Unzeitgemäße Betrachtungen eines ungeschmeidigen Christen

Léon Bloy bekennt sich in „Diesseits von Gut und Böse“ leidenschaftlich zu Gott

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Skeptisch beobachten manche heute die fortschreitende Marginalisierung der Kirche. Der abtrünnige Sozialist Léon Bloy, der sich glühend zur katholischen Kirche bekehrte und über deren gottvergessene Biederkeit empörte, würde inzwischen von einer saturiert bürgerlichen, lauen Christenheit entweder milde belächelt oder als fanatischer Reaktionär beäugt. Einem staatstragenden Verband wie dem „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ gehörte er heute bestimmt nicht an. Bloy äußerte sich so beherzt wie undiplomatisch. Er, der selbst mit pekuniärer Not zu kämpfen hatte, würde auch nach den Armen fragen und nicht mit den säkular Mächtigen paktieren. In den nebulös sentenziösen, religiös imprägnierten Floskeln der Gegenwart sähe er – 1846 geboren, 1868 neu für den Katholizismus entflammt, 1917 verstorben – auch nichts als eine verstörende Entfremdung von Gott. Aus dem Repertoire seiner Gedanken, die in dem Band Diesseits von Gut und Böse vom Herausgeber Alexander Pschera klug kommentiert und thematisch geordnet in Auszügen publiziert werden, zitieren heute vornehmlich traditionalistisch gesinnte Christen und der so oft als liberal verkannte Papst Franziskus, der Bloys bekanntes Wort „Wer nicht zu Christus betet, bekennt sich zur Weltlichkeit des Teufels“ in einer Predigt zustimmend zitierte. Dieser französische Schriftsteller bewegte sich literarisch, theologisch und philosophisch leidend und souverän jenseits der Ordnungsmuster des modernen Denkens.

Léon Bloy, der zweimal vergeblich versuchte, sich in ein Kloster zurückzuziehen, war auch ein Chronist seiner Traurigkeit. Er stilisierte sich nicht als düsteren Melancholiker. Sein Schreiben ist frei von sentimentaler Emphase und gekünstelter Schwermut. Aber er litt sehr an der „schwärzesten Traurigkeit“, ja fühlte eine „Agonie an Traurigkeit“. Die Seelenfinsternis begleitete ihn. Der holländische Schriftsteller Pierre van der Meer, der sich auch durch Bloys Unterstützung zum Katholizismus bekehrte, schrieb über dessen Vortragskunst: „Er kannte die französische Sprache wie ein Instrument, wie kein anderer; Worte, die man schon hundert Mal gelesen hatte und die keinerlei Relief mehr besaßen, platzten plötzlich wie Bomben oder öffneten sich wie sehr sanfte Blumen.“ Indessen, der Denker Bloy, in all seiner Leidenschaft für Gott, war ein einsamer Solist, zeitweilig mit einer Prostituierten liiert, die erst konvertierte, später der geistigen Umnachtung anheimfiel: „Meine Lebensgefährtin hat wegen ihrer Vergangenheit, die ich vollkommen vergessen will, keinerlei Vorwurf zu erwarten.“ Später heiratete er, wurde zum Familienmenschen, der seine Gattin Jeanne und seine Kinder hingebungsvoll liebte.

Doch auch in Jeannes Nähe blieb er dem Kummer verhaftet: „Unter einem wilden Regen kehre ich nach Hause zurück, das Herz noch müder. […] Auf dem Nachhauseweg fällt wieder der Dämon der Traurigkeit über mich her und erschöpft mich derart, dass ich zu Hause wie ein Verzweifelter ankomme. Das, was nichts anderes als Leiden ist, nimmt meine Jeanne, die für mich in meiner Abwesenheit viel gebetet hat, für eine schlechte Laune, und so sind wir den ganzen Abend sehr unglücklich.“ Sie liebte ihn sehr, aber sie verstand ihn nicht, nicht immer oder nicht ganz. Jeanne trank Café au lait, er „zu viel Absinth“ und „zu viel Wein“.  

Einem Priester schrieb Bloy 1870: „Wenn man sich auf die Reise macht und kein Idiot oder Schwächling ist, dann muss man bis zum Ende gehen, was auch immer geschehen mag, oder man darf den Mantel des Reisenden nie wieder anlegen. Mutige Herzen halten niemals auf halber Strecke an. […] Außerhalb des Absoluten gibt es keine Wahrheit.“ Zum Nationalisten tauge er nicht: „Mein Vaterland ist zuallererst die römische Kirche“. Die „Schönheit Gottes“ enthülle sich nur „sehr reinen Augen“. Léon Bloy spürte in sich immer wieder die „Gegenwart eines dunklen Schmerzens-Sees“. An der Moderne zweifelte er, an den modernen Menschen drohte er zu verzweifeln. Diese seien alle „Sklaven des Teufels“. Er staunte über die Tüchtigen, Fleißigen und Betriebsamen, die über alles Tiefgründige lächeln: „Geistreiche Menschen bringen Gott ihren Geist dar, Dummköpfe ihre Dummheit. […] Die Ungläubigen glauben sich heldenhaft, wenn sie einem Allmächtigen widerstehen.“  

Bloy beobachtete den seuchenhaft grassierenden Konformismus. Die Geschmeidigen herrschen. Sie wissen genau, was sie tun. Ihre Taktik sei effektiv, von militärischer Art. Die Anpassung wirke. Die Konformisten sind für ihn die modernen Tausendkünstler des Erfolgs, im Staat, in der Kirche: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der religiöse oder politische Liberalismus das Dunkelste ist, was man sich unter dem Prinzip des Gehorsams vorstellen kann, das heißt auch unter dem Prinzip des Glaubens. Pius IX. sagte einmal, dass die liberalen Katholiken gefährlicher seien als die Kommunarden. Der Ausspruch ist fürchterlich, und ich glaube, er stimmt.“ Errichtet wurde in Paris, so Bloy, ein „babylonischer Turm aus Stahl“, der Eiffelturm, ein titanisches Monument der Leere. Am Ende seines Lebens notierte er: „Wir befinden uns im Herbst der Welt. Die Blüte der Seelen ist unterbrochen, und der Winter naht mit all seinen Schrecken.“ Bei allem Halt, bei aller Dankbarkeit auch für die Kirche und den Glauben bewegte sich der Denker ständig über brüchiges Eis, angefochten, in sich erschüttert, mit den Gottesmännern hadernd und über deren blasierten Biedersinn sich erregend. Der geistlichen Musik der Kirche war er von Herzen zugetan, aber nur den schwebenden gregorianischen Chorälen. Bachs h-Moll-Messe ertrug er kaum. Beim Credo erwartete er ein „universelles Auf-die-Knie-Fallen, einen Abgrund von Stille, von dessen Grund sich eine fast unhörbare Stimme erhebt, die unendlich demütig sein müsste“. Doch, so Bloy traurig und fassungslos: „Stattdessen Violinstürme und was weiß ich noch für andere wild gewordene Instrumente.“ Die Kirche selbst predige Armut, aber nur gleichnishaft, und so viele Geistliche blieben stumpf, reich und satt. Die Bibel berge eine „Kritik an bestehenden Machtverhältnissen und am Götzendienst“: „Im Herzen des Katholischen brennt das Feuer des Umbruchs. Die Botschaft Christi ist eine anarchische, oder sie wird nicht gelebt.“

Die moderne Theologie verabscheute er, hielt sie für bürgerlich und belanglos, eine Art Apologie der säkularisierten Gesellschaft, die noch christlich dekoriert zu sein scheint. Ähnlich scharfsinnig wie der verzweifelt gottlose Friedrich Nietzsche, doch anders als dieser ein gläubiger Katholik, der eisern und entschlossen der Kirche treu bleibt, spricht er zwar nicht vom Tod, aber von der „Abwesenheit Gottes“, auch wenn ständig noch Bekenntnisse zu vernehmen seien. Doch das sind für Bloy weltliche Beschwörungsformeln: „Gott ist abwesend in den Gesetzen, den Wissenschaften, den Künsten, der Politik, der Erziehung und den Sitten. Er ist sogar abwesend im religiösen Leben, und zwar in dem Sinn, dass diejenigen, die immer noch seine engsten Freunde sein wollen, seine Gegenwart nicht benötigen.“ Wer Bloys Überlegungen von 1900 liest, fühlt sich an die Gegenwart erinnert, in der die christlichen Kirchen zu wohltätigen Organisationen geworden sind und dem Götzen des Dialoges huldigen. Jeden scheinen die Kirchen integrieren zu können, nur nicht den einfach gläubigen Bettler vor Gott, der nur beten möchte, aber für Irritation sorgt, bei Funktionären und Priestern, deren „Mangel an Glauben“ überall sichtbar werde. Wer noch auf Gott vertraue, so Bloy, der wecke „Wut bei den falschen Christen“.

Resonanz in der gegenwärtigen Theologie und Religionsphilosophie finden Léon Bloys widerborstige, unzeitgemäße Betrachtungen nicht. Wortgewaltig äußerte er sich, nahezu prophetisch, zugleich erzürnt und tieftraurig. Rührend sind die Passagen, in denen er Jeannes Zärtlichkeit andeutet, dankbar für ihre liebevolle Zuneigung zu den Kindern und zu ihm. Sie schenkte ihm Halt. Bloy war ein Opponent, der sich von Gott berührt wusste, enttäuscht von der Kirche, die die Botschaft verraten zu haben schien, die zu verkündigen sie bestellt war. Aus ihm sprach die unbändige Leidenschaft des Bekehrten, aber auch die ungeheure literarische Kraft eines frommen Künstlers. Die Lektüre der anregenden Erwägungen Léon Bloys könnte auch heute Gläubige und Ungläubige in gleicher Weise bereichern und beleben.

Titelbild

Leon Bloy: Diesseits von Gut und Böse. Tagebücher, Briefe, Prosa.
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Alexander Pschera.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
1260 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576927

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