Linie gebracht werden, sondern auch noch am Kernkraftwerk bauen sollen. Und einiges mehr.

Das gewaltfreie System hat eben doch seine autoritären und gewalttätigen Seiten, mithin auch seine Leichen im Keller. Aber nicht das, sondern die Rache an den alten Genossen bewegt den schließlich schnell wieder auf Linie gebrachten Schindralski dazu, die RRWB in den Untergang zu treiben. Die Methode, derer er sich bedient, ist perfide, nur leider eben auch vielsagend, und schließlich mit Hilfe eines gewissen Kurras auch noch sehr erfolgreich.

Ein konterrevolutionäres Stück Zeichengeschichte also? Nur für den, der glaubt, dass ein sozialistisches System sich aus den Widersprüchen jeder Gesellschaft heraushalten kann. Was – nebenbei gesagt – derart naiv ist, dass die Bolschewisten so etwas nicht einmal versucht haben. Sie haben 1917 schnell gelernt, dass eine erfolgreiche Revolution vor allem machtpolitisch gesichert werden muss. Was auch nicht besser war als das, was in diesem Buch vorgeführt wird.

Man kann zwar dem Rätesystem zugutehalten, dass es nie die Chance hatte, einigermaßen belastbar erprobt zu werden. Aber seine Basiskonstruktion hat so deutlich erkennbare Defizite in Sachen Demokratie, dass auch seine Vertreter einräumen, dass es nur eine Zwischenstufe zum wahren Kommunismus und zur wahren Demokratie sein kann. Wie es aber mit Zwischenstufen so ist, sie lassen sich anscheinend einigermaßen gut einführen, aber nur schlecht wieder abschaffen, egal wohin sie haben führen sollen.

Unter dieser Perspektive sind – bei allen Mängeln und bei allen Fehlentscheidungen – die Erfolge der realen Studentenbewegung wie der Novemberrevolution doch nicht so geringzuschätzen. Gerade auch für Linke, die sich nicht zufriedengeben wollen.

Titelbild

Jörg Ulbert / Jörg Mailliet / Thomas Jaedicke: RRWB – Räterepublik Westberlin.
Berlin Story Verlag, Berlin 2019.
210 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783957231376

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