Der innere Tsunami

Stefan Zweigs „Verwirrung der Gefühle“ in einer neuen Edition

Von Matthias HennigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Hennig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Zweig schlägt keine kleinen Wellen; nur gewaltige, wie der Meergott Poseidon. Doch halt, das ist das ganz falsche Bild! Denn Zweig ist ein leidenschaftlicher Feuerkünstler und Sanguiniker. Einer, der den menschlichen Triebkräften und Elementargewalten auf den Grund geht. Ein Ekstatiker der Gefühle, der im Rausch des Blutes und der Sinne schwelgt. Ein psychologisch überaus versierter Schriftsteller, der den Tumult der Leidenschaften mit schriftstellerischem Zauberstab dirigiert. Alles „glüht“, „rauscht“ und „brennt“ bei ihm – die Figuren sind ergriffen im emotionalen Tremolo:

Meine Nerven brannten wie Drähte: ich fühlte sie zucken von elektrischer Spannung weit hinaus in die geladene Luft, wie viele kleine Flammen glühten sie mir unter der gespannten Haut. […] Das tiefste Wesen in mir war aufgereizt, ich spürte, wie viele Sinne, die sonst stumm und tot im dumpfen Hirn schliefen, sich auftaten wie kleine Nüstern, und mit jeder spürte ich Glut.

Zweig zeigt, wofür Menschen brennen können – sei es mit innerer Zerrissenheit, sei es mit allergrößter Abgeklärtheit und Kälte nach außen. Oft sind es Männer, die Frauen oder der Spielsucht verfallen; oder Frauen, die Männern verfallen. Menschen, die Amok laufen, Verderben sich selbst und anderen bringend. Zweigs Novellen zeigen die Figuren in genau den ekstatischen Ausnahmesituationen, in die sie ihre Leidenschaften bringen. Dort, wo der „lebendige Kern“ des Lebens unkontrollierbar wird und sich psychologischer Wesenskern und äußerliches Schicksal berühren. Ganz wie die Sternstunden der Menschheit die magischen Sekunden und Stunden der großen Weltgeschichte erzählen. Nur dass hier den ‚kleinen‘ und unbekannten Individuen das Schicksal kräftig an die Pforte klopft. Die 14 mehr als lesenswerten Novellen von 1913-1926 bilden, fein säuberlich chronologisch abgedruckt, Band 3/II der neuen, seit 2017 erscheinenden „Salzburger Ausgabe“ von Zweigs Werken, einer kommentierten Studienausgabe in sieben Bänden mit dem Titel Das erzählerische Werk.

Den meisten Geschichten liegt eine einzelne Begierde bzw. ein Affekt zugrunde: panische Angst oder extreme Beharrlichkeit, Spielsucht oder Gier, Geilheit oder Amour fou – sie alle reimen sich auf das Unmaß der Leidenschaft, welche die Figuren von innen zu sprengen droht. Lippen „zittern“ dramatisch, Finger „krampfen“, Lenden „beben“. Füße laufen gegen ihren Willen ins Verderben. Hände öffnen schicksalhafte Briefe – gegen das Veto der Vernunft. Worte richten schneidend wie ein Henkersbeil. Stimmen stammeln, Leiber „taumeln“ zu Boden – dahingestreckt vom Ach und Weh der Gefühle. Zweig zeichnet die Emotionen groß und plastisch, jedoch fast immer mit dem richtigen Gespür für die packende Wendung. Das hält seinen Stil (trotz mancher Altertümelei) lebendig bis heute – indem er direkt von den Sinnen und vom Körper aus erzählt. 

Der Erfolg eines Autors wie Haruki Murakami lässt sich – neben der phantastischen Spannung in seinen Geschichten – vielleicht auch damit erklären, dass in seinen Büchern stets appetitliche Gerichte gekocht werden. Nun, Zweig kocht uns nirgendwo etwas Herzhaftes zu essen. Er appelliert aber auf andere Weise an die Bauchintelligenz seiner Leser. Und diese Bauchintelligenz ist für die meisten wichtiger als die Hirnintelligenz. Was den Erfolg von ideenverliebten Autoren wie Jorge Luis Borges nicht schmälert, aber den weitgehenden Misserfolg vieler philosophischer Werke beim Publikum erklärt.

Feuer und Kristall – das sind die Embleme von Zweigs Novellen. Meistens sind es Paare, die ein von außen unwiderstehlich wirkender Magnetismus der Gefühle aufeinanderprallen lässt. Frédéric Beigbeder (Dernier inventaire avant liquidation, 2001) stellte zur Charakterisierung von Stefan Zweig Prosa die amüsante Formel auf: „Stefan Zweig = (Goethe + Freud) x Proust.“ Die Nähe zu Freud liegt bei Zweig nicht nur aus biographischen Gründen und wegen seiner psychologischen Erzählweise auf der Hand. Die ziselierte Detailversessenheit teilt er mit Marcel Proust; und mit Werther und Wahlverwandschaften den Magnetismus der Gefühle. Zweigs Stil ist üppig, barock, girlandesk – doch setzt er in seiner Üppigkeit kein Fett an. Sein Tempo ist ohne Behäbigkeit, hält vielmehr die Atemlosigkeit dramaturgischer Spannung: einer Triebkraft, die effektvoll den Höhepunkt anpeilt.

Wenn man einem Artikel von Michel Guerrin in Le Monde (31.8.2019) Glauben schenken will, so ist Stefan Zweig nach Shakespeare und Agatha Christie der meistverkaufte ausländische Autor in Frankreich (480 000 Exemplare allein in den letzten beiden Jahren!). Wobei Zweigs Wirkungsmacht nicht nur auf der Qualität seiner Prosa beruht, sondern auch auf seinem Status als Proeuropäer und Pazifist sowie seinen politischen Biographien. Das Publikum ist ihm auch in Deutschland treu; nur in akademischen Kreisen ist ihm mehr Wohlwollen zu wünschen! Die neue Edition kann dazu beitragen.

Titelbild

Stefan Zweig: Verwirrung der Gefühle. Die Erzählungen, Band II. 1913-1926.
Salzburger Ausgabe, Band 3. Herausgegeben und kommentiert von Elisabeth Erdem und Klemens Renolder.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019.
832 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783552058750

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