Und wozu Dichterjubiläen in dürftiger Zeit – zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins

Vorbemerkungen zum Schwerpunkt

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer und der Übung LehrredaktionRSS-Newsfeed neuer Artikel von  der Übung Lehrredaktion

Klassikerjubiläen bieten immer wieder Anlass, in museal-huldvoller Weise großer Namen zu gedenken – vor allem aber, sich erstmals oder erneut mit den Werken von konsensual als bedeutend erachteten Autor*innen zu beschäftigen. Unter den Klassikern der deutschen Literatur gilt Friedrich Hölderlin, der am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren wurde, als einer der größten, aber auch einer der „schwierigsten“. Die verspätete, dann aber mit umso größerer Wucht einsetzende emphatische Rezeption errichtete zusätzliche Hürden. Nicht allein die politische Instrumentalisierung, die in Hölderlin gleichermaßen einen Revolutionär und deutschen Jakobiner wie einen Vordenker vaterländischer Blut-und-Boden-Gesinnungen sah, dessen Hymnen in Feldausgaben für die erbauliche Lektüre im Schützengraben gesammelt wurden, macht die Annäherung an diesen wortgewaltigen Dichter so kompliziert. Die Texte selbst sind außerordentlich voraussetzungsreich, bereits durch die zahlreichen Bezüge zur griechischen Mythologie oder zur zeitgenössischen idealistischen Philosophie, aber auch durch den überbordenden Bilderreichtum, die antikisierenden Versmaße oder den keineswegs „heilignüchternen“ Sprachduktus.

Hinzu kommt, dass bei wenig anderen Autoren so umstritten ist, was überhaupt „die Texte“ sind und wie sie adäquat zu veröffentlichen seien. Selten wurden editorische Debatten mit einer solch verbissenen Leidenschaft geführt wie im Falle Hölderlins, sodass sich jeder zitierende Bezug der Gefahr ausgesetzt sieht, mit semantisch signifikant abweichenden Lesarten konfrontiert zu werden und eine Heerschar von Philologen in empörte Aufregung zu versetzen (wobei ein interessiertes breiteres Lesepublikum kaum je nennenswerte Begeisterung für Fragen nach unterschiedlichen Textschichten und deren Genese aufbringt). Damit nicht genug: Anlässlich keines anderen literarischen Klassikers wurde von Gelehrten unterschiedlicher Fachrichtungen so nachdrücklich (und ideologisch aufgeladen) der Geistes- und Gesundheitszustand diskutiert, infrage gestellt und zu rehabilitieren versucht wie bei Hölderlin – was die Frage aufwirft, ob und wie sich das in den Dichtungen niederschlägt und diesen womöglich, als seien sie nicht bereits hinreichend interpretationsoffen und -bedürftig, weitere Bedeutungsmöglichkeiten erschließt.

So unklar wie die Frage um Gesundheit und Krankheit, so dunkel wie viele seiner Texte (zumal sein lyrisches Spätwerk), so rätselhaft ist seine Biografie. Die exzentrischen Bahnen, die Hölderlins Leben beschritt, umfassen einige schillernde Etappen, die der Legendenbildung günstig waren: die mit den beiden idealistischen Systemerbauern Georg Wilhelm Friedrich Hegel (dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr auch noch ansteht) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling im Tübinger Stift verbrachten Lehrjahre, der bescheidende Erfolg des Dichterberufs, die Tätigkeit als Hauslehrer und die daraus resultierende Liebe zur Bankiersgattin Susette Gontard (die als Diotima unsterblich wurde), die mysteriöse Reise nach Frankreich, die umstrittene „Umnachtung“, derentwegen er die Hälfte seines Lebens im geradezu mythisierten Turm verbrachte und seine späten Gedichte und Entwürfe mit dem Namen Scardanelli signierte.

Dieser Schwerpunkt versammelt Rezensionen zu einigen der zahlreichen (populären ebenso wie wissenschaftlichen) Neuerscheinungen zum Hölderlin-Jahr sowie Essays zu zentralen Facetten von Leben, Werk und Nachruhm des Dichterphilosophen: Hochkarätige Beiträger beleuchten Hölderlins Sympathien für die Französische Revolution, seine Konzepte des Erinnerns, sein Bild der Deutschen, seinen spezifischen Beitrag zur Moderne, exemplarische Probleme der Textedition und Rezeptionsphänomene. All diese Beiträge können als Wegmarken durch die verschlungenen Pfade von Hölderlins zu unterschiedlichsten Deutungen einladendem Œuvre dienen, dessen Faszinationskraft ungebrochen ist.

Jubiläen und Gedenkjahre sind ebenso ritualisierte wie ephemere Konstrukte und Ereignisse der Kulturgedenkroutine. Oft genug überlagert die Eventisierung das Anregungspotenzial, das vom je gefeierten „Klassiker“ ausgehen könnte. Kein Grund indes, vom ehrenden Erinnern abzusehen. Der oft bemühte Schlussvers aus Hölderlins Hymne Andenken lautet „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Damit das von den Dichtern Gestiftete aber bleibt, ist wiederholtes „Andenken“ nötig. Gerade in dürftigen Zeiten. Und sei es nur anlässlich eines Dichterjubiläums.

 

Hinweis: Der Schwerpunkt zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins wurde von den Studierenden der Übung „Lehrredaktion“ im Wintersemester 2019/20 unter der Leitung von PD Dr. Manuel Bauer an der Philipps-Universität Marburg initiiert und erarbeitet. In der praxisorientierten Übung, die Bestandteil des Master-Studiengangs „Literaturvermittlung in den Medien“ ist, erhielten die Studierenden Einblicke in den Literaturbetrieb, speziell in die Arbeitsabläufe der Redaktion von literaturkritik.de. Der Schwerpunkt verdankt sich dem großen Engagement von Swantje Bassin, Larissa Gück, Hanneliese Lenk, Anna-Lisa Meil und Fabian Ruhrländer. Sie haben unterschiedliche kulturjournalistische Texte eingeworben (zum Teil auch selbst geschrieben), in Redaktionssitzungen gemeinsam diskutiert, redigiert und zu diesem Schwerpunkt zusammengestellt.