Memoiren eines Mannes von Welt

Mit den „Erinnerungen eines Europäers“ von Harry Graf Kessler in die Zeit des Kaiserreichs

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer zählebigen Legende nach betrachtete man Harry Graf Kessler (1868–1937) als einen unehelichen Sohn des Kaisers Wilhelm I. und mit der Niederschrift seiner Memoiren wollte er diesem Gerücht entgegentreten. Tatsächlich war seine Mutter Alice, deren Erinnerungen er in seine eigenen aufnimmt, eine der schönsten und kultiviertesten Frauen des europäischen Adels ihrer Zeit, dem Kaiser aber erst 1870 bei einem Kuraufenthalt in Bad Ems begegnet, was ein fortdauerndes freundschaftliches Verhältnis zu diesem begründete. Kessler schildert diesen als Mann von europäischem Format, in dem das goethische Zeitalter des aufgeklärten Humanismus noch fortlebte. In Kontrast dazu setzt er die Person Bismarcks, mit dessen Familie die Kesslers vier Jahre später bei einem weiteren Kuraufenthalt in Bad Kissingen in Kontakt kamen, woraus sich ebenfalls eine Bekanntschaft entwickelte. Ungemein präzise skizziert Kessler den sozialen Habitus dieser Familie als den von „Krautjunkern“. An der Person von Bismarck zeigt er in meisterhafter Weise wie das auf persönliche Vervollkommnung gerichtete Bildungsideal aus der Zeit vor der Jahrhunderthälfte nun zunehmend durch Pragmatismus und rücksichtsloses persönliches Machtstreben ersetzt wird.

Das schön gesetzte schmale Buch ist in einen hellen edlen Leineneinband gebunden mit dem Porträt des Autors auf dem Titel. Es entführt uns in die privilegierte Welt des aus englisch-irischem Adel stammenden Harry Graf Kessler. Ursprünglich war es als der erste Band einer dreibändigen Autobiografie konzipiert, die jedoch nicht vollendet wurde. Erschienen ist es erstmals 1935 unter dem Titel Gesichter und Zeiten, im darauffolgenden Jahr in französischer Sprache als Souvenirs d’un Européen und in der Neuausgabe als Erinnerungen eines Europäers.

In den zwei Teilen des Buches mit dem Titel „Mémé“ und „Lehrjahre“ schildert der Kosmopolit Kessler seine Kinderjahre unter der Obhut seiner innig geliebten Mutter in einem Pariser Palais in der Nähe der Champs d‘Elysées und seine anschließende Ausbildung in einer Pariser Schule, einem englischen Internat in Ascot, dem Hamburger Gymnasium Johanneum, die Militärzeit sowie die anschließenden Studien in Bonn und Leipzig.

Kesslers scharfsinnige Sicht auf soziale Verhältnisse und Mentalitäten zeigen auch seine Erinnerungen an seine Ausbildungszeit in drei Ländern: in Paris die Beschäftigung mit den klassischen Fabeln des Lafontaine unter der Maßgabe, die eigene Klarheit des Gedankens an diesen zu schulen, in England die Lektüre der lateinischen und griechischen Klassiker zur Formung des Geistes und körperliche Abhärtung zur Herausbildung der sprezzatura des Gentleman und in Deutschland im Gegensatz dazu Pauken und Bildungsphilistertum. Hierbei entgeht ihm andererseits auch nicht das Gefühl für die eigene privilegierte Situation und das soziale Elend der Arbeiterschaft: Diese schildert er mit großer Eindringlichkeit anhand einer berührend zarten Liebesgeschichte mit einem einfachen Mädchen.

Sein großes Bildungs- und Erweckungserlebnis als Heranwachsender werden die Schriften des Philosophen Friedrich Nietzsche, mit dessen Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, in Kesslers Worten einer „einfachen Pfarrerstochter“, er sich befreundete. Hieraus resultiert ein Besuch in Naumburg, bei dem er jedoch vom nächtlichen Brüllen des Kranken geweckt wird.

An seine Potsdamer Militärzeit schließt sich ein Jura-Studium mit anschließender Promotion in Bonn an, wo er mit dem Milieu der korporierten Studenten bzw. schlagenden Verbindungen in Kontakt kommt. Seine Studien setzt er in Leipzig fort. Dort hört er vor allem Vorlesungen des Experimentalpsychologen Wilhelm Wundt und des Kunsthistorikers Anton Springer, dessen Anliegen es war, die Kunstgeschichte mit der Genauigkeit einer Naturwissenschaft zu betreiben.

Hiermit endet ein facettenreiches, umfassendes und fesselndes Porträt der europäischen Kultur und des deutschen Kaiserreichs sowie der Protagonisten der Wissenschaftskultur des späten Historismus, die diese Epoche zu einer unvergleichlichen Blüte geführt haben. Es ist nur zu erahnen, welch reiche Einsichten die folgenden Bände beschert hätten.

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Harry Graf Kessler: Erinnerungen eines Europäers.
Steidl Verlag, Göttingen 2019.
254 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783958296480

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